Kein Kindergeld, keine Krankenversicherung: Berliner Eltern warten wochenlang auf die Geburtsurkunde
Ohne Lebensnachweis können Eltern ihr Kind nicht versichern, es gibt kein Elterngeld. Den Standesämtern fehlt Personal – die Coronakrise verschärft das Problem.
Hätten Marcel Schäfer und seine Partnerin gewusst, was kommt, vielleicht hätten sie sich ein Krankenhaus in einem anderen Bezirk ausgesucht. So aber fahren die beiden am 8. Mai von Mitte nach Spandau ins Krankenhaus Havelhöhe.
Ein paar Stunden später ist ihr Sohn auf der Welt – gesund, die junge Familie ist glücklich. Zwei Monate später ist Marcel Schäfers Sohn schon kräftig gewachsen, nur juristisch existiert er auch nach mehr als neun Wochen nicht – die Geburtsurkunde fehlt.
„Mir war schon bewusst, dass die Berliner Verwaltung etwas zäh sein kann“, sagt Schäfer am Telefon, klingt dabei aber nicht belustigt. Direkt am Tag nach der Geburt hat er persönlich alle Unterlagen im Spandauer Standesamt eingeworfen.
Ein paar Tage später meldet sich das Amt und bemängelt, dass für den Antrag Kopien statt Originale eingegangen seien. Schäfer und seine Frau hatten nur Kopien ihrer eigenen Geburtsurkunden eingereicht, die Originale liegen in ihrer alten Heimat Landau in der Pfalz.
Eine sichere Übermittlung dauert – erst am 27. Mai liegen alle Unterlagen als beglaubigte Kopie vor. Für Schäfer und seine Familie ärgerlich. „Von der Geburtsurkunde hängt ja schon vieles ab.“
Niemand hebt ab, es kommt eine automatisierte Antwort per Mail
Tatsächlich kann er seinen Sohn ohne amtlichen Lebensnachweis nicht krankenversichern. Die Vorsorgeuntersuchung U3 hat Schäfer bereits aus eigener Tasche zahlen müssen, würde sein Sohn ernsthaft krank werden, könnten schnell größere Rechnungen drohen.
Wie schnell er das Geld später zurückbekomme sei unklar, sagt Schäfer, der selbst für eine Versicherung arbeitet. Auch Kindergeld können er und seine Partnerin nicht beantragen, ob er den Corona-Zuschuss für Eltern bekommt, ist unklar.
Einen Monat lang hört Schäfer nichts vom Spandauer Standesamt, inzwischen sind sechs Wochen seit der Geburt vergangen. Telefonisch ist das Standesamt nur drei Stunden die Woche erreichbar – theoretisch.
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„Ich habe es bestimmt zehn Mal versucht, aber nie jemanden erreicht“, sagt Schäfer. Am 28. Juni schreibt er eine Mail und erkundigt sich nach dem Status. Am Tag darauf erhält er eine Antwort: „Aufgrund der Folgen der Corona-Pandemie beträgt die Beurkundungsdauer ab Eingang aller zur Beurkundung notwendigen Dokumente momentan 7-8 Wochen.“
Und weiter: „Aufgrund der Vielzahl der derzeit anhängigen Beurkundungen und um einen reibungslosen Ablauf zu ermöglichen, bitten wir Sie von Rückfragen abzusehen, da dies die Bearbeitungszeit verzögert.“
Das Problem beschäftigt Berlin seit Jahren
Marcel Schäfer verärgert die nicht personalisierte Standardantwort. „Dieser Umgang ist für mich nicht in Ordnung“, sagt er. Er habe keine Möglichkeit, den Stand der Dinge zu erfahren. „Man fühlt sich alleingelassen.“
Eine Bekannte, die am selben Tag in der Havelhöhe entbunden hat, habe ebenfalls noch keine Geburtsurkunde. „Wir sind kein Einzelfall.“ Das bestätigt Spandaus Stadtrat Stephan Machulik auf Anfrage: „Bis April konnten wir tagesaktuell bearbeiten, aber mit Corona haben sich die Wartezeiten erheblich verlängert“, sagt der SPD-Politiker.
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Momentan müsse man auf Geburtsurkunden rund sechs Wochen warten, das Ausstellen von Sterbeurkunden benötige etwa zwei Wochen. Diese Angabe gelte ab dem Einreichen der originalen Unterlagen – im Fall von Marcel Schäfer also der 27. Mai.
Man „werfe alles rein“, um den Rückstau abzuarbeiten. „Eine Normalisierung ist aber wohl erst nach den Sommerferien zu erwarten“, sagt Machulik. Er verweist auf personelle Engpässe: 70 Prozent der Mitarbeiter im Standesamt seien aktuell einsetzbar, die mit Vorerkrankungen müssen vorsichtshalber weiterhin zu Hause bleiben. Zudem sei Urlaubszeit, es gebe einen hohen Krankenstand und zwei Stellen sind weiter unbesetzt.
„Standesbeamte sind Feenstaub“, sagt Machulik und spricht ein Problem an, dass die Bezirke seit Jahren beschäftigt. Jeder, der sich zum Standesbeamten ausbilden lassen möchte, muss dafür an einer Fortbildung des Bundesverbands der deutschen Standesbeamten (BDS) teilnehmen.
In Treptow-Köpenick wartet man nur ein paar Tage
Diese wird jedoch nur in Bad Salzschlirf, einem hessischen Dorf mit 3000 Einwohnern, angeboten. Der Flaschenhals – und in Corona-Zeiten sind die Kapazitäten dort noch mal geringer. Seit Jahren versuchen Bezirke und Innenverwaltung eine Lösung zu finden, um eigene Lehrgänge anzubieten. Ohne Erfolg. „Es macht überhaupt keinen Sinn, dass wir unsere Standesbeamten von Berlin nach Bad Salzschlirf schicken“, sagt Machulik und muss es doch weiterhin tun.
Für Marcel Schäfer und seine Familie ein schwacher Trost. „Allmählich sollte die Behörde aufhören, sich hinter der Ausrede Corona zu verstecken“, sagt er eine Woche nach dem ersten Telefonat. Er und seine Partnerin warten weiter auf die Urkunde.
In Mitte, wo das Paar wohnt, hätten sie vermutlich bereits ihre Urkunde. Drei Wochen dauere dort die Ausstellung, sagt ein Mitarbeiter auf Anfrage. Auf die Sterbeurkunde dagegen wartet man vier Wochen. Am anderen Ende der Stadt, in Treptow-Köpenick, geht es dagegen deutlich schneller für beides – zwei Tage.