Fahren Nazis eigentlich Fahrrad?: Ausstellung über NSU-Komplex eröffnet in Berlin
Die Ausstellung „Offener Prozess“ im Gorki-Theater beleuchtet die NSU-Morde und ihre gesellschaftlichen Umstände – jenseits der üblichen Täter-Geschichten.
„Enver Şimşek. Enver Şimşek. Abdurrahim Özüdoğru. Abdurrahim Özüdoğru. Süleyman Taşköprü. Süleyman Taşköprü.“ Geduldig wiederholt Ülkü Süngün, an einem Tisch sitzend und frontal in die Kamera blickend, die Namen der zehn Mordopfer des NSU. Die Zuschauenden sind dabei aufgefordert, laut mitzusprechen – um die korrekte Aussprache der Namen zu lernen.
Die Videoinstallation ist Teil der Ausstellung „Offener Prozess“, die vom 1. Oktober bis zum 12. Dezember im Gorki in Mitte zu sehen ist und sich der Aufarbeitung der NSU-Morde widmet. Dabei sollen nicht die Täter:innen der Terrorgruppe im Fokus stehen, sondern deren Opfer – und die Umstände, die überhaupt erst zu den schrecklichen Gewalttaten von Beate Zschäpe und Co geführt, ja, diese eventuell möglich gemacht haben.
Dazu gehören laut den Kurator:innen vor allem struktureller und Alltagsrassismus, aber auch die katastrophale Aufklärungsarbeit der Ermittler, bei der es unter anderem zu Täter-Opfer-Umkehrungen kam.
„Noch immer gibt es keine richtige staatliche Anerkennung der NSU-Opfer, kein offizielles Gedenken“, sagt Co-Kurator Fritz Laszlo Weber einen Tag vor Eröffnung. „Es gilt natürlich zum Einen, die großen Formen des Gedenkens zu erkämpfen – Straßenschilder, Plätze. Aber auch die kleinen Formen sind wichtig. Und dazu gehört zum Beispiel, die Namen der Opfer richtig zu schreiben und auszusprechen.“
Die Ausstellung läuft im Rahmen des Herbstsalons, der normalerweise zu dieser Zeit als dreiwöchiges Festival stattfände, nun aber wegen der Pandemie abgesagt beziehungsweise modifiziert wurde und der sich in den letzten Jahren bereits den Themen Nationalität, Identität und Zugehörigkeit gewidmet hat.
„Offener Prozess“ wird auch in anderen Städten gezeigt
Konzipiert wurde „Offener Prozess“ jedoch nicht speziell fürs Gorki – es handelt sich dabei um eine Wanderausstellung, die bereits in Jena lief und diese Woche auch in Chemnitz Eröffnung feierte. Sie soll zukünftig auch in weiteren Städten, wie Brüssel, zu sehen sein. Außerdem kann man sich alle Arbeiten online unter offener-prozess.net anschauen.
Zum großen Teil besteht die Schau aus Videos, die auf großen Bildschirmen abgespielt werden. Deren Ton müssen sich die Besuchenden jedoch aktiv – also mit Kopfhörern (ausgeliehen oder selbst mitgebracht) – anhören. „Das Zuhören als aktive Handlung ist eine politische Handlung“, sagt Kuratorin Ayşe Güleç. Ebenso wie auch wegzuschauen, ignorieren aktive Handlungsformen seien.
Der erste Raum zeigt zwei sich gegenüberstehende Videos, in denen es genau darum geht: zuhören. Im ersten Film, „Inventur – Metzstraße“ von 1975, erzählen Menschen, darunter viele Gastarbeiter:innen, im Treppenaufgang ihres Münchener Wohnhauses von ihrem Leben, ihrem Alltag, ihren Lebenserfahrungen in Deutschland.
Der zweite Film „Inventur 2021“ fasst diese Erzählweise auf – spielt aber im ostdeutschen Chemnitz, wo Personen, die meist aus dem Nahen Osten oder Asien stammen, von ihrem Leben und dem täglichen Kampf gegen Rassismus berichten. „Wir wollten nicht mit der Gewalt beginnen, sondern mit dem Leben der Menschen“, sagt Güleç.
Die Gewalt des NSU spitzt sich im Lauf der Ausstellung zu
Doch die Gewalt des NSU bleibt nicht aus. Sie spitzt sich im Laufe der Ausstellung langsam zu, wird wahrnehmbar über Bilder von der Umgebung der Tatorte in Nürnberg, wo zwischen 2000 und 2005 drei Menschen vom NSU ermordet wurden. Sie wird wahrnehmbar über die Protestplakate der Demo „Kein zehntes Opfer“, die 2006 in Kassel Aufklärung forderte und nicht gehört wurde. Das zehnte Opfer kam. Und sie mündet in der Aussprache der Namen aller vom NSU getöteten Menschen.
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Dazwischen geht es auch um die Versuche nichtstaatlicher Akteure, die Taten aufzuklären, wie in den ausgestellten Arbeiten von Forensic Architecture zu sehen ist. Das Forschungsinstitut hat den Tathergang des Mordes an Halit Yozgat am 6. April 2006 anhand der widersprüchlichen Aussagen des ehemaligen Verfassungsschützers Andreas Temme rekonstruiert.
Es geht auch um rassistische Gewalt, die nicht vom NSU ausgeübt wurde, zum Beispiel um den Tod Oury Jallohs, der 2005 in einer Gefängniszelle in Dessau verbrannte. Viel deutet auf einen Mord durch Polizist:innen hin; der Fall wurde jedoch bis heute nicht aufgeklärt. Und es geht darum, wie viel die Gesellschaft eigentlich über all diese Fälle weiß – das Video „Was würden Nazis niemals tun?“ zeigt beispielsweise, dass bei einer Straßenumfrage fast niemand weiß, dass eines der bevorzugten Verkehrsmittel der NSU-Täter:innen das Fahrrad ist.
„Offener Prozess“ wird begleitet von dem Rahmenprogramm „Immer wieder Deutschland“, bei dem es in Performances, Podiumsdiskussionen und Konzerten um Migration, Rassismus und Rechtsextremismus geht. Am Sonnabend treten zum Beispiel die Neuköllner Rapperinnen Tice, Nashi44 und Neromun um 20 Uhr auf, am Sonntag gibt es unter anderem eine Live-Performance von Ülkü Süngün (16 Uhr) und ein Konzert von Chefket (22 Uhr). Alle Infos zum Begleitprogramm unter www.gorki.de/index.php/de/immer-wieder-deutschland.
„Offener Prozess“: Maxim-Gorki-Theater, Am Festungsgraben 2, Mo-Fr 16-22 Uhr, Sa-So 12-22 Uhr, Eintritt frei.