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Mehr als zehn Jahre nach Georgines Verschwinden suchten Ermittler Spuren im Wald bei Brieselang (Oberhavel).
© Bernd Settnik/dpa
Update

Mord ohne Leiche: Auf der Suche nach Antworten im Fall Georgine Krüger

Im September 2006 verschwand in Moabit die damals 14-jährige Georgine Krüger. Nun hat der Prozess gegen ihren mutmaßlichen Mörder Ali K begonnen.

Sie wäre heute 27 Jahre alt. Sie hätte Schauspielerin werden können. Davon hat sie geträumt, damals im Jahr 2006, wie viele andere Teenager auch. Sie könnte jetzt auch Kindergärtnerin sein, Polizistin, Sozialarbeiterin. Die Welt stand ihr offen. Doch Georgine Krüger ist tot. Zumindest nehmen das die Ermittler an. Vergewaltigt und getötet im Alter von 14 Jahren. In Moabit, mutmaßlich in einem Keller in der Stendaler Straße.

Nur ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt vom möglichen Tatort begann am Berliner Landgericht in der Turmstraße am Mittwoch die juristische Aufarbeitung des Falls, der wie kaum ein anderer Berlin bewegt hat. Angeklagt wegen Mordes ist Ali K. Ein 44-Jähriger aus der Nachbarschaft der Familie Krüger – damals als Georgine verschwand.

Es ist Montag, der 25. September 2006, ein sonniger Tag. Georgine kommt von der Schule in der Zwinglistraße, steigt aus dem Bus der Linie M27 an der Perleberger Straße/Ecke Rathenower Straße aus. 200 Meter Fußweg liegen noch vor ihr bis zur Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter, der kleinen Schwester und der Großmutter lebt.

Sie hatte, so wird es ihre Mutter später berichten, eine Statistenrolle in einer TV-Serie zugesagt bekommen und wollte unbedingt die Casting-Agentur anrufen. Vor allem aber: Georgine galt als zuverlässig. Sie habe immer gesagt, wo sie hingeht, berichtet die Mutter. Doch zu Hause kommt die 14-Jährige an diesem Tag nicht an. Die Berliner Polizei meldet zwei Tage später: „Ihr Handy, das nur wenige Minuten später ausgeschaltet wurde, war seitdem nicht mehr auf Empfang.“

Damals liegen zunächst „keine konkreten Anzeichen dafür vor, dass Georgine Opfer einer Straftat wurde“. Dennoch stellt die Polizei fest: Es sei auszuschließen, dass sich das Mädchen irgendwo verborgen halte, ebenso ein Unglücksfall. Daher „verstärkt sich insgesamt zunehmend der Verdacht, dass Georgine einer Straftat zum Opfer fiel“.

Großangelegte Suche im Kiez

Einen Tag nach ihrem Verschwinden rückt die Polizei mit einem Großaufgebot in dem Kiez an. 60 Beamte suchen Keller, Dachböden mehrerer hundert Häuserblöcke ab, befragen Freunde, Anwohner, Nachbarn. Sogar die Wasserschutzpolizei hilft bei der Suche im Nordhafen und im Spandauer Schifffahrtskanal. Lebensgroße Plakate mit Georgine werden im Kiez aufgehängt.

Es bringt nichts. Dabei sind es die ersten Tage, die erste Woche, die entscheidend sind, um einen Vermisstenfall schnell aufklären zu können. Mit jedem Tag wird es unwahrscheinlicher, dass das Opfer noch lebend oder überhaupt seine Überreste gefunden werden.

Spurlos verschwunden. Georgine Krüger wurde vermutlich getötet.
Spurlos verschwunden. Georgine Krüger wurde vermutlich getötet.
© Polizei/dpa

2009 sucht die Polizei mit Spürhunden gleich zwei Mal binnen weniger Monate Waldgebiete im brandenburgischen Mühlenbeck rund um das Schloss Dammsmühle, wenige Kilometer hinter der nördlichen Stadtgrenze ab. Es geht um Bunkeranlagen, die in der DDR im Kriegsfall Stasi-Chef Erich Mielke als „Reserveausweichführungsstelle“ dienen sollten.

Im April 2018 wühlen sich die Ermittler dann durch ein Waldstück im havelländischen Brieselang, ein anonymer Anrufer hatte den Tipp gegeben. Jedes Mal bleibt die Suche ohne Erfolg. Das Vorgehen der Polizei wird sicherlich auch im Prozess eine Rolle spielen. Bekannt ist: Ali K. wurde damals als Zeuge befragt. K. hatte erklärt, das Mädchen nicht zu kennen. Ob auch der Keller von Ali K. durchsucht wurde, in dem er Georgine nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft umgebracht haben soll, ist bislang unklar.

Georgines Mutter, die als Nebenklägerin in dem Prozess auftritt, überzeugt die bisherige Beweiskette gegen Ali K nicht. Über ihren Anwalt lässt sie mitteilen, objektive Beweise für den Mord an ihrer Tochter lägen bislang nicht vor, es gebe auch keine Spuren zu dem Mädchen.

Verdeckter Ermittler auf Tatverdächtigen angesetzt

Ali K. Deutsch-Türke, dreifacher Vater, gilt im Kiez als ruhiger Typ. Er soll laut Anklage die damals 14 Jahre alte Georgine in seinen Keller gelockt, sie bewusstlos geschlagen und vergewaltigt haben. Um seine Tat zu vertuschen, soll er Georgine erwürgt und die Leiche verschwinden lassen haben. Angeblich, so berichtete die B.Z. jüngst, soll er die Leiche in einen Teppich eingewickelt und in den Müllcontainer geworfen haben. Möglicherweise sei die Leiche in der Müllverbrennungsanlage gelandet, hieß es.

Das alles wissen die Ankläger durch einen verdeckten Ermittler. Der war monatelang auf Ali K. angesetzt worden, erarbeitete sich das Vertrauen des Mannes. Schließlich soll Ali K. dem Ermittler alle Details der Tat verraten haben. Im Dezember 2018 wurde K. festgenommen und sitzt seither in Untersuchungshaft.

Bei der ersten Vernehmung bestritt er, was er zuvor dem verdeckten Beamten gebeichtet hatte. Sollte K. kein Geständnis ablegen, wird der Schuldnachweis vor Gericht in diesem sogenannten Prozess ohne Leiche nicht einfach. Immerhin 25 Verhandlungstage sind bislang angesetzt.

Zahlreiche Pannen im Fall Georgine

Dass Ali K. überhaupt ins Visier geriet, ist akribischer Detailarbeit und der Hartnäckigkeit eines Ermittlers zu verdanken. Der Fall war längst ein „Cold Case“. Zur Wahrheit gehört aber auch: Zuvor hatte es zahlreiche Pannen gegeben, bei der Kommunikation innerhalb der Polizei, aber auch beim Umgang mit anderen Opfern. Im besten Fall hätte Ali K. schon weitaus früher gefasst werden können.

Denn er stand mehrfach im Visier der Behörden – wegen Sexualdelikten. 2009 meldeten zwei elf und 13 Jahre alte Mädchen bei der Polizei, von K. mit anzüglichen Äußerungen sexuell belästigt worden zu sein. Der Mann gab zu, die Mädchen zu kennen, bestritt aber die Vorwürfe. Auch das für Sexualdelikte zuständig LKA-Dezernat 13 wurde informiert, ebenso die Mordermittler, die mit dem Fall Georgine betraut waren. Doch es geschah nichts.

Im Jahr 2011 zerrte K. eine 17-Jährige in seinen Keller und wollte sie vergewaltigen, sie konnte sich aber retten. Im Jahr 2012 erging ein Bewährungsurteil von einem Jahr und acht Monaten gegen ihn. Das Opfer hatte die Polizei damals auch darauf hingewiesen, dass K. doch auch etwas mit dem Fall Georgine zu tun haben könnte. Die Beamten im Abschnitt in der Perleberger Straße nahmen den Hinweis aber nicht ernst. Und auch die Mordkommission erfuhr zunächst nichts von diesem Fall.

Noch auf Bewährung soll K. 2014 erneut versucht haben, eine 14-Jährige aus der Nachbarschaft in den Keller zu zerren. Eine Anzeige nahmen die Polizisten damals nicht auf, verfassten nur einen Tätigkeitsbericht: Es habe keine Straftat gegeben, K. sei nicht vorbestraft.

Zusammenhänge werden erst langsam klar

Im Frühjahr 2016, knapp zehn Jahre nach Georgines Verschwinden, stößt der Ermittler auf die Zusammenhänge. Er gleicht Zeugenlisten ab, stellt Ähnlichkeiten zum Fall aus dem Jahr 2011 fest, vernimmt die Opfer, auch jene aus dem Jahr 2009. Schließlich gilt Ali K. 2017 dann als tatverdächtig, auch wegen der Abfragen aus den Handyfunkzellen. Es sei ein „auffälliges Interesse an minderjährigen Mädchen“ bei K. festgestellt worden. Der verdeckte Ermittler brachte dann den Durchbruch.

Georgines Mutter, die immer noch gehofft hatte, Gewissheit wollte, äußerte sich vor Beginn des Prozesses jedoch skeptisch. Nach Aktenlage könne der Angeklagte durchaus der Täter sein, „muss es aber nicht“. Daher erwarte sie besonders die Aussagen des verdeckten Ermittlers mit Spannung.

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