Berlin am Zirkeltag: "Als ich fortging" - vom Trennungslied zur Wende-Hymne
Dirk Michaelis hat mit seiner Band „Karussell“ die DDR-Hymne zur Wende gesungen – und mit Zwischentönen die weite Welt aufgeschlossen.
"Als ich fortging, war die Straße steil“, singt er. „Kehr wieder um“, haucht die Menge zurück. Es ist der Tag davor.
„Nichts ist unendlich“, singt er. „So sieh das doch ein“, ruft die Menge zurück. Es ist genau der Tag.
„Ich weiß, Du willst unendlich sein“, singt er. „Schwach und klein“, seelt die Menge zurück. Es ist der Tag danach.
Dirk Michaelis spielt drei Mal das gleiche Lied im Palast der Republik, inmitten des Ostens von Berlin. Es ist das Lied seines Lebens, sein privatestes, sein politischstes, sein bekanntestes. Und es ist immer das gleiche Konzert im gleichen Haus, bei dem die Menge mitsingt, an drei Tagen hintereinander – aber es ist immer etwas anderes. Denn an dem Abend in der Mitte fällt die Mauer.
Und das Lied „Als ich fortging“ von Dirk Michaelis und seiner Band „Karussell“ ist nicht mehr nur ein melancholisch-poetischer DDR-Hit, sondern plötzlich der Soundtrack eines untergehenden Landes, einer vergehenden Zeit. Eine einzige Nacht teilt die Gefühle von Millionen: Angst, Freiheitsdrang, Wahnsinnslust. Und ein paar Liedzeilen teilen die Menschen im Aufbruch miteinander:
„Nichts ist von Dauer, / was keiner recht will. / Auch die Trauer wird da sein / schwach und klein.“
Ist das alles schon so lange her?
Er sieht mitgenommen aus, von seinen Gefühlen. „Ich kann das gar nicht richtig erzählen“, sagt der 56-Jährige in einem flirrenden Café inmitten des neuen Berlin. „Das ist, als müsste man einen Stromschlag beschreiben.“ Die Energie ist noch da, in seinem hellen Lachen, in seinen lodernden Augen, in seinen Erzählungen von der Zeitenwende vor mehr als 10.000 Tagen, die alle unter Strom gesetzt hat. So wie ihn – selbst im Jahr des Mauerbaus in Karl-Marx-Stadt geboren – jetzt wieder. „Ich hab Gänsehaut“, ruft Dirk Michaelis. Er greift sich an den Arm und drückt sich eine Glücksträne aus dem Auge.
Alles ist möglich. Das war plötzlich die Stimmung. Und, noch wichtiger: Das haben wir geschafft. „Die friedliche Revolution wird uns Ostdeutschen für immer bleiben, das ist einmalig.“ Vieles andere ist verschwunden. Der Palast der Republik wurde schnell abgerissen, hier zieht das neue Deutschland eine alte Schlossattrappe hoch. „Aber das blöde ICC wird jetzt saniert.“ Ist ja klar, so sieht es Michaelis: „Das eine war Ostasbest, das andere ist Westasbest.“ Dazwischen ist etwas verloren gegangen: die Gänsehaut.
Ist das alles erst so kurz her?
„Als ich fortging war der Asphalt heiß, / kehr wieder um. / Red' ihr aus um jeden Preis, / was sie weiß.“
Ein Liebeslied, eigentlich. Ein Sehnsuchtslied, sowieso. Ein Wendelied, irgendwann. Aber dieser Song hat auch ein Geheimnis, das Michaelis nach drei Stunden Lautlachen und Fastweinen langsam und leise preisgibt. Er hat die Musik schon als Zwölfjähriger gespielt, am Klavier im Wohnzimmer der Eltern im Friedrichshain wieder und wieder vorsichhingeklimpert und vorsichhergeschleppt, „weil man als Teenager nun mal melancholisch ist“. Er sowieso, denn Dirks Eltern – der Vater einer der berühmtesten Chorleiter der DDR, die Mutter Tänzerin – trennten sich gerade. Nichts ist unendlich, / So sieh das doch ein. Den Text zu dem Gefühl gab es da noch lange nicht.
Das Klimpern ging weiter, im Dreivierteltakt am Keyboard, bei jedem Einspielen mit seiner jungen Band, „als ich das Küken der DDR-Musik war“, und irgendwie irgendwo irgendwann landete das Intro auf einer Demokassette von „Karussell“; die sprang zufällig um bei einer Bandbesprechung, 1987 war das schon, da fielen die anderen sich gegenseitig ins Schweigen in ihrer Musikgarage bei Leipzig und fragten Michaelis: Dirk, was ist denn mit Deinem Lied, was machen wir daraus? Also schickten sie die Kassette an Gisela Steineckert – eine der bekanntesten Texterinnen des Ostens, die schon viele Phantasien mit Metaphern beschriftet hatte. „Komm wir malen eine Sonne“, war ihr berühmtestes Kinderlied.
An „Karussell“ schickte sie einen Text zurück für Erwachsene und Entwachsende, ein Lied über die Sehnsucht einer Nacht, die alles verändern kann. Nichts ist unendlich. Kein Tag. Keine Liebe? Kein Land, schwach und klein.
Ostdeutschland hat sich eine eigene Sprache geschaffen, eine kleine Weltliteratur der Zwischentöne. Scheinbar harmlose Zeilen beschrieben den Harm, der inneren Grenzen und äußeren Mauern innewohnt. „Wer durch Zensur auffliegt, ist nicht gut genug“, sagte Billy Wilder. Die DDR-Künstler, die guten, beherzigten das und weiteten die Enge mit Worten, so nebenbei es gerade noch erlaubt war. Den Schlüssel für die Zwischentöne hatte das Publikum; es schloss die weite Welt in Gedanken auf.
„Genieße Deine Freiheit, / In der stillen Liebesbucht. / Hier ist wirklich alles möglich. / Auch die Möglichkeit zur Flucht.“
Diese Zeilen von „Karussell“, geschrieben im Frühherbst '89, waren schon nicht mehr erlaubt. Da lief Michaelis auf ersten Demos mit, floh vom Inneren ins Äußere. Die andere Hälfte des halbierten Landes war längst weiter, auf der Flucht über Europas Südosten nach Westen.
„Als ich fortging kam ein Wind so schwach, / warf mich nicht um. / Unter ihrem Tränendach / war ich schwach.“
Geht das alles noch lange so weiter?
Am 8. November 1989 schien es so, beim ersten Konzert im Palast der Republik. Da sang die Menge mit, vereint in der Traurigkeit der Zwischentöne und in der Sorge, ob am Ende die Angst gewinnt oder die Hoffnung. Einen Tag später dann, nach 10 316 Tagen der getrennten Bürgersteige, schlägt die Sehnsucht um in Gänsehaut. Wat, die Mauer is uff? „Ich konnte das erst glauben, als ich meine damalige Frau abends zu Hause sah“, erzählt Michaelis. „Sie hatte ihr hübschestes Kleid angezogen. Wir umarmten uns stundenlang und weinten.“ Auf einmal verflog alle Schwere ganz leicht. Die Mauer wurde von Berlinern in Stücke zerhackt. Dahinter war bloß die andere Seite der Straße. Und alles möglich, für einen Augenblick.
Wie geht's jetzt weiter?
Das Konzert am Tag danach war ausverkauft. „Aber kommt da jemand? Die sind ja alle drüben.“ So wie Michaelis, der sich und andere das fragte, selbst die andere Seite der gleichen Medaille entdeckte. Am Abend aber waren sie alle zurück inmitten des Ostens und sangen selig mit beim Abschied von ihrem halben, schwachen Land. Zuerst die Nationalhymne der DDR, die wegen ihrer Zwischentöne sonst immer nur ohne Text abgespielt wurde:
„Auferstanden aus Ruinen. / und der Zukunft zugewandt. / Lass uns Dir zum Guten dienen. / Deutschland einig Vaterland.“ Jetzt schaffen wir alles. So war die Stimmung, für einen Augenblick.
10.316 Tage später ist die Gänsehaut weg. Dirk Michaelis hat die Wendehymne verfasst, unfreiwillig, heute darf er sie ab und zu unter dem Label „Ostrock“ aufführen, ebenso unfreiwillig. „Westrock gibt's ja auch nicht, wer käme auf die Idee?“, erregt er sich. Michaelis hat 13 Alben veröffentlicht, davon 2 in der DDR. Er tourt umher, kann davon mit seiner Familie in Berlin leben. Aber in den „Best of 80s“-Sendungen im Fernsehen fehlt er genauso wie andere für den Umbruch wichtige Bands wie „Pankow“ oder „Silly“, ohne dass das jemandem in Mainz oder Hamburg hinterher auffällt oder vorher einfällt. „Wir dürfen unseren Indianertanz aufführen in einer Extrasendung.“ Auch über den Wolken ist die Freiheit nicht grenzenlos.
Immerhin zwischen den Zeilen leben die Gefühle fort. Erst in dieser Woche hat ihm eine Frau eine E-Mail geschrieben, erzählt Michaelis begeistert. Sie hatte ihren heutigen Mann einst zufällig in der Bahn kennengelernt, am nächsten Abend gingen sie aus, in der Bar legte der DJ eine langsame Runde ein, sie tanzten, küssten sich, weil eben nichts unendlich ist, nicht einmal die Einsamkeit. Heute haben sie zwei Kinder. Bei ihrem Sohn singt Michaelis jetzt auf der Jugendweihe als Überraschungsgast, sein unvergängliches Lied vom Vergehen der Zeit.
Und so geht das Leben gut weiter. Kehr wieder um?
„Nimm an ihrem Kummer teil. / Mach sie heil.“