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In Lichtenberg untersucht ein Kriminaltechniker das Motorrad des Opfers.
© dpa

Nach Schüssen in Berlin-Lichtenberg: Angst vor einem neuen Rockerkrieg

Der Verfolgungsdruck ist hoch. Die Szene schert das wenig. Und es bilden sich neue Fronten – unter den Banden wird’s unübersichtlich.

Bitte wieder gehen! Und schon gar keine Fotos, verstanden? Der junge Mann, der den Reporter zurechtzuweisen versucht, steht unter Druck. Wie bei Rockern üblich, muss der Prospect, also ein Anwärter auf Mitgliedschaft im jeweiligen Club, lästige Aufgaben ausführen. An diesem Tag eben: Presse verscheuchen.

Willkommen im fast dörflichen Lichtenberger Westen, im Schatten der Ringbahn nahe der Frankfurter Allee, vor dem Hauptquartier der „Guerilla Nation“: Am Freitag war dort im Kietzer Weg ein 28 Jahre altes Mitglied erschossen worden, offenbar saß der Mann auf seinem Motorrad. Er starb, das Landeskriminalamt ermittelt, Innensenator Frank Henkel (CDU) lässt sich auch am Wochenende über die Lage informieren.

Wie hoch ist die Schlagkraft - Kampf der Generationen?

Die Guerilla Nation ist eine an den Insignien und der Hierarchie der Altrocker orientierte Truppe – die allerdings aus jungen Männern arabischer, deutscher, türkischer Herkunft besteht, die im Milieu aufstiegen wollen. Diesen Sommer haben sie an der Bahntrasse das schwarz gestrichene Clubhaus eröffnet. Ihr Expansionsanspruch bringt die ohnehin schon deregulierte Szene weiter durcheinander. „Es geht um Macht, um Reviere für illegale Geschäfte“, sagte Michael Böhl, Berliner Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. „Besonders gefährlich ist, dass die Männer in der Öffentlichkeit schießen.“ Zuletzt sollen im Rotlichtmilieu aktive Araber 2015 am Olivaer Platz geschossen und eine unbeteiligte 62-Jährige verletzt haben.

Selbst wenn die Tat am Freitag ein schlichter Eifersuchtsmord gewesen sein sollte, im Milieu werden die Kämpfe nicht abnehmen. Dazu grob veranschaulichend ein Beispiel: Ein knasterfahrener Hells Angel von Mitte 40 ist seit jeher in Ost-Berliner Discos aktiv. Er lässt Kleindealer gewähren, platziert Freunde als Türsteher, verdient überall ein bisschen mit. Doch eine neue Generation will an die Töpfe des Nachtlebens. Mittzwanziger, brutal, machtgeil. Der Alt-Angel hätte sie gern aus dem Weg gedrängt, so wie er das seit 20 Jahren macht, wenn junge Konkurrenten aufmucken. Seit ein, zwei Jahren aber erträgt er den nervigen Nachwuchs. Ein Kenner sagt, die Jungen seien zu krass, die Schlagkraft des Alten reiche nicht. Auf den T-Shirts der Jungen stehe: „Guerilla Nation“.

Vorbei die Zeiten, als nur Hells Angels, Bandidos und Gremium die Stadt aufteilten

Inzwischen besteht das Milieu neben Alt-Bikern meist deutscher Herkunft aus Ex-Hooligans, Muskelprotzen, Zuhältern und Söhnen arabischer, türkischer, kurdischer Clans. „Sortenreine Bandenkriminalität“, sagt ein Ermittler, „ist aber selten.“ Araber, Türken, Albaner, Deutsche und Russen können, müssen aber nicht, kooperieren. Die Grenzen zwischen den immer schnelllebigeren Rocker-Banden sind fließend.

Protzen. Berliner Dependance der „Guerilla Nation“ in einem Video.
Protzen. Berliner Dependance der „Guerilla Nation“ in einem Video.
© Youtube

Vorbei die Zeiten, als mit Hells Angels, Bandidos und Gremium drei internationale Clubs die Stadt aufteilten. Allianzen wechseln nach Kassenlage. Alle eint die zur Schau gestellte Männlichkeit und ein Hang zur Schattenwirtschaft, oft auch bloß lukrative Türsteherjobs. Viele Rocker – auch diejenigen, die gar kein Motorrad fahren, sondern nur Kult und Image kopieren – beschreiben sich als Outlaws, als Ungesetzliche. Die Guerilla Nation ist nur eine der neuen Truppen, zu erwähnen sind noch die rasant wachsenden „Osmanen Germania“, ein selbst ernannter Boxclub, dem viele rechtsnationalistische Türken angehören. Im Mai wurde ein Treffpunkt der „Guerilla Nation“ in Moabit von Spezialkräften der Polizei gestürmt. Die Rocker sollen einen Angriff auf Hells Angels geplant haben, obwohl die Guerilla Nation woanders mit ihnen kooperiert.

Der Kietzer Weg befindet sich mitten in der Stadt, trotzdem ist die Gasse selbst Lichtenbergern unbekannt – versteckt zwischen Gleisen, Garagen und Gestrüpp. Am Abend nach den Schüssen kommen Angehörige und Freunde am Tatort vorbei, eine junge Frau hat Rosen in der Hand. Der Prospect trabt zurück zu den Männern der Guerilla Nation, die vor ihrem Clubhaus stehen. Ein Polizist kommt und sagt leise: „Wirklich ein ungünstiger Moment, besser sie gehen.“

Am Wochenende werden wieder mal Szenetreffs observiert. Obwohl es sich im Milieu um eher bildungsskeptische Männer handelt, haben sie verinnerlicht, wie mit Polizisten umzugehen ist. Viele Taten wurden trotz hohen Ermittlungsdrucks nicht aufgeklärt. Die Männer kooperieren selbst dann nicht mit der Polizei, wenn sie Opfer von Angriffen wurden. Das Protzen hat also Grenzen.

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