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Andre Redlich, der Vorstandsvorsitzende der Berliner Kommunikationsagentur familie redlich AG.
© Christian Thiele.

75 Visionen für Berlin – Folge 39: "Berlin braucht neue Freiräume"

Unsere Stadt lockt Start-ups, Kreative, Erfinder. Wie sich Berlin die richtige Mischung erhalten kann. Ein Gastbeitrag

Was dem kalifornischen Gründer in den Neunzigerjahren seine Garage, das war dem Berliner Innovator die leerstehende Schaufensterfläche neben dem Späti seines Vertrauens. Es waren die Jahre der „Zwischennutzung“, der Experimentierräume, der Pop-up-Stores, der Spontan-Partys. Einige Jahre später, es muss 2003 gewesen sein, lieferte der damalige Regierende Bürgermeister dem Ganzen ein Leitmotiv – und die Experimentierfreunde aus ganz Deutschland und dem Rest der Welt feierten Armut als neue Sexyness.

Wir spulen vor, Jahreswende 2019/2020: Berlin führt die deutschland- und europaweiten Innovations-Hitparaden in vielen Kategorien an – je nach Perspektive ist die Stadt der führende Fintech-Hub (Finanz-Start-ups), das neue Boston an der Spree (Biomedizin-Boom) und natürlich der Digital-Hotspot schlechthin. Was sich in den Jahresstudien, Rankings und auf den Seiten der Wirtschaftspresse widerspiegelt, lässt sich auch für jede und jeden im Alltag beobachten: Ob Urban Tech Republic – das Nachnutzungskonzept für den Flughafen Tegel, die Siemensstadt 2.0, der CleanTech Business Park Marzahn oder der Technologiepark Adlershof: Business-Parks und Innovationscampusse feiern in Berlin Hochkonjunktur und führen zu gänzlich neuen Stadtteilen.

Im Frühjahr 2020 erfolgt dann die Vollbremsung vor dem großen C – und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft diskutieren darüber, wie es nun weitergehen soll mit dem Innovations- und Gründungsstandort Berlin. Gut so! Denn die Corona-Pause könnte zur Feinjustierung genutzt werden.

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In meinen Augen sind es maßgeblich drei Aspekte, auf die es in Zukunft ankommen wird – verfolgt man das Idealbild einer offenen, durchlässigen und innovativen Metropole. Es geht, erstens, um neue Verbindungsräume zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Es geht, zweitens, um neue Übergangsräume zwischen Berlin und dem Umland. Und es geht, drittens, um grundsätzlich neue Freiräume – für eine lebendige Off-Szene, die vor Jahrzehnten die Anziehungskraft Berlins hauptsächlich ausgemacht hat.

[Andre Redlich ist Vorstandsvorsitzender der familie redlich AG – Agentur für Marken und Kommunikation. Das vor 20 Jahren in einer Prenzlauer Berger Küche gegründete Unternehmen beschäftigt heute rund 240 Mitarbeiter:innen im Technologie-Park Humboldthain.]

Zum ersten Punkt: Mittlerweile hat Berlin den höchsten Anteil an internationalen Studierenden bundesweit – wie der Deutsche Akademische Austauschdienstes (DAAD) Anfang 2020 meldete. Mit der Freien Universität (FU), der Humboldt-Universität (HU), der Technischen Universität (TU) und der Charité verfügt die Stadt über eine einzigartige Forschungsinfrastruktur. Das ist eine ideale Basis für forschungs- und wissenschaftsbasierte Neugründungen – wenn neue Verbindungen zwischen Wissenschaft und dem etablierten Start-up-Ökosystem geschaffen werden, also auch zu Business Angels und Venture Capital. In diesem Sinne ist der Neustart des Gründungsservices der Berlin University Alliance „Science & Startups“ ein richtiges und wichtiges Signal.

Ralph Hartmann, Andre Redlich, Ingmar Klatt - die Chefs dreier Berliner Werbeagenturen arbeiten seit dem Frühj2021 unter dem Dach von familie redlich.
Ralph Hartmann, Andre Redlich, Ingmar Klatt - die Chefs dreier Berliner Werbeagenturen arbeiten seit dem Frühj2021 unter dem Dach von familie redlich.
© familie redlich

Zweitens, Stichwort neue Übergangsräume. Bezahlbare Wohn- und Arbeitsräume sind in der Hauptstadt mittlerweile ein ebenso kostbares wie seltenes Gut. Und aus der internationalen Vogelperspektive erscheint die Landesgrenze Berlin-Brandenburg bestenfalls als Kuriosität. Schon der Blick auf nur eine Branche verdeutlicht die ganze Dynamik: Allein 2019 gingen 509 Digitalunternehmen in Berlin frisch an den Start (so die Investitionsbank Berlin) – das heißt, alle 17 Stunden wurde in der Stadt ein neues Unternehmen mit einem digitalen Geschäftsmodell gegründet.

[Lesen Sie alle bisher erschienen Beiträge unserer Serie "75 Visionen für Berlin" hier.]

Und im davorliegenden Zeitraum von 2008 bis 2019 wurden in der Berliner Digitalwirtschaft knapp 70 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. All diese Menschen und Unternehmen konkurrieren um wenige innerstädtische Quadratmeter, auf denen gelebt und gearbeitet werden soll. Mittelfristig kann die positive Gründungsdynamik nur erhalten werden, indem man Berlin im Sinne einer Metropolenregion weiterdenkt und weiter fasst – und dabei vor allem föderale und bürokratische Hürden abbaut.

Schlussendlich sehe ich aber vor allem den dritten Aspekt, die neuen Freiräume, als Voraussetzung für ein zukunftsfähiges und attraktives urbanes Ökosystem. Berlin ist in puncto Neugründungen auch deshalb so erfolgreich gewesen, weil die Stadt auf experimentierfreudige junge Menschen geradezu magnetisch gewirkt hat. Je versiegelter, unzugänglicher, exklusiver Berlin wird, desto weniger wird diese Anziehungskraft noch fortexistieren. Dabei benötigen Gründergeist und Innovationen ebenso atmosphärisches und kulturelles Kapital wie monetäre Unterstützung. Hier haben Politik und Stadtplanung ein dickes Brett zu bohren – aber es wird sich lohnen. Mein Rat: weniger Paris und London, sondern mehr Berlin wagen!

Andre Redlich

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