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Zwei Zimmer Altbau, kleines Idyll. Doch ganz heimisch ist Marianne Epple (83) in Prenzlauer Berg noch nicht geworden. "Alle sind jung, schlank und dunkel angezogen."
© Thilo Rückeis TSP

Zum Lebensabend in die Hauptstadt: Alte Neubürger: Verrückt nach Berlin

Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Das sagt das Sprichwort. Doch immer mehr Menschen ziehen im Alter nach Berlin. Wegen Kindern, Enkeln, Kultur und Abenteuer. Nicht alle finden das Glück, das sie suchten.

Von Maris Hubschmid

Sie ist nie wieder dort gewesen. Hat keinen Blick mehr in den alten Bauerngarten geworfen, den sie so vermisst. Nicht nachgesehen, was sich hinter den Fenstern tut, die einst zu ihrem Lädchen gehörten. Marianne Epple hat ihr langjähriges Zuhause kein weiteres Mal aufgesucht, seit sie es vor bald sechs Jahren verlassen hat. Nicht, weil ihr diese Reise zu beschwerlich wäre oder sie lustlos geworden – im Gegenteil: Sie ist ja ständig unterwegs! Besucht Museen, Ausstellungen, Basare und Sprachkurse.

Aber wenn man irgendwo neu anfängt, sagt Marianne Epple, 83 Jahre alt, dann soll man auch ganz neu anfangen.

„In Berlin“, sagt sie, „wurde ich gebraucht.“ Hier lebt die Tochter, alleinerziehend und freiberuflich arbeitend, mit der Enkelin, die sieben Jahre alt war, als ihre Großmutter eine große Entscheidung traf. Heute ist sie 13. In ihrer alten Heimat dagegen brauchte Marianne Epples Hilfe plötzlich niemand mehr. 53 Jahre lang waren sie verheiratet gewesen, da starb ihr Mann. Und mit einem Mal spürte sie die Wucht dieses Hauses, 100 Quadratmeter Grundfläche, mal sechs Etagen, wenn man das Geschäft, Keller und Dach dazuzählt, so schön, das alles, in jahrelanger und liebevoller Detailarbeit gestaltet, so erdrückend, schlagartig. Ob sie diese Entscheidung auch so getroffen hätte, wenn die Tochter nicht in Berlin gelebt hätte? Marianne Epple lächelt nur.

Sie hat Hohenlohe, eine sehr ländliche Region in Baden-Württemberg, eingetauscht gegen den Prenzlauer Berg. Zwei Zimmer im Hinterhaus, drei Billy-Regale.

Berlin ist jung, wild, voller Dynamik. Und deswegen ist auch Marianne Epple jetzt hier, genau wie Rosemarie und Knut Grotrian-Steinweg und Dieter Steen und seine Frau Michiko und Barbara und Siegesmund von Ilsemann. Sie alle sind mit über 60, über 70 oder fast 80 hergekommen – sieben Lebenswege, vier Perspektiven, ein Fluchtpunkt: Berlin.

Sie kamen, weil jemand auf sie wartete. Seit Jahrzehnten hat Berlin Menschen angezogen, Künstler, Exzentriker und Studenten, meistens jung. Du bist verrückt, mein Kind, Du musst nach Berlin – noch immer ziert der Spruch Postkarten in den Drehständern am Rand der Touristentrampelpfade. Doch die jungen Verrückten des Nachwende-Berlins sind inzwischen erwachsen geworden. Sie haben sich zusammengetan, sind hiergeblieben, auch der guten wirtschaftlichen Entwicklung wegen, haben eigene Kinder bekommen. Und auf einmal ist Berlin nicht mehr nur Hauptstadt der Suchenden, der Individualisten, sondern Nachzugsgebiet vieler, die damals daheimgeblieben sind. Sammelbecken zahlreicher Familien.

Die Kinder kehren nicht mehr zurück

Einst war es doch so, sagt Marianne Epple, kurzer weißer Pony, Brille, ein sehr waches Gesicht mit neugierigen Augen: Die Kinder gingen zum Studieren fort, sie kehrten in ihren Geburtsort zurück, übernahmen das Geschäft der Eltern und bauten sich ein Häuschen am Ende der Straße. Immer häufiger zieht heute die ältere Generation der jungen hinterher, in die Großstadt – zum Beispiel nach Berlin. Noch ist die bedeutendste Gruppe der Neuberliner zwischen 20 und 30 Jahre alt. Aber danach kommt bereits die der über 65-Jährigen, und sie wird stärker. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller prognostiziert, dass bis 2030 allein 200.000 Menschen, die älter als 65 sind, aus allen Landesteilen in die Hauptstadt umsiedeln werden.

Die Renaissance der Städte ist ein oft zitierter Begriff. Er meint, dass auch ältere Menschen wieder die Nähe der großen Innenstadtbereiche suchen, wegen der besseren Infrastruktur, der gesicherten ärztlichen Versorgung. Doch das Phänomen ist damit nicht hinreichend erklärt. Andreas Knie, Soziologe von der TU Berlin, beschreibt die Rentner, die nach Berlin strömen, so: „agile, meist westdeutsche Menschen, die finanziell unabhängig, hochintellektuell, politisch gebildet und in der Regel linksliberal eingestellt sind“.

Viele, nein: die allermeisten haben erwachsene Kinder in der Stadt. Es ist kein Zufall, dass das Umzugsunternehmen Zapf auf seinen Lkws mit dem Slogan wirbt: „Ziehen Sie nach Berlin, Ihre Kinder sind schon da.“ Nach 1989 kamen besonders viele dieser Kinder, junge Menschen im Aufbruch, in eine Stadt im Aufbruch. Wollten sie neu gestalten und sich selber gleich mit. Die Freiheit, sich selbst zu verwirklichen oder es zumindest zu versuchen, konnten viele sich auch deshalb leisten, weil ein großzügig denkendes und finanziell solides Elternhaus dahinterstand. Jetzt steht das finanziell solide Elternhaus vor der Tür. Wir sind dann mal da: eine Gentrifizierung in zwei Wellen.

Die Stadtentwicklungsverwaltung will mehr barrierefreie Wohnungen schaffen. 100.000 zusätzliche braucht es mindestens, heißt es. Marianne Epples Wohnung liegt im Erdgeschoss. Nun wird für andere hier ein Fahrstuhl angebaut. Und im Haus fürchten einige, dass die Miete steigt.

„Der größte Vorteil des Alters ist die Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will“, sagt Marianne Epple entschieden. „Auf dem Land kann man nicht alles leben.“ Als ihr Umzugswagen 2009 mit dem bisschen, das sie nicht verkauft hatte aus ihrem Haus und dem Antiquitätenladen, einer Haubenpuppe, Stoffbär Friedrich mit dem rot karierten Hemdchen und Katze Trixie in die Hufelandstraße einbog, gehörte sie zu den ersten Vorboten einer neuen Generation. Der Wunsch nach Teilhabe am Familienleben lockt die Älteren, aber auch der nach gesellschaftlicher Teilhabe. Nach Berlin kommt niemand, der unbehelligt seinen Lebensabend verbringen will. Berlin ist, wenn man so will – und viele wollen –, ein Unruhesitz.

Der lange Abschied

Im Altersparadies. Knut Grotrian-Steinweg (79) schwärmt vom "Lebenshunger" in der Steglitzer Senioren-Wohnanlage, in der seine Frau Rosemarie (77) und er seit 2012 leben.
Im Altersparadies. Knut Grotrian-Steinweg (79) schwärmt vom "Lebenshunger" in der Steglitzer Senioren-Wohnanlage, in der seine Frau Rosemarie (77) und er seit 2012 leben.
© Mike Wolff

„Was sollen wir denn in Berlin?“, fragten Knut und Rosemarie Grotrian-Steinweg, als ihre Töchter zum ersten Mal den Vorschlag äußerten, sie könnten doch in ihre Nähe kommen. Der Name Grotrian-Steinweg ist eng mit der Stadt Braunschweig verbunden. Dort steht die Klavierfabrik, 1835 gegründet, eine der ältesten Pianofortefabriken der Welt und noch immer in Familienbesitz. Knuts Ur-Ur-Großvater Friedrich Grotrian übernahm sie 1865 von der Familie Steinweg, die nach New York ausgewandert war, um dort unter anglisiertem Namen die Firma „Steinway & Sons“ zu gründen. 1919 nahmen die Grotrians einen Doppelnamen an, um ihren an den des Unternehmens anzupassen. Den aktuellen Geschäftsführer hat Knut Grotrian-Steinweg persönlich ausgebildet.

Heute hat letzterer fast zu viele Antworten auf die Frage, was er hier soll – bei all den Möglichkeiten fällt es seiner Frau und ihm oft schwer, sich zu entscheiden. In Braunschweig gibt es ein Theater, in Berlin Dutzende! Gerade sind sie in „Nabucco“ in der Deutschen Oper und für die „Zauberflöte“ in der Staatsoper gewesen. Der Italiener „La Fattoria“ um die Ecke ist zu einem ihrer Stammlokale geworden. „Hätten wir das alles so voraussehen können, hätten wir vielleicht weniger lange gezögert“, sagen sie. Seine Mutter musste 100 werden, ehe sie realisierten, wie belastend es ist, wenn das Alter über einen hereinbricht, aber nichts bereitsteht, um es abzufangen.

„Meine Schwester hat sie damals gepflegt. Das ist eine enorme Belastung, wenn man nicht dafür ausgebildet ist“, sagen sie. „Unseren eigenen Kindern wollten wir das ersparen.“ Sie ließen sich Infobroschüren von Senioreneinrichtungen kommen, dachten sich: Wenn schon umziehen, warum dann nicht näher zu den Kindern? Sie fanden die Residenz Sophiengarten in Steglitz, sie kamen bei bester körperlicher Gesundheit, 74 und 76 Jahre alt, 2012 war das. Die drei Stockwerke zu ihrem Apartment nehmen sie immer noch zu Fuß. Sie wohnen in einem Gebäudekomplex, der betreutes Wohnen und eine Pflegestation beinhaltet, doch sie haben eine ganz normale Wohnung – Küche, Bad, Schlaf- und Wohnzimmer. Richtiger müsste man sagen: Sie haben eine überdurchschnittlich schöne Wohnung, lichtdurchflutet, großzügig geschnitten, mit geräumiger Terrasse und Blick ins Grüne. Deswegen haben sie sich für Steglitz entschieden, nicht weit von der Freien Universität, an der eine der Töchter Geschichte studierte. So viel Natur, trotz der Weltstadt vor der Tür – da staunen sie immer noch. Billig ist es nicht. Aber.

Ein Jahr Zeit hatten sich Grotrian-Steinwegs in Braunschweig für die Vorbereitungen genommen, für den Abschied. Zum Schluss mieteten sie eine Gaststätte, orderten Harzer Käse und Mettbrötchen, luden alle ein, die ihnen nah waren. Der Bürgermeister kam und hielt eine Rede. „Ein bisschen Respekt hatten wir schon, das alles zurückzulassen“, sagt Knut Grotrian-Steinweg. Doch kaum waren in Berlin die ersten Kisten ins Wohnzimmer getragen, klingelte die neue Nachbarin und fragte, ob sie nicht am Abend auf ein Glas Wein und ein paar Schnittchen vorbeikommen wollten. Ein Glücksfall, diese Frau, die Wand an Wand mit ihnen lebt, sagen sie: Nicht nur, weil sie drei Musikersöhne hat, über die sie immer wieder günstig an Konzertkarten herankommen. „Neulich haben wir die ,12 Cellisten‘ in der Philharmonie gehört. Das war fantastisch.“ Auch mit anderen Nachbarn haben sie sich schnell angefreundet. Mit einer Gruppe von 15 bis 20 machen sie regelmäßig Tagesausflüge, nach Potsdam oder Rheinsberg, Schifffahrten auf der Spree.

Berlin, für viele eine alte Liebe

Rosemarie Grotrian-Steinweg ist in Berlin geboren, wohin ihr Vater als Förster ans Reichsjagdamt versetzt worden war. Als der Krieg voranschritt und sie drei Jahre alt war, kehrte die Familie nach Braunschweig zurück. Eine besondere Verbindung aber blieb. Viele Berlin-Geschichten, die eine neue alte Generation jetzt schreibt, haben einen Prolog. Sie sind Geschichten einer lange aus den Augen verlorenen Liebe, oder einer Liebe auf den zweiten Blick. Auch Marianne Epple ist hier aufgewachsen, in Wilmersdorf, später ging sie zur Volksschule in Babelsberg-Uferstadt, spielte eine Statistenrolle in Heinz Rühmanns „Quax, der Bruchpilot“, ehe der Krieg ihre Familie nach Oberfranken trieb.

Gelebt haben Barbara und Siegesmund von Ilsemann, 73 und 69 Jahre alt, in Berlin zuvor nicht. Aber als die Mauer fiel, da wussten die beiden Hamburger bereits: Schon aus politischem Interesse müssten sie so schnell wie möglich an die Spree. Es kam dann anders. Er, Journalist beim „Spiegel“, wurde Leiter des Redaktionsbüros in Washington. Sie blieben länger in den USA als geplant – und kamen schließlich an die Elbe zurück. Ein reetgedecktes Bauernhaus im Alten Land, Obstbäume vor dem Fenster, Johannisbeersträucher. Eine Idylle. Die Tochter aber war inzwischen aus Hamburg in die neue alte Hauptstadt gezogen. „Auch bei uns war der Gedanke an einen Wohnungswechsel nach Berlin noch nicht begraben, wollten wir doch von dort all das erkunden, was wir während der 90er Jahre nur aus der Ferne beobachten konnten: das Zusammenwachsen Deutschlands und Europas“, sagt er.

Sie brannten darauf, den Osten zu entdecken. „Und das kulturelle Leben.“ Sicher, sagen sie: Museen, Theater, Konzerte, erlebbare Geschichte – all das gibt es in der Hansestadt auch. „Aber mit Berlin war Hamburg unversehens eine großstädtischere Konkurrenz erwachsen.“ Die Tochter als Berufsmusikerin und der Schwiegersohn als Schauspieler an der Volksbühne verhießen direkten Zugang zur Szene.

„Und dann war da schließlich auch noch ein Enkelsohn.“ Als im Frühjahr 2009 plötzlich ein Paar vor ihrer Tür im Alten Land stand, das von Nachbarn gehört hatte, sie trügen sich mit Verkaufsabsichten, war das der berühmte Funke. Von da an ging alles rasend schnell. „Binnen 15 Minuten war der Verkauf mit Handschlag besiegelt – und wir quasi wohnungslos.“ Weil ihr Hund im Sterben lag, verzichteten sie auf eine ausgedehnte Wohnungssuche – übers Internet vereinbarten sie für ein und denselben Tag Besichtigungstermine in sieben Objekten, von Spandau bis Köpenick. Die Maisonettewohnung im Hessenwinkel, mit eigenem Boots- und Badesteg direkt an der Müggelspree gelegen, gefiel ihnen sehr. Aber bereits auf der Rückfahrt waren sie sich einig, dass ihre Wahl anders ausfallen würde.

Ausgerechnet Neukölln!

Oben angekommen. Michiko und Dieter Steen (75 und 78) zog es im Ruhestand erst von Hamburg nach Andalusien. Nach Berlin gingen sie dann vor allem wegen Kindern und Enkeln.
Oben angekommen. Michiko und Dieter Steen (75 und 78) zog es im Ruhestand erst von Hamburg nach Andalusien. Nach Berlin gingen sie dann vor allem wegen Kindern und Enkeln.
© Kai-Uwe Heinrich

Was, nach Neukölln wollt Ihr ziehen?! „Die Entsetzensrufe unserer Berliner Freunde haben wir nicht lange ertragen müssen“, sagt Siegesmund von Ilsemann. Die Gegend zwischen Kottbusser Damm und Pannierstraße, der alte Reuterkiez an der Grenze zu Kreuzberg, heute auch als Kreuzkölln bekannt, gewann in den Folgejahren enorm an Popularität. Die schmucklose Fassade von 1968 entsprach zunächst so gar nicht ihrem Traum vom repräsentativen Altbau, und als sie das erste Mal davorstanden, nieselte es, ein Wetter, wie sie es eigentlich in Hamburg zurücklassen wollten. Barbara, erschöpft von drei Besichtigungsterminen und der Aussicht auf drei weitere, wollte gleich wieder gehen. Aber dann die Wohnung! Ein dänischer Architekt hatte sie mit viel skandinavischem Geschmack aus zwei kleinen zu einer vereint. Es fehlte nur der Balkon. Mit dem Loch, das der Verkäufer dafür in die Außenwand schlug, brach eine neue Ära an. Das Loch eröffnete ihnen den Zutritt in einen zugegeben recht schattigen Hinterhof, Berlin aber eröffnete ihnen in der Folgezeit eine ganz neue Welt.

Von ihrem Balkon blicken Dieter und Michiko Steen auf den Ort, an dem die Welt einkehrt. Das KaDeWe. „Der Ku’damm ist was für alte Leute“, hatte ihr Sohn damals gesagt, bei dem sie sich im Bergmannkiez einquartiert hatten, um Bezirke auszukundschaften. „Das sind wir ja“, sagte Dieter Steen. Sie genießen es, in zehn Minuten im Tiergarten und beim Café am Neuen See zu sein, die gute Verkehrsanbindung, „darauf muss man achten, sonst besucht einen keiner“. Im siebten Stock des Hochhauses hören sie manchmal den Krach aus der Bauhaus-Baumarkt-Werkstatt unten. Dafür gehört der Himmel wieder ihnen, in dem sie sich kennengelernt haben, er Flugbegleiter, sie Stewardess bei der Lufthansa.

Auch die Steens haben den Großteil ihres gemeinsamen Lebens in Hamburg verbracht. „Irgendwann habe ich zu meiner Frau gesagt: Ich will im November bei diesem Schietwetter nicht mehr in Hamburg sein, und ich will noch was sehen von der Welt.“ Da gab er das Judostudio auf, das er nach ihrer Flieger-Zeit, als sie Kinder bekommen hatten und sesshaft geworden waren, aufgebaut hatte, und ging in den Vorruhestand. Sie zogen nach Andalusien, der Sonne hinterher. Der Wechsel des Wohnortes kostete sie weniger Überwindung als etwa die Grotrian-Steinwegs. „In jüngeren Jahren haben wir an sehr vielen verschiedenen Orten gelebt“, sagt Dieter Steen. „In Melbourne, Tokio, Bangkok.“

In Andalusien gefiel es ihnen bestens, sagen sie. Aber nach ein paar Jahren merkten sie, dass sie wieder näher an die Familie rücken wollten. Beide Söhne hatten das Paar in der Zwischenzeit zu Großeltern gemacht – und lebten in Berlin. Warum dann nicht gleich Berlin? „Erst mal drei Jahre auf Probe, so haben wir es vereinbart.“ Inzwischen sind daraus neun geworden.

Mittendrin und trotzdem manchmal allein

Vor ihrer Tür hält der Bus Linie 100, die bei Touristen so beliebte Verbindung zwischen Zoo und Alexanderplatz, und oft steigen sie ein. Dass Steens ältester Enkel Fußball bei den Berliner Amateuren in Kreuzberg spielt, half ihnen, die Stadt kennenzulernen. Auf welchem Platz seine Mannschaft am Wochenende auch aufläuft: Die Großeltern stehen am Rand des Felds.

In seiner Hamburger Zeit brachte Steen es zum Jugendcoach der Judo-Nationalmannschaft für die 15- bis 17-Jährigen. Das Trainersein ist seine Leidenschaft geblieben. In Berlin kann er jetzt, anders als in Andalusien, weiter ehrenamtlich als Wertungsrichter unterwegs sein. Mit anderen ins Gespräch zu kommen, fällt ihm, der laut und viel redet, nicht schwer. „Ich dagegen sehne mich ab und zu zurück“, sagt seine Frau. „Mir fehlen die Hamburger Kontakte, vor allem die aus der japanischen Gemeinde.“ Mindestens zweimal im Jahr fährt sie hin. „Es ist mir bisher nicht gelungen, hier Ähnliches aufzubauen. Vielleicht wird es nicht einfacher mit den Jahren. Vielleicht bin ich zu faul. Vielleicht haben wir uns anfangs auch zu sehr auf die Familie konzentriert.“

Michiko Steen ist mittendrin im Trubel. Trotzdem fühlt sie sich manchmal abgeschnitten.

Marianne Epple kennt dieses Gefühl. Noch immer rufen Kunden von früher an: Sie fehlen uns hier! Das Rustikale, Bäuerliche war es immer, das ihr gefiel, ihr erstes altes Glas kauften sie und ihr Mann noch als Studenten. Später wurde ihr Laden auch für historisches Spielzeug und antike Gartengeräte bekannt. „Altes Spiel und Zeug“, so hieß er. So klein die Wohnung in Prenzlauer Berg auch war, im Vergleich zum Haus, das sie zurückließ: Zwei Melonenglocken, schwere Dinger, unter denen im 18. Jahrhundert Melonen gezogen wurden, mussten mit. Die thronen jetzt auf dem Schrank. An der Wand hängen Fayencen. Auch Prenzlauer Berg ist voller Antiquitätenläden, Fundgruben müssten das sein, eigentlich. Doch der Geschmack ist ein anderer, sagt Marianne Epple: „Ich bin mehr Keramik – Prenzlauer Berg ist Porzellan.“

Lieber stöbert sie in den Buchläden, streift durch die Blumengeschäfte. „Bestimmte frequentiere ich regelmäßig, aber ich bezweifele, dass man mich kennt.“ Manchmal wünscht sie sich einen Ansprechpartner in ihrem Alter. In ihrem Haus gebe es keine anderen Rentner. „Im Grunde lebe ich im falschen Viertel.“

Tagsüber sind alle weg. „Ich bin die Paketannahmestelle“, sagt sie. Es macht ihr nichts aus, immerhin kommt so mal jemand vorbei, abseits von Tochter und Enkelin. „Es sind reizende Leute, aber ich kann sie kaum auseinanderhalten. Alle sind jung, schlank und dunkel angezogen.“

Geteilte Vergangenheit

Mitten hinein. Dass Barbara und Siegesmund von Ilsemann (73 und 69) das malerische Alte Land gegen Neukölln tauschten, irritierte Berliner Bekannte zunächst.
Mitten hinein. Dass Barbara und Siegesmund von Ilsemann (73 und 69) das malerische Alte Land gegen Neukölln tauschten, irritierte Berliner Bekannte zunächst.
© privat

Marianne Epple hat viel versucht, um Anschluss zu finden. Bei der Volkssolidarität ist sie gewesen, beim Seniorentreff. „Aber selbst dort kommen die Menschen immer zu zweit.“ Und wenn sie mal jemanden erwischt, sagt sie, dann kreisen dessen Gedanken meist um bessere Jahre – was in ihrem Alter jüngere heißt. „Aber diese Menschen haben Erinnerungen, die ich nicht teile.“ Westdeutschland, Westberlin oder DDR, das fällt schon ins Gewicht, wenn man mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebt. Und immer nur über die Enkel reden, das liege ihr nicht.

Im Schnitt verbringen die neuen Senioren fünf Tage außer Haus, sagen Studien des Instituts für Demoskopie Allensbach. Marianne Epple hat sich in französischer Konversation an der Volkshochschule weitergebildet, eine Computerschulung gemacht, einen Kurs für kreatives Schreiben besucht. „Ich würde gerne öfter ins Kino gehen, so was kann man spontan und alleine machen. Das Filmtheater am Friedrichshain ist ganz nah. Aber haben Sie mal gesehen, wie viele Stufen das hat?“ Da merkt sie die Arthrose und den dritten Herzschrittmacher dann doch. Dafür kann sie sich jetzt die ganzen Liebesfilme im Fernsehen anschauen. Die hat sie mit ihrem Mann nie angeguckt. „Da habe ich einen ganz großen Nachholbedarf.“

Auf einem Eckschrank steht ein Miniaturdorf, ein kleines weißes Gewächshaus hat sie dazugekauft, nachdem die Katze, die sich jetzt nicht mehr draußen austoben kann, es immer vom Schrank gefegt hat. Mit Fachwerkhäuschen, einer kleinen Kirche in Gelb, wie es im Fränkischen üblich ist, einem Marktplatz. Zu Weihnachten wird Marianne Epple wieder einen Baum dort aufstellen. „So was machen alte Leute, wenn sie alleine sind“, sagt sie und lacht.

Wer in einem Altersheim lebt, ist selten allein. Manchmal ist da mehr Mensch, mehr Nähe, als einem lieb ist. Kranke, die auch mal schreien, wenn sie Schmerzen haben, oder Wahnvorstellungen. „Es stört uns nicht“, sagt Knut Grotrian-Steinweg, „wir haben auch früher neben einer diakonischen Einrichtung gewohnt.“ Natürlich seien Krankheiten ein großes Thema. Und natürlich gebe es eine hohe Fluktuation. „Die Frauen halten hier normalerweise länger als die Männer.“ In vielen Runden ist er Hahn im Korb.

Aber der Anteil von Menschen, die gesund und lebensfroh hierherziehen, wie sie selber, der Kinder wegen, und das aus allen Ecken Deutschlands, wachse. Um sie herum spricht man rheinische Dialekte, bayerische. Und alle freuen sich, dass ihnen dieses Abenteuer noch einmal zuteil wird: Berlin. „Hier herrscht ein Lebenshunger und ein Humor, so was ahnt man ja vorher nicht“, sagt er.

Alles gut - nur Kinder und Enkel sieht man kaum

Ihre Erwartungen, sagt Knut Grotrian-Steinweg, „haben sich übererfüllt“. Bloß die Töchter und Enkeltöchter, inzwischen 13 und 15, die sehen sie bei Weitem nicht so oft, wie sie das vorher gedacht hatten. „Nun ja: Die haben auch viel um die Ohren heutzutage.“

Marianne Epple sieht Tochter und Enkelin ein- bis zweimal die Woche, sagt sie. „Obwohl, wenn ich’s recht bedenke – die Enkelin doch seltener.“ Ihr Sohn, der in Hamburg lebt, komme einmal im Vierteljahr vorbei, auch nicht öfter als früher nach Baden-Württemberg. „Eigentlich ist er mit dem Zug ja schnell hier“, sagt sie. „Aber die Kinder müssen ja heute alle so viel arbeiten.“

„Wir hatten uns das ein bisschen anders vorgestellt“, sagen die Steens. Sie hätten drei Enkel und eine Enkelin in Berlin haben können – doch dann fusionierte Sony Music mit BMG, das Unternehmen zog nach München, einer der Söhne und seine Familie mussten mit. Nicht viel später entzweiten sich der andere Sohn und seine Frau. Sie nahm einen neuen Job in einer anderen Stadt an, seither werden die beiden Kinder hin- und hergereicht. „Die Zeitspannen, in denen wir sie sehen können, werden immer knapper bemessen.“

Vor drei, vier Jahren haben sich die Steens noch mal für Wohnungen in Hamburg interessiert. „Aber da waren die Preise inzwischen so davongerannt, da hätten wir uns nichts mehr leisten können.“ Sie sind bemüht, die Zeit, die sie jetzt mehr haben als geplant, gut zu nutzen. Fahren zu Ausstellungen in die Zitadelle nach Spandau oder Lesungen in die Liebermann-Villa am Wannsee, in den Britzer Garten oder die Markthalle der Vietnamesen nach Lichtenberg.

Die Männer in seinem Fitnessstudio hat Dieter Steen dazu gebracht, zu ihm „Moin Moin“ zu sagen, wenn er kommt. „Und wenn meine Frau den Blues kriegt“, sagt er, „fahre ich mit ihr nach Marzahn-Hellersdorf.“ Damit sie sich in der Fremde und Eintönigkeit der Plattenbauten mal so richtig heimatlos fühlt. „Wenn wir dann wieder das Brandenburger Tor passieren, geht ihr das Herz auf.“

Die Tochter der von Ilsemanns nahm, kaum dass ihre Eltern in Neukölln heimisch geworden waren, eine Stelle im Spree-Oder-Kreis an. Erstand daraufhin in tiefster Einsamkeit ein altes Schleusenhaus. Jetzt pendeln ihre Eltern nicht mehr nur zweimal im Jahr in ihre italienische Zweitheimat, ein Häuschen in Ligurien, sondern regelmäßig zur Betreuung ihrer jüngsten Enkeltochter nach Brandenburg.

„Unsere Berlin-Begeisterung schmälert das nicht“, sagen sie. „Die Lage in Neukölln entspricht genau unseren Forderungen an einen altersgerechten Wohnsitz mitten in der Stadt: mit Geschäften, Ärzten, Parks, Kneipen und Restaurants durchweg fußläufig erreichbar. So hatten wir unsere letzte städtische Wohnung geplant.“

Nach Fürstenwalde bräuchten sie dank Bus und Bahn „kaum mehr als drei Viertelstunden“. Und auf diese Weise haben sie einen weiteren Vorzug einer der flächenmäßig größten Städte der Europäischen Union kennengelernt: Man kommt auch relativ schnell wieder raus.

Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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