Jugendfußball in Berlin: Aus der Tiefe des Traumes
Berlin ist die Stadt des deutschen Fußballnachwuchses. Mit jeder WM wächst die Zahl der Kinder, die Profis werden wollen. Doch nirgendwo liegen Hoffnung und Enttäuschung so nah beieinander.
An diese Szene vor drei Jahren erinnert sich Emil ganz genau: Er liegt auf seinem Hochbett. Der Vater sagt zu ihm, er müsse noch die Fußballsachen von seiner alten Mannschaft zusammensuchen – und abgeben. Die verschiedenen Trikots in rot und blau, den Trainingsanzug, den Präsentationsanzug und sogar die dicke Winterjacke und den Ball mit seiner Nummer. Nur die Mütze mit dem Emblem seines Klubs darf er behalten. Da erst realisiert er, was passiert ist: Sein Traum ist geplatzt.
Zwei Wochen vorher wird er aus seiner Leistungsmannschaft aussortiert. Muss Platz machen für andere, neue, bessere Spieler. Der Trainer hält ihn für „zu zweikampfschwach“. Er ist 11. Seit seinem fünften Lebensjahr hat er mit den meisten Jungs in diesem Team gekickt. Dann ist es vorbei.
Oben auf dem Hochbett bricht er erstmals seit dieser Entscheidung in Tränen aus. Seine Mutter und sein Vater sitzen tröstend neben ihm, unten steht sein kleiner Bruder, der noch gar nicht versteht, worum es geht, der aber selbst Fußball spielt. Emil sagt zu seinen Eltern: „Ich habe doch noch gar nichts erreicht.“
Heute ist Emil 13 Jahre alt, er ist 1,74 groß, hat Schuhgröße 44, seine Schultern sind schon breit wie bei einem Erwachsenen, dabei hat er noch Pubertätspickel im freundlichen Gesicht. Er erzählt diese Geschichte von Hoffnungen und Enttäuschungen am Rande eines Trainingsplatzes tief im Osten Berlins. Auf dem Platz kickt sein jüngerer Bruder Lenny, und Emil hofft, dass ihm an diesem sonnigen Tag im Mai nicht das passiert, was ihm widerfahren ist.
Berlin ist die Stadt des deutschen Fußballnachwuchses. Nirgendwo drängen sich so viele Vereine und Spieler auf engstem Raum wie hier. Nirgendwo sind die Träume so verdichtet und die Konkurrenz so groß wie in der Hauptstadt. Aber wie in jedem Jahr platzen jetzt, wo die aktuelle Saison langsam ausläuft und für die neue Spielzeit geplant wird, tausende Träume von Kindern und Jugendlichen. Es sind letztlich die gleichen Träume, die auch ein Sandro Wagner träumte, der gerade aus dem Kader der deutschen Nationalmannschaft für die WM in Russland geflogen ist. Seine Reaktion: Rücktritt aus der Nationalmannschaft.
105 Profis stammten 2017 aus Berlin
In der zu Ende gehenden Saison spielten rund 2000 Jungen- und Mädchenmannschaften in der Stadt, das sind 53 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Der Berliner Fußball-Verband (BFV) registriert jedes Jahr mehr Spieler, mehr Teams. Der Fernsehsender RBB hat herausgefunden, dass im Jahr 2017 insgesamt 105 Profis aus Berlin oder Brandenburg stammten. Davon spielten 15 in der Bundesliga, 17 in der zweiten und 46 in der dritten Liga. Der Rest spielte im Ausland.
An diesem Tag im Mai ist Emil ausnahmsweise und seinem Bruder zuliebe zusammen mit seinem Vater und seiner Mutter auf den Sportplatz in Köpenick gekommen. Sie wollen Lenny beistehen. Der Bruder ist jetzt neun, auch er spielt seit vier Jahren Fußball in einem bekannten Berliner Verein. Sein Trainer wird gleich den Eltern und Spielern eröffnen, welches Kind in der nächsten Saison weiterhin zum Leistungskader gehört und in die E-Jugend darf.
Leistungsmannschaften sind Teams, in die es nur die besten Kinder eines Jahrgangs schaffen. Vereine, deren Männermannschaften in der ersten oder zweiten Bundesliga spielen, haben in der Jugendabteilung meist ausschließlich Leistungsteams, das bedeutet, dass es keine unteren Mannschaften in den jeweiligen Jahrgängen gibt. Wer also hier rausfliegt, ist ganz raus. Bei Emil und Lenny ist das anders, in ihrem Verein gibt es Breiten- und Leistungssport – es gibt schlechtere Mannschaften, in die man wechseln kann.
Auf dem Kunstrasen findet gerade das Abschlussspiel des heutigen Trainings statt, der Coach ruft jeweils eines der Kinder vom Platz herunter und bittet es mit den Eltern in die Kabine. Hinter verschlossenen Türen wird gesprochen, während sich die anderen Eltern vor der Kabine herumdrücken. Die Stimmung ist angespannt. Plötzlich wird es laut, dann geht die Tür auf, eine Mutter rennt wütend heraus, der Vater hinterher, der Trainer versucht zu beschwichtigen. Erfolglos. Vater und Mutter verlassen mit ihrem völlig verwirrten Kind das Gelände. Noch ein schneller Händedruck mit den anderen Eltern, die leicht verschämt dreinblicken. Dann ist die Familie verschwunden. Als nächstes ist Lenny dran.
Seine Familie, Emil und die Eltern, alle mögen Sport. Die Mutter ist als Kind geschwommen, später Triathletin gewesen, der Vater hat Fußball gespielt, aber für den Sprung in den Leistungssport hat es nie gereicht. Der Vater hat den Söhnen über sich erzählt, dass er zu faul gewesen sei und nicht ehrgeizig genug. Die haben gegrinst.
„Der weiß genau, um was es geht“
Lenny geht mit seinen Eltern hinein, Emil wartet draußen. Er hat sich vorher mit seinem kleinen Bruder unterhalten, wollte ihm Mut machen, hat ihm erklärt, dass er die Dinge nicht zu persönlich nehmen dürfe, falls er nun aussortiert würde. Aber der Bruder hat ihn nur mit großen braunen Augen angeschaut. Emil sagt: „Der weiß genau, um was es geht.“
Geplatzte Träume, zerstörte Hoffnungen gehören zum Leistungssport dazu wie Ehrgeiz, Wille und Fokussierung. Kein Geiger, keine Balletttänzerin, keine Schwimmerin kommt ohne diese Eigenschaften aus. Doch im Fußball, diesem Volkssport Nummer eins, sind die Träume immer noch ein Stück größer und schöner, weil die Deutschen diesen Sport so lieben, weil viele ihm verfallen sind wie einer Droge. Dementsprechend groß ist die Enttäuschung, sind oft auch die psychischen Folgen, wenn die Illusion erlischt.
Die nahende Fußball-Weltmeisterschaft wird wieder einmal als mächtiger Katalysator wirken. Noch mehr Kinder werden in die Vereine drängen. Kinder, die mit glücklichen Augen das viel zu große Trikot ihres Lieblingsklubs überziehen, um endlich dem Ball nachjagen zu dürfen. Viele Berliner Vereine haben längst ihre Grenzen erreicht und können keine Kinder mehr aufnehmen. Es fehlen Betreuer, Trainer und Plätze.
Einer, der diese Situation besonders gut beurteilen kann, sitzt am anderen Ende der Stadt in seinem Klubhaus und wirkt sehr nachdenklich. Christian Broßmann ist seit vielen Jahren als Jugendleiter von Hertha 03 Zehlendorf bestens vertraut mit Träumen und Albträumen. Er sagt: „Alle diese Kinder haben den Traum, irgendwann mal Profi zu sein oder bei einer WM zu spielen. Das ist ja ganz normal.“
Hertha Zehlendorf gilt wegen seiner guten Jugendarbeit als „Ausbildungsverein“ für andere Klubs, die höherklassig spielen. Broßmann kennt also die Realität hinter dem schönen Schein und sagt: „Der Druck auf die Kinder im Leistungsbereich wird immer größer und die Ansprüche immer höher. Das liegt aber vor allem an den Eltern.“ Dann räuspert er sich und fügt hinzu: „Vor allem liegt es an den Vätern.“
Entweder man funktioniert - oder nicht
Hertha 03 Zehlendorf wird in der kommenden Saison 2018/19 mit insgesamt 32 Mannschaften im Kleinfeldbereich antreten, da spielen Kinder von viereinhalb bis zwölf Jahren, und 15 Großfeldmannschaften von der C-Jugend bis zur A-Jugend. Hinzu kommen sechs Mädchenteams. Im Moment warten rund 350 Kinder darauf, von den „Knöpfen“ in eine reguläre Mannschaft von Hertha 03 wechseln zu können. Die „Knöpfe“ laufen außerhalb des normalen Spielbetriebs des Verbandes, sie trainieren nur aus Spaß und in der Hoffnung, entdeckt zu werden, also offiziell in den Klub aufgenommen zu werden.
Die Leistungsmannschaften von Hertha 03 Zehlendorf wiederum sind nicht nur innerhalb der Stadt begehrt, sondern auch im Umland. Denn wer es bei Hertha 03 Zehlendorf schafft – ähnliches gilt für Tennis Borussia, FC Viktoria 89 Lichterfelde, Reinickendorfer Füchse oder den BFC Dynamo – hat die Chance, von Klubs abgeworben zu werden, die im Männerbereich höherklassig spielen. Die ersten Adressen in Berlin sind die Bundesligaklubs Hertha BSC und Union Berlin.
Broßmann sagt, er habe jeden Tag Anrufe aus Brandenburg von Vätern, die ihre Söhne nach Zehlendorf bringen wollen, weil sie hoffen, dass sie dort entdeckt werden. Manche nehmen ihre Kinder schon im zweiten Jahr wieder heraus, um sie woanders unterzubringen, weil sie meinen, dass das Talent des Sohnes nicht gewürdigt wurde.
Emil kennt aus seinem Jahrgang viele dieser Fälle. Ein Vater, mit dessen Sohn er spielte, habe diesen innerhalb der ersten sechs Jahre in fünf verschiedenen Vereinen angemeldet. Der Junge war talentiert, aber anstatt die Technik zu verfeinern wie sauberes Passen oder Stoppen, habe der Vater den Jungen für Tore mit Geld belohnt, ihm beigebracht, wie man ein Foul vortäuscht.
Emils Mutter und seine Oma hätten sich viel mehr gewünscht, dass er das Schwimmen für sich entdeckt, denn, das sagt die Oma, die Schwimmlehrerin im Leistungsbereich war, „er hat eine super Wasserlage und eine tolle Technik“. Er mag lieber Basketball, er spielt auch gerne Tennis und sogar ganz gut Golf. Aber eigentlich wollte er schon als Kleinkind immer nur kicken. Wenn der Vater Sportschau guckte, stand Emil vor dem Fernseher und brüllte „Tor, Tor, Tor“ – auch wenn gar keines gefallen war. Mit viereinhalb Jahren durfte der Sohn endlich in dem Klub in Köpenick seinen Traum ausleben.
Dort erzählt er nun, viele Jahre später vor der Kabine, in der sein Bruder Lenny mit dem Trainer verschwunden ist, von den Dingen, die ihn zermürbt haben. Er sagt: „Der neue Trainer hat mich im ersten Jahr fast immer spielen lassen, im zweiten plötzlich nicht mehr. Aber er hat nie mit mir darüber geredet.“ Entweder man habe funktioniert oder eben nicht. Empathie und soziale Kompetenzen sind im Kinder- und Jugendfußball erforderlich, aber selten.
Viele Väter sehen sich im eigenen Sohn
Damals ist Emil, der eher klein und schmächtig war, innerhalb von eineinhalb Jahren fast 17 Zentimeter gewachsen. Das hatte zur Folge, dass er nicht stabil stand. Auf dem Platz war Härte nie seine Stärke, er war technisch gut, spielte kluge Pässe, sah Räume und Mitspieler. Aber wenn ihn jemand anrempelte, fiel er hin.
Ständig hatte er Wachstumsschmerzen in den Knien oder den Schienbeinen und nachts Nasenbluten. In der Schule gab es Druck, weil entschieden werden musste, auf welche weiterführende Schule er gehen würde. Er hatte eine Wunschschule, wusste aber nicht, ob er das auch noch schaffen kann.
Und dann war da noch der Vater. Der war beim Fußball immer präsent, um ihn zu unterstützen. Der Sohn verband mit der Anwesenheit des Vaters eine Erwartungshaltung, der er gerecht werden wollte – aber irgendwann nicht mehr konnte.
Er sagt: „Ich habe mich immer unsicherer gefühlt. Auf dem Platz war ich ängstlich. Aber ich wollte nicht darüber sprechen.“ Es gab Turniere, da stolperte Emil über seine eigenen, plötzlich langen Beine, spielte, als hätte er noch nie einen Ball berührt. Auf der Tribüne saßen die Eltern, unten verdrehte der Trainer die Augen.
Christian Broßmann kennt eigentlich alle diese Vätergeschichten, er ist selbst Vater von zwei Kindern, die im Leistungssport gelandet sind. Er sagt: „Man muss sehr aufpassen, dass man die Sorgen und Ängste des eigenen Kindes nicht aus den Augen verliert.“
Viele Väter sehen sich im eigenen Sohn, hoffen, dass der schafft, was sie selbst nie konnten. Sie wollen nicht wahrhaben, dass ihre Kinder überfordert sind. Emil war erleichtert, als er mit seinen Eltern oben auf dem Hochbett, als die Tränen plötzlich bei allen flossen, reden konnte. Sie machten ihm klar, dass er großartig ist, egal, ob er in einer Mannschaft spielt oder mit Freunden bolzt.
Aber es gibt viele andere Väter, die das nicht so sehen. Man muss bei Spielen oder Turnieren nur die Augen schließen. Es wird gebrüllt, gerufen, kritisiert, als gehe es um Leben und Tod. Ein anderer Jugendtrainer schildert eine Szene, die er nie vergessen wird: Beim Abschlussspiel eines Sichtungstrainings für die neue Saison rücken die Eltern immer näher heran. Es wird laut wie bei einem Boxkampf. Da brüllt ein Vater seinen Sohn an: „Du weißt wohl nicht, worum es hier geht!“
Ab der E-Jugend geht es los
Es gibt Väter, die zwingen die Söhne zu einem Extratraining oder sie strafen sie mit Nichtbeachtung. Sie geben ihnen das Gefühl, nichts wert zu sein, wenn sie nicht die erhoffte Leistung bringen. Diese Situationen, sagt Christian Broßmann, seien keine Ausnahme im Berliner Jugendfußball, sondern die Regel. Einigen dieser Väter hat Broßmann Platzverbot erteilt, die Leidtragenden aber seien immer die Kinder.
Eines Tages stand für Emil das Sichtungstraining für die sogenannten DFB-Stützpunkte an. Der Fußball-Verband hat in Deutschland rund 400 solcher Stützpunkte. Allein in Berlin sind es sechs. Um zu verstehen, wie sehr sich Ausbildung und Sichtung in Deutschland revolutioniert haben, muss man ins Jahr 2000 zurückblicken. Deutschland flog damals unter Trainer Erich Ribbeck („Konzepte sind Kokolores“) bei der EM in der Vorrunde raus, der Höhepunkt deutschen Rumpelfußballs war erreicht. Das Aus führte zu einer radikalen Neuordnung, die mit dem WM-Titel 2014 ihren größten Erfolg feierte. Der deutsche Fußball ließ Akademien im Profibereich einrichten und baute die Leistungsstützpunkte aus. Zurzeit arbeiten rund 40 Verbandstrainer an knapp 400 Stützpunkten daran, die besten Spieler ihrer Jahrgänge ausfindig zu machen.
Ab der E-Jugend geht es los. Die Stützpunkt-Koordinatoren veranstalten regelmäßig Sichtungsturniere. Die Stärken und Profile der Kinder werden aufgezeichnet und in Datenbanken eingegeben.
Als Emil mit seinem Team zu einem Stützpunktturnier in Reinickendorf fuhr, wusste er nicht, welche Enttäuschung ihn erwarten würde. Mehrere Teams spielten gegeneinander, Emil versuchte als Verteidiger, seine Position zu halten und das Aufbauspiel seiner Mannschaft zu beruhigen. Doch alle wollten glänzen, vorne Tore machen. „Ich war so lala“, sagt Emil heute und lacht.
Dann sieht er sich wieder im Kreis mit allen anderen Jungs sitzen, vor ihnen die Trainer, die jeden, der es in den Stützpunkt geschafft hat, namentlich aufrufen. Dahinter die Eltern. Aus Emils Mannschaft fallen viele Namen, seiner nicht. Er kämpft mit den Tränen, sieht, wie die anderen sich freuen. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht, der Wut und des Zweifels, ein Augenblick jedenfalls, den er bis heute nicht vergessen hat. Er fühlte sich als Versager.
Aber nicht nur in den Stützpunkten wird nach Talenten gefahndet, sondern auch in den Leistungszentren und Akademien, zu deren Gründung der DFB 2001 alle Profiklubs verpflichtete. Ohne Akademie keine Lizenz. Regelmäßig kommt im Auftrag des DFB eine belgische Firma namens „Double Pass“ und zertifiziert die Leistungszentren. Immer mehr Vereine schließen sich diesem Zertifizierungsverfahren auch außerhalb der Profiklubs an. Es geht um Wertschöpfung. Wer Talente ausbildet, kann mit ihnen auch Geld verdienen.
Der Druck wurde stärker - und er oft krank
Christian Broßmann sieht seit Jahren, welche Folgen diese Entwicklung hat. Die Konkurrenz zwischen den Zentren ist enorm, früher, sagt Broßmann, habe man in der C-Jugend angefangen zu suchen, heute wird schon bis in die F-Jugend herunter gescoutet. Die Talentspäher sind in Vereinen angestellt oder arbeiten selbstständig. Und es sind viele, denn die Akademien müssen gefüllt werden. Da kommen dann nicht nur die besten Talente, sondern vor allem viele Talente in Frage. Die Folge: In jedem Jahr werden etliche Kinder wieder fortgeschickt. Broßmann sagt: „Viele Eltern glauben, wenn ihr Kind im Leistungszentrum ist, dann ist es geschafft. Aber das ist Unsinn.“ Er erinnert sich an einen Spieler, der mit 13 von einem Berliner Verein nach Leipzig ging und nur ein Jahr später wieder da war. Sie hatten 15 von 22 Spielern aussortiert.
Berlin fällt in diesem Scoutingroulette eine Schlüsselrolle zu. Nach Berlin kommen die Scouts aller Bundesliga-Vereine, um mit Eltern ins Gespräch zu kommen und sie zu überreden, möglichst früh zu wechseln. RB Leipzig, Wolfsburg, Hannover und andere sind – zum Ärger von Hertha BSC und Union Berlin – auf den Jugendplätzen präsent. Es ist deshalb kein Zufall, dass Hertha BSC mit Hertha 03 Zehlendorf eine Kooperation eingegangen ist, um die Talente an sich zu binden. Den Spielern, die es in den Leistungskadern des Bundesliga-Klubs nicht schaffen, wird wiederum empfohlen, zunächst zu Hertha 03 zu gehen, um dort einen neuen Anlauf zu nehmen.
Das DFB-Stützpunktturnier erschüttert zum ersten Mal Emils Selbstbewusstsein. Bis dahin war er sicher, er werde das schon schaffen. Aber nun keimten die Zweifel. Danach veränderte sich auch seine Stellung in der Mannschaft. Er gehörte jetzt zu denen, die hinten dran waren, andere Spieler registrierten genau, dass der Trainer sich mit diesen Kindern weniger beschäftigte. Er wurde immer seltener zu wichtigen Spielen oder Turnieren eingeladen, war oft krank und verletzungsanfällig. Der Druck wurde immer stärker.
Am Tag, nachdem Emil, Vater und Mutter auf dem Hochbett gesessen und sich alle ausgeweint hatten, spürte er eine „unglaubliche Erleichterung“. Er fühlte sich „so wohl und befreit“ wie lange nicht mehr. Es war komisch: Die Frage, ob er in der Schule gut genug sei, um auf seine Wunschschule zu wechseln, beantwortete sich wie von selbst. Er wusste wieder, was er wollte und was er konnte.
Emil ist nach der Schule zu seinem Vater gegangen und hat ihn gebeten, ihn bei der zweiten Mannschaft anzumelden. Die Eltern merkten, wie sich ihr Kind von einem Tag auf den anderen veränderte. Er war lockerer. Er lachte wieder.
Er hat wieder Spaß am Fußball
Emil hätte auch den Verein wechseln können, so, wie es Hunderte von anderen Kindern und Jugendlichen jedes Jahr tun. Er hätte in einer anderen Leistungsmannschaft spielen und darauf hoffen können, am Ende doch noch seinen Traum zu verwirklichen. Aber er wollte in seinem Verein bleiben. Er fährt mit dem Fahrrad dorthin, er hat Freunde dort – und er hat wieder Spaß am Fußball. Irgendwann, sagt er, würde er gerne eine Kindermannschaft trainieren.
Die Revolution der Talentfindung hat zu einem Drama von Druck und Auslese geführt. Wer Teil einer Berliner Leistungsmannschaft ist, egal, in welchem Verein, der muss damit leben. Emil sagt über seinen fünf Jahre jüngeren Bruder Lenny: „Als ich so alt war, haben wir noch völlig anders trainiert. Heute sind die Jungs schon so viel weiter.“ Druck und Erwartung steigen in gleichem Maße.
Die Neunjährigen trainieren dreimal in der Woche, am Wochenende spielen sie oft an beiden Tagen. Lennys Mannschaft geht ins Schnelligkeitszentrum, um an der Beweglichkeit zu arbeiten, es wird ein zusätzliches Karatetraining angeboten, um die Körperkoordination zu schulen. Spielt Lennys Leistungsmannschaft im Training gegen zwei Jahre ältere Teams, die keine Leistungsmannschaften sind, gewinnen sie, weil sie mehr laufen, technisch besser und taktisch geschulter sind.
Emil sagt: „Noch ein Jahr, dann macht er mich nass.“ Wenn er ehrlich ist, dann tut es manchmal auch weh, den Bruder zu sehen und zu denken, ich hätte das auch schaffen können. Aber meistens überwiegt der Gedanke, „jetzt habe ich wirklich Spaß und mache nur das, was ich will.“ Er ist jetzt körperlich der Größte in seiner zweiten Mannschaft und ihr Kapitän. Aber das, was sich am besten anfühle, sei, dass „wir ein echtes Team sind“.
Im Leistungssport dagegen muss sich jeder auch der Nächste sein. Und so ist der Fußball an dieser Stelle wie ein sich endlos drehendes Wasserrad, das unaufhörlich neue Spieler schöpft, bessere Spieler, stärkere, schnellere.
Da geht die Tür auf. Lenny kommt mit Vater und Mutter aus der Kabine. Alle lachen. Es ist also geschafft: Lenny wird im nächsten Jahr wieder in der Leistungsmannschaft spielen. In zwölf Monaten wird erneut ausgesiebt.