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Die Berliner Studentin Carolin Matthie wirbt offensiv für Schreckschusswaffen. Eingesetzt hat sie noch keine.
© Kai-Uwe Heinrich

Ansturm auf Schreckschusswaffen: Berlin rüstet auf

Die Nachfrage nach dem kleinen Waffenschein ist explodiert. Aber eignen sich Schreckschusspistolen wirklich zur Selbstverteidigung? Ein Besuch bei Menschen, die es wissen.

Erstens. Im Flur warten mehr Menschen, als es Stühle gibt. An der Wand ein Zettel: Wegen der Vielzahl an Anträgen sei derzeit mit längeren Bearbeitungszeiten zu rechnen, aktuell kämen erst mal die dran, die einen Eingangsstempel vom 22. September 2016 haben. Mittwochnachmittag am Platz der Luftbrücke, Polizeipräsidium, dritter Stock. Die Sachbearbeiterin in Zimmer 3503 hat ein großes Foto von Knut neben dem Schreibtisch, eines, auf dem der Eisbär noch ganz jung ist und kaum stehen kann.

„Ich komme wegen des Kleinen Waffenscheins. Ist das kompliziert?“

„Nee, ganz einfach.“

Das Prozedere müssen die Mitarbeiter der Waffenbehörde derzeit jeden Tag dutzendfach erklären. Die Nachfrage nach dem sogenannten Kleinen Waffenschein ist 2016 explodiert: 4413 Anträge wurden genehmigt, das entspricht einem Plus von 440 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Den Schein braucht, wer eine Schreckschusspistole tragen möchte. Wer keinen besitzt, darf sie nur zu Hause lagern. Benutzt werden darf sie ohnehin ausschließlich zur Selbstverteidigung, also in Notwehr, oder zur Übung am Schießstand.

Polizisten, Branchenexperten und Waffenhändler sagen, der Ansturm auf die Schreckschusswaffen habe nach den Übergriffen von Köln eingesetzt. Er liege begründet in einem diffusen Gefühl von Unsicherheit. Angeheizt werde er durch Terrordrohungen einer- und populistische Stimmungsmache andererseits.

In Berlin kostet der Schein 50 Euro. Man muss lediglich einen einseitigen Bogen ausfüllen, seine Adresse eintragen, offenlegen, ob man in den letzten fünf Jahren rechtskräftig verurteilt wurde, angeben, ob Drogen- oder Alkoholsucht besteht und welche körperlichen Gebrechen man hat. Im Vordruck aufgeführt: Anfallsleiden, Hirnverletzungen, Nachtblindheit, Einäugigkeit ...

Frage an die Sachbearbeiterin: „Wenn man so eine Pistole noch nie gehalten hat - wo kann man das lernen, für den Ernstfall?“

„Och, das ist nicht weiter schwierig“, sagt die Frau, das könne eigentlich jeder. „Vielleicht zeigt Ihnen ja der Verkäufer, wie das funktioniert.“

Weil Schreckschusswaffen keine Kugeln verschießen, sondern wahlweise Gas oder Pulver, gelten sie als „nicht scharf“. Deshalb wird vom Träger kein Sachkundenachweis gefordert. Auf dem Infoflyer, den die Frau von der Waffenbehörde mitgibt, stehen dennoch ein paar Warnhinweise. Die Waffe sei zu Hause sicher aufzubewahren und auf der Straße unbedingt verdeckt zu tragen. Zu Sportveranstaltungen, Kunstausstellungen und Volksfesten dürfe man sie gar nicht mitnehmen. Oder zu Demonstrationen. Oder zu Mittelaltermärkten. Überhaupt: zu öffentlichen Veranstaltungen.

Nachfrage an die Sachbearbeiterin: „Und auf die Kölner Domplatte, zu Silvester?“

„Auf keinen Fall.“

Zweitens. Ein bekanntes Waffengeschäft in Mitte. In den Vitrinen liegen jede Menge Gewehre und Pistolen, Gehörschutz, Halfter zum Umhängen. Es gibt auch Armbrüste, Tarnkleidung und dreibeinige Zielhilfen, die wie Kamerastative aussehen. Gerade hält ein Kunde eine Waffe in der Hand, die verdammt nach Maschinenpistole aussieht. Ist im Grunde auch eine, sagt er, aber eben ein Nachbau für Sportschützen. Das Original, die MP5 von Heckler & Koch, wird von der französischen Fremdenlegion und den Navy-Seals benutzt. Diese hier verschieße zwar Stahlkugeln, aber bloß mit Druckluft. „Siehste, steht ja extra: MP5 K-PDW.“ Erfreulich sei, dass die Waffe echte Rückstöße simuliere. Habe zwar keinen Nutzen, mache aber Spaß. Blowback-Variante nennt man das.

Der Verkäufer hat aktuell nicht viele Schreckschusspistolen zur Auswahl. Er legt einen kleinen Koffer auf die Glasvitrine und öffnet ihn. „Ruhig mal anfassen!“ Der Griff ist aus Kunststoff, der Lauf aus Metall. Kalter Klumpen in der Hand, halbes Kilo, pechschwarz. Die Walther P99 sei das meistverkaufte Modell überhaupt. 169 Euro, Magazin für 15 Schuss.

„Ist das schwer, die Waffe im Ernstfall zu benutzen, so ganz ohne Erfahrung?“

„Was sollte daran schwer sein? Man drückt ab, und dann macht es Krach.“

Die Schreckschuss-P99 sei ein Nachbau der Pistole, mit der in vielen Bundesländern Polizisten auf Streife gehen. „Schon deshalb darf sie nicht zu kompliziert sein. Ich sag mal, die ist narrensicher.“ Und praktischerweise verfüge die Pistole auch über keine Sicherung. „Würde nur stören.“

Problematischer sei es mit der Munition. Es gibt unterschiedliche, man erkennt sie an den Farben der Plastikkappen. Grün bedeutet Knallpatrone, enthält nur Nitrocellulose, bekannt als NC-Pulver, das schrecke Angreifer durch Lärm ab. Gelb steht für Reizgas, also CS-Gas. „Bringt Leute zum Weinen, hilft aber nicht gegen Besoffkis.“ Dann gibt es die goldenen Patronen, sogenannte Flashs. Bei denen zuckt ein greller Feuerblitz aus der Mündung, das schinde Eindruck, zumindest bei Dunkelheit. Die wirkungsvollsten Patronen aber seien die roten. Die enthalten Pfefferspray. Offiziell seien sie in Deutschland nur zur „Tierabwehr“ zugelassen. „Aber die wirken auch gegen Drogenabhängige.“

So weit die Theorie. Im Moment dürfe man jedoch nicht wählerisch sein, schließt der Verkäufer. Wegen der hohen Nachfrage sei es schwer, überhaupt Munition zu beziehen. Da müsse man sich auch mal mit Platzpatronen zufriedengeben.

Warum Schreckschusspistolen töten können

Marc Schieferdecker hat die „German Rifle Association“ gegründet.
Marc Schieferdecker hat die „German Rifle Association“ gegründet.
© privat

Drittens. Zum akuten Engpass beigetragen hat auch die Informatikstudentin Carolin Matthie. Die 24-Jährige wohnt in Adlershof und fühlt sich abends auf der Straße unsicher, vor allem seit Köln. Wären jetzt Wahlen, sagt sie, würde sie ihr Kreuz bei der AfD machen. Carolin Matthie hat sich eine Schreckschusspistole gekauft und schwärmt davon in Youtube-Videos, Suchbegriff „Guns n Girls, Tipps zur Selbstverteidigung“. Sie hat sich für den Marktführer entschieden, die Walther P99. Die Waffe trägt sie in einem Halfter am Gürtel. Zu Hause in Adlershof stellt sie sich regelmäßig vor den Spiegel und übt, die Waffe zu ziehen und durchzuladen. „Damit ich im Ernstfall nicht lange rumfummeln muss. Damit es eine flüssige Bewegung wird.“ Den Ernstfall gab es noch nicht. Einmal, sagt sie, sei ihr eine Gruppe Männer hinterhergelaufen. Die hätten Dinge gesagt, die sie akustisch nicht verstanden habe, aber es klang bedrohlich. Wären die Typen noch näher gekommen, sagt Matthie, hätte sie die P99 gezogen.

Mütter fragen: Ist das mit Kindern nicht zu gefährlich?

Seit sie ihre Videos ins Netz stellt, melden sich oft Frauen bei ihr, die sagen: Das will ich auch. Ältere, die sich nachts nicht mehr ohne Mann oder Hund auf die Straße trauen. Mütter, die gerne eine Schreckschusspistole hätten, aber sich Sorgen wegen der Kinder machen - ob das nicht zu gefährlich sei? Zum Glück gibt es Holster, die in die Hose gesteckt werden, antwortet Matthie dann. Ist zwar unbequem, aber da komme kein Kind dran. In den USA seien die Holster sehr populär.

Man könne, sagt Carolin Matthie, doch nicht den Tätern das Feld überlassen.

Viertens. Im Vergleich zu scharfen Waffen gelten Schreckschusspistolen als harmlos. Man muss keinen Kurs besuchen, um den Kleinen Waffenschein zu bekommen. Ohne Kugel könne man ja nicht töten, heißt es oft. Falsch, sagt Martin Gneißl.

Der 35-Jährige arbeitet beim Berliner Landeskriminalamt am Tempelhofer Damm im „Kompetenzzentrum Kriminaltechnik“, Abteilung Waffentechnik. Die Fenster seines Büros gehen zum Innenhof raus, im Trakt werden schließlich Waffen gelagert, viele Waffen. Sie befinden sich in herausziehbaren, mannshohen Wandschränken. In der Sammlung gibt es Kriegswaffen aus dem Zweiten Weltkrieg, Jagdgewehre, schießende Kugelschreiber. Martin Gneißl braucht die unterschiedlichen Typen für seine Gutachten. Er testet Waffen, untersucht Munition, berechnet Einschusskanäle, misst Geschossgeschwindigkeiten. Gneißl wird um Rat gefragt, wenn etwa ein Angeklagter behauptet, er habe nicht auf sein Opfer geschossen, der Schuss habe sich von selbst gelöst. Der Experte untersucht dann die Waffe und prüft: Kann das sein?

Bei Schreckschusspistolen, sagt Gneißl, handele es sich um eine der „unterschätztesten Waffengattungen überhaupt“. Nicht nur, dass sie einen Menschen erblinden lassen können, sie seien auch „potenziell letal“, also tödlich. Besonders, wenn sie jemandem direkt an den Kopf gehalten werden. Die Luft, die beim Schuss durch den Lauf gepresst wird, tritt mit 3000 Stundenkilometern aus der Mündung, sie ist etwa 1500 Grad heiß.

Was welcher Waffentyp mit welchem Kaliber anrichtet, testen Gneißl und seine Kollegen im Schießlabor. Weil für die Experimente weder Leichenteile noch Tiere benutzt werden dürfen, feuern sie auf Seife oder Gelatineblöcke. Mischt man 90 Prozent Wasser mit zehn Prozent Gelatine und kühlt das Ganze auf vier Grad, entspricht die Widerstandsfähigkeit der von menschlichem Muskelfleisch. Schreckschusspistolen, sagt Gneißl, können erhebliche Verletzungen anrichten. Aus der Nähe abgefeuert, können sie Halsschlagadern und Herzmuskeln zerreißen. An die Schläfe gehalten, reicht der Druck, um das Gehirn zu deformieren.

Vom Original kaum zu unterscheiden

Dass sich Schreckschusswaffen zur Selbstverteidigung eignen, bezweifelt der Experte. Schon deshalb, weil es sich meist um Nachbauten handelt, die sich nur bei genauem Hinsehen aus unmittelbarer Nähe vom Original, also der scharfen Variante, unterscheiden lassen. „Wenn Sie in der Öffentlichkeit eine Schreckschusspistole ziehen, oder wenn die auch nur aus Ihrem Mantel lugt, was denken die Menschen um Sie herum dann? Amoklauf oder Terroranschlag.“ Die Polizei denke das womöglich ebenfalls. In den vergangenen Jahren sind in Berlin mehrere Räuber von Beamten erschossen worden, weil ihre gezogenen Schreckschusspistolen für scharfe gehalten wurden.

Gneißl holt zwei Pistolen aus der Waffensammlung und legt sie auf den Schreibtisch. Bei der einen handelt es sich um eine CZ 75, tschechisches Fabrikat, bei der anderen um ihren Schreckschussnachbau. „Unterscheiden“, sagt Martin Gneißl, „kann man sie nur an dieser kleinen Prägung hier.“ Vier Zentimeter über dem Abzug stehen die Buchstaben PTB. Alle in Deutschland legal vertriebenen Schreckschusspistolen sind an einer Stelle mit diesem Zeichen versehen. Es ist das Siegel der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, dem deutschen Waffen-TÜV. Unmöglich, darauf im Ernstfall zu achten.

Fünftens. Wenn jemand die Vorzüge von Waffen erklären kann, dann Marc Schieferdecker. Der 39-Jährige ist Sportschütze und Gründer der „German Rifle Association“, einem Interessenverband deutscher Waffenbesitzer. Schieferdecker kann Studien zitieren, denen zufolge die Zahl der Gewaltverbrechen deutlich abnähme, wenn in jedem deutschen Haushalt eine scharfe Waffe läge. Auch Kinder sollten frühzeitig an Waffen gewöhnt werden, sagt er: Je mehr beaufsichtigter Umgang im Kindesalter, desto weniger Gewaltfantasie in der Pubertät. Diese These decke sich mit praktischen Erfahrungen in deutschen Jäger- und Schützenfamilien. Wie gesagt, Schieferdecker ist Lobbyist.

Seine „German Rifle Association“ kämpft dafür, dass mehr Menschen eine scharfe Waffe besitzen und unter Voraussetzungen auch führen dürfen. Deshalb gehöre im deutschen Recht das sogenannte Bedürfnisprinzip abgeschafft: Wer künftig eine echte Schusswaffe wolle, solle nicht mehr beweisen müssen, dass er Jäger oder Sportschütze ist oder ein von der Mafia bedrohter Staatsanwalt.

Und was sagt er zu Schreckschusspistolen?

„Jeder sollte das Recht haben, eine zu führen. Aber ich würde es den wenigsten empfehlen.“ Zur Selbstverteidigung seien sie eher ungeeignet, da solle man sich lieber CS-Gas kaufen. Denn im Ernstfall, in einer Stresssituation, sei der menschliche Körper nur zu grobmotorischen Bewegungen in der Lage. Pistole ziehen und abdrücken? Schwierig ohne Übung. Theoretisch, sagt Schieferdecker, könne man auf dem Schießstand trainieren. Aber das sähen die Sportschützen nicht gerne. Die Zeitfenster an deutschen Schießständen sind begehrt.

Bloß nicht herumfuchteln

Auf keinen Fall, sagt Schieferdecker, solle der Laie in einer Notwehrsituation seine Schreckschusspistole ziehen und damit herumfuchteln. „Nur drohen zu wollen, ist besonders gefährlich. Das führt zur Eskalation.“ Weil der Angreifer dann selbst eine Pistole oder ein Messer ziehen könne. Am Ende komme der sogar straffrei davon, weil er vor Gericht behaupten könne, er habe in Notwehr gehandelt, schließlich sei er mit einer täuschend echten Pistole bedroht worden. Schieferdecker sagt: Wer sich zum Selbstschutz eine Schreckschusspistole kaufe, müsse entschlossen sein, damit zu schießen. Um dann den Überraschungsmoment zu nutzen und wegzurennen.

Schreckschuss zur Verteidigung? "Komplett irre"

Martin Gneißl vom Landeskriminalamt sagt, die Gefährlichkeit von Schreckschusspistolen werde dramatisch unterschätzt.
Martin Gneißl vom Landeskriminalamt sagt, die Gefährlichkeit von Schreckschusspistolen werde dramatisch unterschätzt.
© Sebastian Leber

Sechstens. Freitagmorgen im Restaurant Spinner-Brücke am Wannsee. Zum Frühstück bestellt Michael Kuhr, 54, Strammen Max mit drei Spiegeleiern. Kuhr ist sechsfacher Weltmeister im Kickboxen, heute leitet er ein Sicherheitsunternehmen. Seine Leute bewachen die Mall of Berlin, den Zoo, den Tierpark sowie das Estrel-Hotel, dazu mehrere Clubs in der Stadt. Er kennt sich aus mit Waffen. Und damit, was sie auf der Straße anrichten können, wie sie eine Stadt verändern. Seit Jahren warnt Kuhr, den Kriminellen in Berlin werde es zu leicht gemacht. Den Clans und Rockern, den Tunichtguten an der Straßenecke, den Verrohten und den Durchgedrehten. Kuhr fordert mehr Polizei und mehr Videoüberwachung. Als er im Dezember die Aufnahmen des Mannes sah, der am U-Bahnhof Hermannstraße eine Frau die Treppe herunterschubste, setzte Kuhr ein Kopfgeld von 2000 Euro aus für denjenigen, der Hinweise auf den Täter liefern würde. Das Geld hat er inzwischen bezahlt.

Er will ein grundsätzliches Messerverbot

Michael Kuhr versteht, dass sich Menschen in Berlin zunehmend unsicher fühlen. Die Idee, sich den Kleinen Waffenschein und eine Schreckschusspistole zu besorgen, nennt er trotzdem „komplett irre“. Auch er sagt: Ungeübte sollten die Finger davon lassen. Ginge es nach ihm, müsste das Waffenrecht weiter verschärft werden. Er will ein grundsätzliches Messerverbot in der Öffentlichkeit. Bisher sind nur Klingen ab einer Länge von 8,5 Zentimetern verboten, dazu Butterfly-Messer, also schwingbare Klappmesser. Das reiche nicht! Kuhr sagt: „Wer ein Messer trägt, hat eine böse Absicht.“

Berliner Berufskriminelle vermieden es inzwischen, ihren Opfern das Messer in den Oberkörper zu stechen, weil dies vor Gericht als Tötungsversuch gewertet werde. „Die haben sich angewöhnt, auf den Oberschenkel zu zielen.“ Das gelte nur als schwere Körperverletzung, könne aber, wenn die Aorta getroffen wird, ebenso tödlich enden. „Das kalkulieren die ein.“ Deutschland benötige daher einen neuen Straftatbestand: „Angriff mit tödlicher Waffe“.

Zur Selbstverteidigung seien Messer, egal mit welcher Klingenlänge, ohnehin ungeeignet. Jedenfalls für den Normalbürger. Denn da gebe es eine riesige innere Hemmschwelle. Im Ernstfall einem anderen Menschen die Klinge in den Körper zu rammen - das brächten die wenigsten fertig.

Siebtens. Offiziell dürfen Schreckschusspistolen nur an 18-Jährige verkauft werden. Die Realität sieht anders aus. Auf Facebook gibt es geschlossene Gruppen, deren Inhalte nur für Mitglieder sichtbar sind und in denen neben Smartphones und Spielekonsolen vor allem Schreckschusswaffen gehandelt werden. Sie haben unverfängliche Namen wie „An&Verkauf (Berlin)“. Manche Gruppenmitglieder tragen Kunstnamen. Ein gewisser „Michael Corleone“ aus Spandau will seine P22 mit zwei Magazinen gegen eine Röhm 9 mm tauschen. Den Profilbildern nach zu urteilen sind viele Bieter in den Foren minderjährig.

Manchmal hält er Leuten die Knarre vors Gesicht

Hussein aus Neukölln hat seine Zoraki 918 zum Verkauf eingestellt, „noch in gutem Zustand“, mit Koffer und Reinigungsbürste, 110 Euro Verhandlungsbasis. Wer Kontakt mit ihm aufnimmt und nachfragt, erfährt, dass er die Zoraki nur abgeben will, weil er noch zwei weitere Schreckschusspistolen besitzt. Er behauptet, er sei 16 Jahre alt und in seiner Schulklasse besitze jeder Dritte eine eigene Pistole. „Nur für den Fall, dass einer Stress macht.“ Ob er sie schon mal einsetzen musste? Abdrücken nicht, sagt er. Leuten vors Gesicht halten, das komme vor. Das signalisiere, dass man Jäger sei und nicht Opfer, dass man nicht alles mit sich machen lasse. Außerdem könne man mit der Zoraki gut Getränkedosen kaputt schießen.

Wer ohne Kleinen Waffenschein mit Schreckschusspistole erwischt wird, macht sich strafbar. Theoretisch drohen ihm bis zu drei Jahre Haft. Praktisch, sagt Hussein, habe er mit seinen Waffen an Silvester schon tagsüber draußen rumgeballert, und der Polizeiwagen sei einfach weitergefahren. „Ist doch Tradition auf der Sonnenallee.“

Kontrollen finden in Berlin kaum statt

Michael Kuhr ist Chef einer Security-Firma. Er rät von Schreckschusspistolen zur Selbstverteidigung ab.
Michael Kuhr ist Chef einer Security-Firma. Er rät von Schreckschusspistolen zur Selbstverteidigung ab.
© Mike Wolff

Achtens. 9450 Menschen haben in Berlin die Erlaubnis, eine scharfe Waffe zu besitzen. Die meisten sind Sportschützen und Jäger, 90 Prozent von ihnen Männer, in der Regel älter als 40. In Steglitz-Zehlendorf und Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es sie häufiger als im Osten der Stadt. In der DDR war privater Waffenbesitz noch restriktiver gehandhabt als in der Bundesrepublik, in West-Berlin gab und gibt es etliche Schützenvereine.

Einen vergleichbaren Ansturm wie den auf Schreckschusspistolen erleben die Vereine nicht. Das liegt sicher auch an den hohen Hürden. Wer eine scharfe Waffe besitzen möchte, muss Kurse belegen, praktische und theoretische Prüfungen bestehen und mindestens ein Jahr lang Vereinsmitglied sein. Die Waffe darf, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht auf der Straße getragen werden, nur am Schießstand oder auf dem Hochsitz, je nach Zulassung. Auf dem Weg dorthin gehört sie speziell verpackt. Zu Hause muss sie sicher weggeschlossen und getrennt von der Munition aufbewahrt werden. Zudem haben Waffenbesitzer mit unangemeldeten, verdachtsunabhängigen Kontrollen zu rechnen. Die wurden vor acht Jahren nach dem Amoklauf von Winnenden beschlossen, bei dem ein 17-Jähriger mit den Sportwaffen seines Vaters 15 Menschen getötet hatte. Tatsächlich finden die Kontrollen in Berlin praktisch nicht statt. Im ersten Halbjahr vergangenen Jahres gab es lediglich fünf Stück, das entspricht einer Kontrollquote von 0,05 Prozent. Aus der Senatsverwaltung heißt es ironischerweise, die Kontrollen hätten dramatisch zurückgefahren werden müssen, um die Antragsflut für den Kleinen Waffenschein abarbeiten zu können.

Gefährliche Waffen aus der Slowakei

Die „German Rifle Association“ hält die legalen scharfen Waffen sowieso nicht für das Problem. Sondern diejenigen, die unregistriert in Deutschland verkauft werden. Zum Beispiel ehemalige Salutwaffen - das sind scharfe Pistolen und Gewehre, die unbrauchbar gemacht wurden, um sie für Fernsehaufnahmen oder im Theater einsetzen zu können. In Deutschland werden dabei alle wesentlichen Teile der Waffe bearbeitet, die Umbauten werden vom BKA geprüft. In anderen EU-Ländern sind die Richtlinien lascher. In der Slowakei wurde lange lediglich ein Metallstift im Lauf angebracht. Wer den Stift entfernt, hat wieder eine funktionsfähige scharfe Waffe. Die Glock 17, mit der ein Schüler im Juli 2016 neun Menschen in einem Münchener Einkaufszentrum erschoss, war eine Salutwaffe aus der Slowakei. Auch die Pariser „Charlie Hebdo“-Attentäter benutzten welche.

Der Rückbau zur scharfen Waffe findet oft erst an dem Ort statt, wo sie schließlich verkauft werden soll. So kann sie legal, als unbrauchbare Salutwaffe, dorthin gebracht werden. In Berlin haben Ermittler mehrere Männer festgenommen, die solche Waffen rückgebaut haben, zuletzt im vergangenen Juli in einem Keller in Gesundbrunnen. Der 23-jährige Waffenbauer wohnte noch bei seiner Mutter, verkaufte übers Internet. Ihm drohen nun bis zu zehn Jahre Haft.

Neuntens. Neben Schreckschusspistolen hat die Sicherheitsindustrie inzwischen eine riesige Bandbreite an Selbstverteidigungswaffen hervorgebracht. Elektroschocker mit 500 000 Volt, Schrillalarmdosen mit Hochfrequenzton, Teleskopschlagstöcke, die auf Knopfdruck CS-Gas versprühen. Farbsprays, um Täter mit schwer entfernbarer Haftfarbe zu markieren. Kleine Glasampullen, die stinkbombengleich auf dem Boden zerschmettert werden und abschreckende Gerüche freisetzen. Nicht zu vergessen: den Defense-Regenschirm mit Schlagstange und Stoßspitze aus Metall.

Besser ein Notwehrtraining!

Er könne keines dieser Produkte empfehlen, sagt Michael Schürks aus Prenzlauer Berg. „Sie vergiften das Leben.“ Schürks ist in dieser Frage nicht unbefangen. In seinem Büro nahe dem Helmholtzplatz bietet er ein Notwehrtraining an, bei dem Frauen lernen, sich bei Gefahr ohne Waffe zu verteidigen. Wer im Alltag zum Beispiel ein Spray bei sich habe, verschwende viel Zeit damit, darüber nachzudenken, ob die Dose gerade griffbereit sei, ob man sie besser in die Hosen- oder die Innentasche des Mantels packen solle. Er weiß das aus eigener Erfahrung, er war lange Taxifahrer in Hamburg. Irgendwann hatte er das Bedürfnis, sich zu schützen. Doch schon nach zwei Tagen wollte er den gekauften Schlagstock nur ganz schnell wieder loswerden. „Ich war von ihm besessen.“

Deswegen bringt Schürks den Frauen in seinen Kursen simple Bewegungen bei, mit denen sich Angreifer effektiv ausschalten lassen, egal wie groß und kräftig diese sind. Auf die Augen schlagen. Knie hochziehen gegen die Hoden. So simpel, dass das Gehirn die Bewegung nicht mehr vergisst. Sie üben es an einer Gummipuppe. „Was meine Gruppen hier lernen, ist nur für lebensgefährliche Extremsituationen gedacht. Für den Fall, dass Weglaufen nicht mehr geht.“ Weglaufen, sagt Schürks, ist nämlich immer besser.

Zehntens. Zurück im Waffengeschäft in Mitte. Der freundliche Verkäufer ist wieder da. Wer ihm sagt, man sei sich jetzt doch sehr unsicher wegen der Schreckschusspistole, weil man gewarnt wurde, dass man im Ernstfall eh zu verkrampft wäre, um sie zu benutzen, weil bloßes Herumfuchteln und Drohen gefährlich wäre und man Angst habe, jemandem ein Auge auszuschießen, dem antwortet der Mann überraschend: „Ja, das kann man so sagen.“

Aber kein Problem, er habe schließlich eine große Sammlung an Pfeffersprays da. Die seien natürlich auch bloß zur Tierabwehr zugelassen, „aber das wissen Sie ja“.

Manche Experten sagen, dass für Sprays dasselbe gelte wie für Schusswaffen: Im Notfall versage bei Ungeübten die Körperkontrolle, nur noch grobmotorische Bewegungen seien möglich, da sprühe man leicht daneben. „Unsinn!“, sagt der Verkäufer. Man könne bequem aus fünf Metern Entfernung abfeuern, noch bevor der Angreifer einem nahe komme. Man müsse sich nur für ein Modell entscheiden. „Strahl oder Wolke?“ Beim einen sollte der Träger gut zielen können, beim anderen riskiere er, je nach Windrichtung selbst etwas abzukriegen. Für Frauen gibt es pinkfarbene.

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