Missbrauchskandal: Aus der Bahn geworfen
Bei der Parkeisenbahn im Berliner Freizeitpark Wuhlheide dürfen Kinder und Jugendliche Schaffner oder Fahrdienstleiter sein. Erwachsene bringen ihnen die Regeln bei – aber manche von ihnen haben dabei auch Gesetze gebrochen.
Das E43 ist ein Ort für Eingeweihte, ein kleines Traumhaus für Liebhaber der Bahntechnik. Es ist das elektromechanische Stellwerk, Baujahr 1943, am Rande der Wuhlheide versteckt. Auf der Ablage am Fenster steht eine Fernsprechanlage mit eingebauter Kurbel und Ortsbatterie zum Sprechen. Das E43 ist ein mannshoher grüner Kasten mit Lämpchen und Knöpfen in einem hässlichen Betonbau, außen mit Graffiti beschmiert, innen kalt und ungemütlich eng. Wer hier rein darf, lernt etwas über das Prinzip der technischen Sicherheit im Bahnbetrieb. Und trägt hohe Verantwortung. Es ist ein Privileg. Minderjährige dürfen hier nur auf Anweisung Erwachsener arbeiten.
Das E43 gehört zu den abgelegenen Orten auf dem Gelände der Parkeisenbahn, an denen Kinder oder Jugendliche sehr wahrscheinlich sexuell missbraucht oder belästigt worden sind.
Noch ist unklar, wie groß das Ausmaß von sexuellem Missbrauch bei der Parkeisenbahn im Berliner Bezirk Köpenick wirklich ist. Bisher sind zwei ehemalige Mitarbeiter überführt und zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Beide Männer haben insgesamt mehr als 50 Übergriffe auf Kinder und Jugendliche gestanden. Gegen sieben weitere Beschuldigte, von denen einer nicht zur Parkeisenbahn gehört, laufen Ermittlungsverfahren.
Ernst Heumann, 60, schließt die Tür zum Stellwerk ab. Davor ziehen die schmalen Gleise, 600 Millimeter breit, einsam ihre 7,5 Kilometer lange Spur durch die Wuhlheide. Der Eisenbahnbetrieb ruht jetzt. Saisonbedingt. Nicht wegen des Missbrauchsskandals. Im Wald stopfen Auszubildende der Berliner Verkehrsbetriebe Löcher am Gleisbett.
Heumann ist Geschäftsführer der Schmalspurbahn, ein groß gewachsener Herr mit wenig Haaren. Der Pensionär und ehemalige Mitarbeiter der Deutschen Bahn, EDV-Abteilung, macht einen gelassenen Eindruck, er redet ruhig und überlegt lange, man sieht ihm nicht an, dass er unter enormem Druck steht. Die Gemeinnützigkeit des Vereins "Parkeisenbahn Wuhlheide" steht auf dem Spiel und damit die Zukunft der Bahn. Er selbst, sagt Heumann, sei sauber. Aber für keinen der verbliebenen Mitarbeiter würde er nun noch bürgen.
Heumann kommt aus dem Rheinland, er ist eine Frohnatur, aber im Gespräch wird schnell klar, dass er selbst nicht mehr weiß, was er denken soll. Er hat sich sein Rentnerdasein und diese ehrenamtliche Tätigkeit anders vorgestellt.
Seit 1991 engagiert Heumann sich für die Schmalspurbahn, die 1956 nach sowjetischem Vorbild gebaut worden war. Sie war damals die sechste Pioniereisenbahn der DDR. Nach der Wende blieb sie populär. Bis zu 60 000 Besucher kommen im Jahr vorbei und lassen sich durch die Wuhlheide fahren. Einen großen Teil des Betriebsablaufs gewährleisten, wie zu DDR-Zeiten, Kinder und Jugendliche mit alten Uniformen aus dem Reichsbahnbestand. Die Neun- bis Elfjährigen von ihnen stellen die Schaffner und Schrankwärter, ab zwölf wird man Aufsicht oder Zugführer, ab 15 Fahrdienstleiter und ab 18 Lokführer oder Rangierleiter.
Heumann spricht von einem „eher militärischen System“. Es werde auf Anweisung gehandelt. Viele, die hier als Kinder anfangen, bleiben, bis sie volljährig sind, und lernen Dinge, die für den Wagenmeister oder den Fernmeldetechniker wichtig sind. Rund 180 Kinder und Erwachsene gehören heute zu der Schmalspurbahn, fast alle sind Jungen und Männer. Vor der Wende, sagt Heumann, habe es noch viel mehr Mädchen gegeben, aber jetzt nicht mehr. Er weiß nicht, warum.
Heumann läuft zurück in die Geschäftsstelle, einem Flachbau aus roten Ziegeln, die an den Fenstern mit gelben Gittern und Sonnensymbolen verziert sind. Drinnen ist es karg und unaufgeräumt, Kaffeebecher und leere Getränkekisten stehen herum. Heumann sagt: „Wir haben jetzt wirklich alles getan, um in Zukunft gerüstet zu sein, wir wollen, dass das nie wieder passiert.“ Aber es ist passiert.
Noch schweigen viele Opfer, vermutlich aus Scham, aus Angst und aus Solidarität mit ihrer geliebten Parkeisenbahn. Nachdem die Dinge im Spätsommer 2010 ihren Lauf nahmen, als plötzlich die Ermittler des Landeskriminalamts vor der Tür standen, ist die heile Welt der Wuhlheide nicht mehr, wie sie war. Die Opfer sind fast ausschließlich Mitarbeiter der Bahn, sie waren Kinder oder Jugendliche, als es geschah. Es gibt auch Stimmen, die sagen, aus manchen Opfern seien Täter geworden. Die Geschädigten und die anderen Mitarbeiter haben inzwischen begonnen, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Sie haben sich Hilfe geholt von Pädagogen und einem Verein, der auf sexuelle Prävention spezialisiert ist, und sie haben viele Gespräche geführt. Diese Gespräche sind auch Aufarbeitungsdramen, Ängste mussten überwunden und alte Abhängigkeitsverhältnisse seelisch durchbrochen werden.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der Skandal ans Licht kam.
Eine dieser Aufarbeitungsgeschichten der betroffenen Mitarbeiter geht so: Fünf Ausbilder und Stationsvorsteher fahren auf ein Wochenendseminar. Sie übernachten in einem Zimmer, aber einer kann nicht schlafen. Er wälzt sich herum, die anderen sind genervt und fragen, was los sei. Er antwortet: „Ich kann nicht schlafen, ich habe Angst, dass einer kommt, der Sex mit mir will.“
Die anderen, heute alle Anfang bis Mitte 20, reagieren anders als der Mann gedacht hat, sie sind nicht geschockt, denn sie haben alle das Gleiche erlebt. Alle sind unabhängig voneinander sexuell missbraucht worden.
Die sechs weiteren Verdächtigen aus der Parkeisenbahn, gegen die die Staatsanwaltschaft ermittelt, sind nach Angaben Heumanns kurz nach der Wende in die Wuhlheide gekommen. Für die Justiz ist noch nicht geklärt, wie weit die Taten zurückgehen, bisher konzentrierte sich alles auf die Jahre zwischen 2000 bis 2010. Da die Tatverdächtigen bisher nicht reden würden, sei es für die Staatsanwälte schwer, herauszufinden, ob systematisch missbraucht worden sei und wie lange dieser Missbrauch schon andauert.
Aber es gab auch schon in den 90er Jahren Vorfälle von sexueller Belästigung oder sexuellen Missbrauchsversuchen, die allerdings nicht zur Anzeige kamen. Heumann selbst spricht von zwei bis drei Fällen, „kleinere Sachen“, wie er sagt, in denen man sich schnell von den Mitarbeitern getrennt habe. Einmal ging es ums Anfassen und Begrabschen eines Jungen, ein anderes Mal wurde einer der Mitarbeiter nackt in einem Raum gesehen, dann soll im nahe gelegenen Schwimmbad ein Kind von einem Eisenbahner sexuell belästigt worden sein.
Neben den Gebäudekomplexen auf dem riesigen Gelände, in denen Mitarbeiter an Wochenenden oder in den Ferien ungestört mit ihren potenziellen Opfern zusammen sein konnten, boten nach Angaben Heumanns vor allem die Ferienfahrten und Ausflüge Gelegenheit für sexuelle Übergriffe auf die Schutzbefohlenen. 2007 kam es zu einem solchen Übergriff auf einen Jungen, die Mutter beschwerte sich, Heumann bat den Mitarbeiter um eine Stellungnahme. Aber die reichte ihm nicht, er entließ den Mann und suchte nach eigenen Worten erstmals in der Geschichte des Vereins nach der Wende einen pädagogischen Mitarbeiter. Als im Sommer 2010 die Männer vom Landeskriminalamt auftauchten, gehörte dann aber dieser Mitarbeiter zum Entsetzen Heumanns zu den Beschuldigten.
Der Freizeitpark Wuhlheide mit seinen Grünanlagen, den Spielplätzen und der Schmalspureisenbahn ist nicht nur grüne Oase am Rande der Großstadt, er ist seit Jahrzehnten ein Anziehungspunkt für die Menschen, die hier wohnen. Genau genommen ist die Parkeisenbahn wie das gesamte Freizeit- und Erholungszentrum und die Entwicklung der Wuhlheide an sich eine großartige Erfolgsgeschichte. Schon 1921 kaufte das Land Berlin das 525 Hektar große Areal in Köpenick und gründete die Stiftung „Park. Spiel und Sport“. 1952 war die Arbeitsgemeinschaft „Junge Eisenbahner“ die Keimzelle für den späteren Bau der Pioniereisenbahn. Viele Jungen, die hierher kommen, stammen aus sozial schwachen oder, wie es ein Pädagoge ausdrückt, der dort gearbeitet hat, aus „emotional schwierigen Verhältnissen“. Oftmals fehlt ein Elternteil als Bezugsperson, meist ist es der Vater. Die Faszination der Anlage gepaart mit dem hierarchischen Aufbau ist aus Sicht des Pädagogen ein geradezu „idealtypischer Ort für pädophile Neigungen“.
"Man kann auch von einer Kultur oder Tradition des Missbrauchs sprechen", sagt der Experte. Lesen Sie weiter auf Seite drei.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass zu den mutmaßlichen und überführten Tätern leitende Angestellte gehören. Alle Täter waren in der Lage, sich aufgrund ihrer Stellung ungefragt und unkontrolliert an ruhige Orte, wie etwa zu den Stellwerken oder in die Ausbildungsstätten, zurückzuziehen, um sich dort Kinder, die zu ihnen aufschauten und für die sie „Vorbilder und Freunde“ waren, wie Heumann sagt, gefügig zu machen.
Wolfgang Werner kennt sich in diesen Systemen von Belohnung und Hierarchie aus. Seit Jahren arbeitet der Diplom-Pädagoge in der Prävention von sexueller Gewalt gegen Jungen und gehört zu den Gründern des Vereins „Hilfe-für-Jungs“.
Werner, 52, begleitet seit dem Winter 2010 die Aufarbeitungs- und Präventionsarbeit der Parkeisenbahn. Er sagt: „Die Parkeisenbahn war lange Zeit eine Einrichtung, bei der sich Mitarbeiter ohne Kontrolle bestimmte Freiräume schaffen konnten, deshalb mussten die Täter keine Angst haben aufzufliegen. Man kann auch von einer Kultur oder Tradition des Missbrauchs sprechen.“
Laut Werner haben die Parkeisenbahn und ihr Geschäftsführer alle Präventionsmaßnahmen und Schulungen konsequent und glaubwürdig verfolgt. Es gibt nun ein sexualpädagogisches Konzept, es gibt feste Ansprechpartner, jeder Mitarbeiter hat ein polizeiliches Führungszeugnis, und es gibt überhaupt ein Bewusstsein für die Gefahren und die Verantwortung gegenüber Kindern.
Der Verein hat damit Glaubwürdigkeit zurückgewonnen, aber die Vergangenheit ist mit diesen Maßnahmen noch längst nicht erledigt. Im Gegenteil, bisher weiß man wenig über die Opfer, die zum großen Teil alle jugendliche Mitarbeiter waren. Oder Kinder. Und so spricht Werner von einer „traumatisierten Institution“, der auch geholfen werden müsse. Was Werner meint, ist an der Person des gelernten Bauingenieurs Ernst Heumann abzulesen. Er kümmert sich um die Aufklärung, gleichzeitig hat er Angst davor, dass ein Lebenswerk zerbricht.
Heumann sitzt nun wieder an seinem Schreibtisch im Zimmer des Betriebsleiters und versucht, seine Leidenschaft für die Bahn zu erklären. Aber er kann es nicht in Worte fassen. Er war ein kleiner Junge, als die Bahn in den 50er, 60er Jahren noch ihren „Pfiff-Klub“ hatte, der Interessierte für die Bahn und ihre Technik begeistern sollte. Heutzutage, sagt Heumann bitter, habe die Bahn nur ihren Profit im Kopf.
Als die Wende kam, engagierte Heumann sich schon lange für die Dampf-Kleinbahn Mühlenstroth bei Gütersloh, die in den 80er Jahren Wagenkästen der Pioniereisenbahn über die „Kunst und Antiquitäten GmbH“ des damaligen DDR-Devisenhändlers Alexander Schalck-Golodkowski kaufte – und heute einer der Gesellschafter der Parkeisenbahn ist, wofür Heumann sich 1991 persönlich und nach eigenen Angaben auch finanziell eingesetzt hat. Das war der Beginn seiner ehrenamtlichen Tätigkeit in Berlin. Er hatte sich damals indirekt einen Kindheitstraum erfüllt: eine eigene Eisenbahn.
Vor der Wende hatte der Betrieb mehr als 30 hauptamtliche Mitarbeiter, danach waren es sehr bald nur noch drei. Heumann und die anderen haben hier etwas geschaffen, was ihr Leben ausfüllt. Der Skandal hat Heumann nun in eine Art Trancezustand versetzt. Er ist höflich, er versucht, alle Fragen zu beantworten, aber manchmal hört er die Fragen gar nicht mehr, sondern sagt einen Satz, der sehr hilflos klingt: „Wir hatten doch nie was mit Pädagogik zu tun.“ Er guckt verlegen. Es könne sein, dass da noch vieles hochkomme.
Armin Lehmann