Stadtplanung in der Krise: „Beim Alexa kriegt man Gänsehaut“
Was müssen Innenstädte bieten, gerade in Zeiten der Coronakrise? Stadtplaner Reiner Nagel über die Bedeutung der Erdgeschosse, Mietwucher und triste Fassaden.
Angesichts der Coronavirus-Pandemie hat sich vielerorts das Stadtbild geändert, viele Geschäfte hatten oder haben geschlossen, die Rollläden sind heruntergelassen. Was bedeutet das für das Lebensgefühl und die Lebensqualität in einer Stadt? Wir haben Reiner Nagel, den Vorsitzenden der Bundesstiftung Baukultur, zur Bedeutung des Erdgeschosses für die Stadt befragt.
Herr Nagel, Hamburgs Oberbaudirektor Franz-Josef Höing hat in Bezug auf neue städtische Großprojekte gesagt: „Die Erdgeschosszonen sind die entscheidende Frage. Stadt gelingt nur, wenn das einzelne Haus der Straße etwas gibt. Falls es uns nicht gelingt, die Erdgeschosszonen so auszugestalten, dass dort die Option lebendiger Nutzung besteht, können wir die Tür dort gleich zusperren.“ Was sagen Sie als Vorsitzender der Bundesstiftung Baukultur – stimmt oder stimmt nicht?
In zentralen Lagen ja. Aber daneben gibt es ja noch normale Stadt.
Was ist das denn?
Bereiche, die überwiegend zum Wohnen oder Arbeiten genutzt werden. Wir schaffen es nicht, überall offene Funktionen unterzubringen, da muss man realistisch sein. Handel, Gewerbe, Bildung, Kultur, das kann man nicht flächendeckend entwickeln, schon gar nicht in Vororten. In zentralen Lagen aber auf jeden Fall.
Und wie bekommt man das hin?
Ich habe an Hamburgs HafenCity mitgewirkt. Dort haben wir in zentralen Bereichen fünf Meter hohe Erdgeschosse vorgeschrieben, Gewerbe zur Konzeptvorgabe gemacht. Das reicht von der Bäckerei über die Galerie bis zum Ladenbüro.
Warum interessieren Sie sich für die Erdgeschossebenen?
Sie sind raumpsychologisch von großer Bedeutung. Wir gehen meist mit leicht geneigtem Kopf. Es sind diese Flächen, die, oft unbewusst, unser Raumempfinden prägen. Es gibt Untersuchungen von Neurowissenschaftlern: Wenn man an einer langen, geschlossenen Erdgeschossfläche vorbeigeht, fahren automatisch die Gehirnzellen runter. Man ist gelangweilt, empfindet dieses Stück Stadt als unangenehm und unwirtlich. Ein Fußgänger, der zügig geht, schafft etwa 100 Meter in der Minute. Bei einem Shopping-Center wie dem Alexa in Berlin geht man dann fünf Minuten am geschlossenen Erdgeschoss mit Tiefgaragenzufahrt vorbei. Das empfinden wir als langweilige Stadt. Bei Regen und Wind kriegt man Gänsehaut.
Und wer ist schuld?
Natürlich sind diese Themen Verhandlungssache zwischen Stadt und Investor. Dazu kommt das eigene Konsumverhalten, die Filialisierung. Die Nachfrage nach Flächen nimmt ab, es kommt zum Abstieg einzelner Handelslagen – am Schluss ziehen das Nagelstudio und der Ein-Euro-Shop ein. Gleichzeitig haben Eigentümer in zentralen Lagen sehr hohe Mieterwartungen. Das geht bei 60, 70 Euro pro Quadratmeter los und kann auf etwa 300 Euro in den Top-Lagen steigen. Wer soll das langfristig zahlen?
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Am Ku’damm sieht man bisher noch keine leer stehenden Geschäfte.
Weil es the place to be ist, da muss man als Markenunternehmen eine Adresse haben. Für die kleineren Städte ist der Drang in die Zentren kein Selbstläufer mehr. Unsere Stiftung versucht ein Problembewusstsein dafür zu schaffen, dass Hauseigentümer bei der Mieterwartung umdenken. Das ist nicht so einfach, gewerbliche Erdgeschossvermietungen sind ein Spezialthema.
Wenn man sich in der Stadt so umguckt, scheinen einige Immobilienentwickler gar nicht unbedingt interessiert daran zu sein, das Parterre gewerblich zu vermieten.
Man braucht ein professionelles Management, das sich um eine lebendige Nutzungsmischung kümmert. Es gibt alle möglichen Regularien zu lösen. So haben Läden meist eine Tiefe von 20 bis 30 Metern, Wohnhäuser eher 12 bis 13, Büros um die 15. Das macht es bei gestapelten Nutzungen schwer. All das ist lösbar, kostet aber Zeit und Mühe und funktioniert nur, wenn Politik und Nutzer diesen Aufwand fordern. Beim neuen Stadtteil Aspern in Wien werden die Erdgeschosse des Zentrums wie in einem Einkaufscenter gemeinsam gemanagt. Das heißt, eine öffentliche Gesellschaft kümmert sich um Vermietung und Leerstand, steuert den Branchenmix über Querfinanzierungen und sorgt für werbliche Aktivitäten. Bisher sind Städte bei ihrer Zentrenentwicklung meist nur Beobachter. Da kann man wesentlich mehr tun.