75 Jahre Tagesspiegel: Als Honecker den längsten Leserbrief aller Zeiten in Auftrag gab
Aufregung über „DDR-Wirtschaft auf Talfahrt“: Das „Neue Deutschland“ veröffentlichte im August 1989 eine anderthalbseitige Replik auf einen Tagesspiegel-Text.
Für Claus Krömke endete sein Ungarn-Urlaub an diesem 31. Juli 1989 abrupt. Unmittelbar nach seiner Landung, noch auf dem Flughafen Schönefeld, bekam er einen Umschlag ausgehändigt. Darin befand sich ein Dossier mit Wirtschaftsdaten der DDR, ein Anschreiben von Günter Mittag, Politbüromitglied und oberster Wirtschaftslenker der DDR – und ein Artikel aus dem Tagesspiegel.
„Die verwaltete Krise“ lautete die Schlagzeile des Aufmachers im Sonntagsteil, die Unterzeile wurde konkret: „DDR-Wirtschaft auf Talfahrt“ stand da, und weiter „Reformdiskussionen gehen an der Partei vorbei“.
Krömke, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst, fuhr gar nicht erst nach Hause, sondern direkt zum Gebäude des ZK am Werderschen Markt.
Dort erwartete ihn sein Chef Günter Mittag und erklärte, der Angriff des Klassenfeindes müsse sofort zurückgewiesen werden. Und zwar auf ausdrücklichen Wunsch des Genossen Erich Honecker.
Honecker hatte bereits einen Tag Zeit gehabt, sich zu ärgern. Seit er seine persönliche Zeitungsmappe vom Sonntag studiert hatte. Darin befanden sich wie immer Ausschnitte aus den wichtigsten Westzeitungen, namentlich aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dem „Handelsblatt“ und dem Tagesspiegel, letzterer nicht zuletzt wegen seiner Berlin- und DDR-Berichterstattung.
Wahrscheinlich waren es noch mehr, aber an diese drei erinnerte sich Krömke in einem persönlichen Gespräch, das er vor 15 Jahren mit dem Tagesspiegel führte. Er war damals 75.
Im Juli 1989 zeichneten sich bereits Reformen in der Sowjetunion ab, in Polen hatte es gerade Neuwahlen gegeben, und Ungarn öffnete seine Grenze. Doch in der DDR stand die Mauer felsenfest, so schien es wenigstens. Und nun behauptete da eine gewisse Ute Reinhart, dass der ostdeutsche Staat auf ökonomischer Talfahrt sei, in einer Innovationskrise stecke und bildungspolitisch in Bezug auf die Studentenzahlen hinter die Mongolei zurückgefallen sei.
Eine Erwiderung sollte her
„Wer ist Ute Reinhart?“, war eine der ersten Fragen des Tagesspiegel-Lesers Erich Honecker. Doch die Stasi musste passen. Es handelte sich im Wortsinn um ein unbeschriebenes Blatt. „Wir kannten die nicht“, bestätigte Krömke später und tat wie ihm geheißen. Eine Erwiderung sollte her. Zwei Tage später druckte das „Neue Deutschland“, damals Zentralorgan der regierenden SED, seine Antwort, sie fiel um einiges länger aus als der Artikel im Tagesspiegel. Und der hatte schon eine Seite umfasst.
Krömke gestand später ein, wie schwierig seine Aufgabe gewesen war. Die Warteliste auf einen Trabant oder einen Wartburg, Autos aus DDR-Produktion, wurde ja tatsächlich immer länger.
Auch die Verschuldung stieg stetig, und schrottreife Industrieanlagen gab es wirklich. Nun musste er also darlegen, warum das nicht so war, und die Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft begründen. Er selbst unterschrieb den Artikel mit C.K., daneben stand D.B., das Kürzel des stellvertretenden Chefredakteurs Dieter Brückner.
Plötzlich interessierten sich alle für den Artikel
Lothar Heinke, später langjähriger Tagesspiegel-Redakteur, war damals noch beim Ost-Berliner „Morgen“. Er schilderte später, wie groß die Verwunderung in seinem Kollegenkreis war. Kaum jemand kannte den Artikel im Tagesspiegel, der in Ost-Berlin nur ausgewählten Kreisen zugänglich war.
Aber jeder sah nun die Riesenreaktion unter der Titelzeile „Die Krise der Ute Reinhart und die Wirklichkeit der DDR“, der ausdrücklich Bezug auf den Tagesspiegel nahm. Und somit für sich in Anspruch nehmen durfte, der längste jemals veröffentlichte Leserbrief zu sein.
Der Artikel bewirkte vor allem eines: Alle, von der „FAZ“ bis zur britischen BBC, interessierten sich plötzlich für das Original und für Ute Reinhart. Denn die überdimensionale Reaktion konnte nur bedeuten, dass hier jemand einen Wirkungstreffer gelandet hatte. Vor allem die Formulierungen „DDR Wirtschaft auf Talfahrt“ und „Diskussion geht an der Partei vorbei“, lösten Alarm aus, erinnerte sich später Claus Krömke.
Der ehemals festgefügte Ostblock geriet in Bewegung
Wer nun aber war Ute Reinhart wirklich? Die sagte später, dass die DDR tatsächlich nicht zu ihrem Spezialgebiet gehört hatte, weshalb sie für die Stasi eine Unbekannte blieb. Erst auf dem Kirchentag im Juni in Berlin, auf dem es einen Ost-West-Dialog gegeben hatte und an dem Gemeindemitglieder aus der DDR teilnehmen durften, war sie mit dem anderen deutschen Staat in Berührung gekommen.
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Die Diplomvolkswirtin begann alle zugänglichen Materialien zu studieren und verfasste schließlich als freie Journalistin ihren Beitrag. Den befand die damalige Sonntags-Redaktion für so interessant, dass sie ihn sofort abdruckte, passte er doch in eine Zeit, in der der ehemals so festgefügte Ostblock in Bewegung geriet.
Unmut über die Hetze des Westens
Krömkes Antwort im „Neuen Deutschland“ reichte der SED-Führung immer noch nicht. Der Beitrag wurde in mehreren DDR-Blättern, darunter auch im „Morgen“, nachgedruckt, und es gab noch eine Fortsetzung. Am 3. August äußerte das werktätige Volk seinen Unmut in den Leserbriefspalten des „Neuen Deutschland“ über die Hetze aus dem Westen, die es eigentlich gar nicht hätte zur Kenntnis nehmen können. Zwei Zeitungsspalten mit Zuschriften erschienen, in denen Leser ihre Verbundenheit mit der DDR kundtaten, sich jede Einmischung von außen verbaten.
Nur einen Tag später musste die „Ständige Vertretung“ der Bundesrepublik in Ost-Berlin wegen Überfüllung geschlossen werden, nachdem dort 130 DDR-Bürger Zuflucht gesucht hatten. In den nächsten zwei Wochen geschah ähnliches in den westdeutschen Botschaften in Prag und Budapest. Die BBC machte Ute Reinhart ausfindig und führte mit ihr ein Interview. Die erste Frage lautete: „Wann kommt die Wiedervereinigung?“. Darüber wollte sie sich jedoch im August 1989 kein Urteil erlauben.
Claus Krömke äußerte später seine Enttäuschung darüber, dass Erich Honecker zu diesem Zeitpunkt jede Veränderung ablehnte, erst recht angesichts des bevorstehenden 40. Geburtstages der DDR, an dem man auf die zurückliegenden Erfolge verweisen wollte.
Andreas Austilat