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Der erste Tote: Enver Simsek wurde im September 2000 erschossen.
© Salzgeber

Dokumentarfilm "Spuren" porträtiert NSU-Opfer: Nichts ist vorbei

Zwanzig Jahre, nachdem die rassistische Mordserie des NSU begann, setzt Aysen Bademsoys Dokumentarfilm „Spuren“ den Opfern ein Denkmal.

Der Parkplatz in Nürnberg-Langwasser, auf dem am 11. September 2000 der Blumenhändler Enver Simsek von zwei deutschen Rechtsterroristen ermordet wurde, ist uneben. Wenn es regnet, bilden sich Pfützen. Das kann man wissen, ohne dort gewesen zu sein, nämlich aus Dokumentarfilmen wie „Tiefenschärfe“ von Mareike Bernien und Alex Gerbaulet oder „6 Jahre, 7 Monate, 16 Tage“ von Sobo Swobodnik, die hier gedreht wurden, weil sie an diesem Ort den Anfang einer Geschichte vermuten.

Das Vergangene ist nicht vorbei

Einer Geschichte, die nicht zu Ende ist, was sich in Aysen Bademsoys Dokumentarfilm „Spuren“ beobachten lässt, der erneut hier einsetzt. Die Gedenktafel an einem Baum hängt mittlerweile höher, damit sie nicht mehr so leicht von Neonazis entfernt werden kann. Von Leuten, die Spuren verwischen wollen, die gegen die Erinnerung kämpfen. Nichts ist abgeschlossen, das Vergangene nicht vorbei.

Als Bademsoy in Nürnberg gedreht hat, scheint die Sonne. Es gibt keine Pfützen, die Farben leuchten – das Grün des Walds, das Bunt der Blumen, die ein Mann im Bild verkauft, und die Farben seines Sonnenschirms. Und wenn der Mann zwischendrin Bilder aus der Zeit zeigt, als dieser Platz ein Tatort war, sieht man, auch wenn die Fotos schwarzweiß sind, dass es sich um denselben Sonnenschirm handelt wie im September 2000.

Nicht nur diese Entdeckung macht den Prolog turbulent. Der Eindruck beim Gucken ist, als ob das Heute sich immer wieder zwanghaft an der Schlange vorbeidrängeln muss, in der das Gestern darauf wartet, verstanden zu werden. Dafür steht auch der Mann im Bild, Ali Toy, ein fast filmischer Charakter, in dem die Zeitebenen so unvermittelt kollidieren, wie er zwischen Deutsch und Türkisch springt beim Reden. Ali Toy wäre tot, hätte er nicht Urlaub gehabt an diesem Septembertag im Jahr 2000 und wäre nicht sein Chef, Enver Simsek, für ihn eingesprungen. So ist die Fortsetzung des Blumenverkaufens an dieser Stelle mit diesem Schirm auch eine Art von Trauer- und Erinnerungsarbeit. Toy stellt nicht nur frische Blumen unter den Baum mit der Gedenktafel, er notiert auch die Kennzeichen von Autos, die ihm verdächtig vorkommen.

Blick in den Abgrund

Man schaut in „Spuren“ von Anfang an in den Abgrund, den der NSU-Komplex noch immer darstellt. Wie kann es sein, dass so etwas passiert, dass mitten in Deutschland Menschen umgebracht werden über Jahre, ohne dass sich der Großteil der Gesellschaft dafür interessiert? Erst wenn die Monstrosität dieses Vorgangs begriffen ist, können Rassismus und Rechtsradikalismus verstanden werden als Gift, das Gesellschaften kaputtmacht.

Dass es bis dahin noch ein langer Weg ist, führte die Weltpremiere von „Spuren“ beim Leipziger Dokumentarfilmfestival im letzten Herbst vor. Das Thema sei dem Festival wichtig sei, hieß es – was das gleiche Festival dann aber dadurch dementierte, dass es Bademsoys Film weder im Internationalen noch im Deutschen Wettbewerb programmierte.

So lässt sich ziemlich gut die Ignoranz definieren, die alle filmischen und dokumentarischen Versuche über den NSU-Komplex zur durchbrechen versuchen. Häufig setzen diese Arbeiten bei Orten und Personen an wie der Fotoserie „Blutiger Boden“ von Regina Schmeken, die ebenso wie „6 Jahre, 7 Monate, 16 Tage“ die Schauplätze des Verbrechens im Bild festhält. In Sobo Swobodniks Film kommt auf der Tonspur von Schauspielerinnen gelesene Protokoll-Literatur dazu – biografisches Material über die Opfer, Fetzen von medialer Berichterstattung.

In „Der zweite Anschlag“ folgte Mala Reinhardt den Bemühungen um eine eigene Aufklärungsarbeit, wie sie das durch ehrenamtliche Energie organisierte NSU-Tribunal vorstellt. Der Kurzfilm „Tiefenschärfe“ ist dagegen das bislang entschiedenste Beispiel einer Reflektion, die über Tatorte und Biografien hinaus Verbindungen herstellt. Dort kippen die Bilder der scheinbar vertraut-harmlosen Wirklichkeit durch schiefe „Dutch Angle“-Einstellungen, da interveniert der Text in die bestehende Ordnung, wenn beim Betrachten des gebauten Betons in Nürnberg prägnant vermerkt wird: „Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einer ehemaligen SS-Kaserne, Gegenwart.“

Die Würde der Hinterbliebenen

Aysun Bademsoy streift solchen Essayismus in den Interludes des Bahnfahrens, die deutsche Landschaften zeigen, wenn sie von den „Dämonen“ spricht, die in der medialen Begleitung der NSU-Serie von den Opfern lange Zeit selbst mit ins Land gebracht worden sein sollen. Sonst schließt „Spuren“ eher an „Der Kuaför aus der Keupstraße“ von Andreas Maus an, ein Film, der – wenngleich mit ganz anderer, konventionellerer Bildwucht – den Hinterbliebenen Würde zurückgeben wollte. Bademsoy agiert zurückhaltender. Die Konzentration, mit der sie Osman Tasköprü, Gamze und Elif Kubasik sowie Semiya und Adile Simsek übers Weiterleben erzählen lässt, erinnert an die Genauigkeit, mit der Jasper Kettner und Ibrahim Arslan für den Fotoband „Die Angehörigen“ die Geschichten und Bilder von Opfern rechter Gewalt in Deutschland dokumentiert haben.

Daraus entstehen vermutlich noch nicht die Bilder, die den Schutzschild der Verdrängung in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft durchbrechen. Aber wer aufmerksam schaut, kann hier etwas an sich ranlassen. Mit welchem Respekt etwa in der Mitte des Films eine kurze Gedenkzeremonie zu Ehren Mehmet Kubasiks von der anderen Straßenseite gefilmt wird, das bringt auf ein Bild, wie unbewältigt ist, was vor über 15 Jahren geschah (im fsk und im Lichtblick).

Matthias Dell

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