Espiners Berlin: Berlin Alexanderplatz: Kein Ort für Mord und Gewalt
Als er vor vier Jahren nach Berlin zog, erschien unserem Autor Mark Espiner der Alexanderplatz wie eine Oase städtischer Ruhe - verglichen mit seiner Heimatstadt London. Espiner lebt am Alex, und heute sagt er: Etwas hat sich geändert. Den Grund dafür glaubt er zu kennen.
Drei Jahre nach den terroristischen Bombenanschlägen vom 7. Juli, mitten in der Finanzkrise, beschloss ich, London zu verlassen. Im Jahr 2008 schien die Stadt unwiderruflich in einer Spirale aus Paranoia und Gewalt zu versinken. Gedenkstätten am Straßenrand, die täglich anwuchsen mit Blumen und den schmerzlichen Porträts der Teenager, die Opfer einer Messerattacke wurden, schienen jede Woche nur so aus dem Boden zu sprießen. Die Häufigkeit machte sie nicht weniger schockierend. Und als meine damals elfjährige Stieftochter einige Teenager im Bus sah, wie sie einen anderen mit einem Feuerzeug quälten, fragte ich mich, ob London wirklich die Stadt war, in der ich leben wollte.
In Berlin, vermute ich, müssen Sie sich das immer noch erst vorstellen, was so ein Klima an urbaner Gewalt mit einem anrichten kann, und wie es die Art, wie man sich verhält, beeinflusst. Man geht sicher, dass man sich nicht in einen öffentlichen Streit einmischt für den Fall, dass sich dieser zu einer gewalttätigen Konfrontation auswächst. Man sorgt dafür, einer unbekannten Person nicht direkt in die Augen zu sehen, weil diese das als Bedrohung auffassen könnte. Und man vermeidet, mit dem Fahrrad durch bestimmte Gegenden zu radeln – auch wenn diese wie hübsche Fahrradwege entlang eines Flusses aussehen – weil dort bestimmte Gruppen an Jugendlichen ihre Kampfhunde gegeneinander aufhetzen, oder weil man gehört hat, dass Leute dort mit Steinen beworfen oder vom Rad gestoßen werden.
Manche der Gegenmaßnahmen, die daraus resultieren, bringen auch nicht unbedingt die gewünschte Lösung: Ganze Gebüsche an CCTV-Kameras an jeder Ecke, die es scheinbar rechtfertigen, nun noch mehr soziale Verantwortung an die Behörden abzugeben und gemäß einigen Berichten doch nur wenig dazu beitragen, die Kriminalität zu reduzieren.
Im Vergleich zu diesem brutalen Gesicht Londons war Berlin Alexanderplatz wie eine Oase städtischer Ruhe für mich, als ich dort ankam. Der Fernsehturm, die zentrale Riesenstecknadel der Stadt, und die Betonarchitektur schienen beides, Zukunft und Vergangenheit, in sich zu tragen. Es war ein seltsamer Platz. Leer, aber offen. Er umfasste viele der verschiedenen Gruppierungen der Stadt: die leuchtend bunt gekleideten Technotänzer, die Goths in ihren Ledertrenchcoats, die Touristen, die Betrunkenen, und natürlich die Punks. Seit drei Jahren lebe ich nun an diesem Platz. Es ist mein Zuhause. Als ich hierher zog, gab es keinen Hinweis auf Überwachungskameras und kein Gefühl der Bedrohung. Trotz der jüngsten entsetzlichen Geschehnisse fühlt sich das nach wie vor so für mich an.
Ich habe mich immer sicher gefühlt hier, zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Deshalb war ich auch überrascht, als mir kürzlich eine Nachbarin aus der ehemaligen DDR erzählte, dass sie es seit dem Fall der Mauer nie mehr gewagt hat, nachts unbegleitet über den Platz zu gehen, und dass der Alexanderplatz im wahrsten Sinne des Wortes vor die Hunde geht.
Die Situation hat sich verschärft. Und der Grund dafür ist offensichtlich.
Trotz alledem ist doch etwas mit diesem Platz in den vergangenen Monaten geschehen. Die Situation hat sich verschärft und ich denke, ich kenne den Grund dafür. Wie Rudi Giuliani in New York bewies, verhindern Plätze, die immer gepflegt werden, Gewalt. Könnten es die chaotischen und scheinbar endlosen Baustellen sein, die asoziales Verhalten fördern? Seit die Bauarbeiten an nicht weniger als drei, von einander unabhängigen, Projekten begannen – was ist das für eine spektakulär unbedachte Art der Planung? – ist der Platz zu einem offenen Schauplatz für Missbrauch geworden. Tagging, die schlimmste und egozentrischste Art von Graffiti, tauchte plötzlich an den spitzen Schrägen des Fernsehturmfundaments auf, und große Teile des Platzes werden seither als öffentliche Toilette benutzt.
Ich neige dazu, in die Defensive zu gehen, wenn Leute den Alexanderplatz schlecht reden wollen. Zum Teil deshalb, weil ich hier lebe. Aber auch, weil er nichts mit meinem früheren Heimatkiez Camden in London mit seinem Kampf gegen Crack zu tun hat oder mit dessen 381 gewalttätigen Vorfällen in einem Monat. Vor allem aber bin ich optimistisch über die fantastische Gelegenheit, die sich hier bietet, etwas aus diesem einzigartigen und riesigen Platz im Herzen der Stadt zu machen. Wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, könnte der Alexanderplatz ein großartiger sozialer Treffpunkt werden, ein Europäischer Platz mit Grandeur, an dem man sich gerne aufhält und Zeit verbringt, anstatt nur darüber zu eilen, um zur nächsten Station oder zur Museumsinsel zu gelangen. Der Beweis dafür ist schon auf der Seite zur Karl-Liebknecht-Straße zu sehen, wo nun die Bänke und Grasflächen zum Verweilen genutzt werden.
Als ich vergangenen Dienstag spät nachts nach einem Auslandsaufenthalt nach Berlin zurück kam und die brennenden Kerzen und bewegenden Briefe an Jonny sah, wurde mir schwer ums Herz, und ich dachte an seine Familie und Freunde. Plötzlich kamen all die Erinnerungen an die Schreine der Londoner Opfer von Gewaltattacken in mir hoch und ich fragte mich, ob das nun auch so in Berlin seinen Lauf nehmen würde. Wird es mehr solcher Fälle geben? Aber dann sah ich einen Obdachlosen, wie er die Blumen schön herrichtete und die Kerzen, die ausgegangen waren, wieder anzündete.
Es war eine sehr bewegende Szene. Eine, die durch so viele Leute jeden Alters und jeder Herkunft an den darauf folgenden Tagen widergespiegelt wurde, die ihre Trauer ausdrückten und Blumen brachten. All das wird Jonny nicht zurückbringen, aber es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass der Alexanderplatz kein Ort für Mord und Gewalt ist – er ist ein öffentlicher Platz, der uns allen gehört.
Mark Espiner: Lesen Sie den Text unseres Kolumnisten hier auf englisch.