Alternative Geschichte: Als die DDR zum Weltmarktführer wurde
„Die Mauer wird in 100 Jahren noch stehen“, sagte Erich Honecker am 19. Januar 1989. Wie sähe Ost-Berlin aus, wenn er Recht behalten hätte? Ein Gedankenspiel
Zunächst mal waren alle Anwesenden baff und wurden blass und blässer, als der Staatsratsvorsitzende in seiner Rede zur Eröffnung des Thomas-Müntzer-Gedenkjahres seine berüchtigten Worte sprach, dass die Mauer noch „in fünfzig und auch in hundert Jahren bestehen bleibt, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind“.
Irgendwie muss E. H. an seinen Ziehvater Walter Ulbricht gedacht haben, der ja auch mit seiner Lüge „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ die Leute verschreckt und zur Landflucht ermuntert hatte. „Der Letzte macht das Licht aus“, sagten wir und heulten bei Abschiedsfeten mit Freunden und Kollegen. Auf Nimmerwiedersehn?
„DDR si, Kohl no“
So kann es nicht weitergehen!, befand das Politbüro, entmachtete Erich Honecker und schob dessen Ziehsohn Egon Krenz ins helle Rampenlicht. „Es muss etwas geschehen“, sprach Herr Krenz, der unter der Last der Verantwortung sichtlich kurz vor dem Zusammenbruch stand. Er dachte an die vorbildliche Familienhierarchie im ebenfalls geteilten Korea, griff zum Hörer und rief den Enkel Erich Honeckers an.
„Ja, hier ist Roberto Yanez Betancourt?“ „Traust du dir zu, das Erbe deines Großvaters anzutreten?“ Der gewitzte Roberto sagte begeistert Ja!, „DDR si, Kohl no“. Aber er wolle eine andere DDR als die von Opa, eine mehr wie die von Christa Wolf, also frei und unabhängig, weltoffen, human. „Mit Beat und solchen Sachen.“ Egon Krenz wurde ganz still, aber angesichts der Lage sagte er: „Okay, Comandante, wir regeln das.“
Per Referendum wird das auf 17 Millionen zusammengeschmolzene Volk befragt: Wollt ihr den neuen Comandante haben? Und 62 Prozent entschieden sich für die Heimat-Variante: „Wir bleiben hier und danken dir!“ Auf Roberto und sein Kabinett wartete viel Arbeit. Der politische Jungspund versuchte, den Staat vom Kopf auf die Beine zu stellen. Eine plötzlich ganz freie Presse durfte schreiben, was sie wollte, „bitte nur nicht so schlecht über meinen Opa!“.
Von neuen Ministern, die zuvor in den feuchten Kellern der Altbauten in Prenzlauer Berg Flugblätter gedruckt hatten, kamen so fixe Ideen ins Land wie frische Eier in die Läden. Die DDR2 erfand die Mietpreisbremse und den E-Trabi, der zum Exportschlager wird. Neue Betriebe blühen auf, junge Erfinder (sog. Hipster) erdenken allerlei überflüssiges Zeug – es herrscht Aufbruchstimmung im Land, zumal die neue DDR durch einen Coup Reisedevisen für ihre Bürger erwirtschaftet: Der erste Deutsche im All, Sigmund Jähn, leitet die Entwicklung eines Satelliten, der Forschungsdaten aus dem Westen abschöpft. Einem Oberschüler der EOS „Manfred von Ardenne“ gelingt es, daraus ein Betriebssystem zu entwickeln, das Windows und Apple intelligent verbindet – und die US-Wirtschaft in eine schwere Rezession stürzt. Der Quellcode der Software ist Staatsgeheimnis.
Kooperation steht an erster Stelle
Durch ihre Weltmarktführerschaft bei digitalen Spionage- und Überwachungssystemen erwirtschaftet das Ministerium für Staatssicherheit – mittlerweile zum Innovations-Hub aufgestiegen – so viel Geld, dass die DDR ihre eigene Währung (den EC = „Euro Convertible“) in Umlauf bringt: Das Geld aus der Berliner „Münze“ mit dem langen Fernsehturm auf der Vorder- und Friedrich dem Großen auf der Rückseite ist bald auch im Westen als Zahlungsmittel anerkannt. Mit dem Verkauf ihrer Software-Entwicklungen finanziert die DDR übrigens die manchmal etwas übertriebenen Auslandsreisen ihrer Bürger. („Kollegen, wieso schon wieder Hawaii? Ist es nicht auch in Oberwiesenthal sehr schön? Und billiger!“)
Ach, die Wirtschaft! Längst ist der Osten gleichauf mit dem Westen. Befreit von planwirtschaftlichen Zwängen steht auf vielen Sektoren die Kooperation an erster Stelle. Dafür sorgen die regelmäßigen Treffen der Konzernchefs und Kombinatsdirektoren, einer sei des anderen Freund, aber „gemeinsam müssen wir gegen den imperialistischen Feind zusammenstehen“, sagt ein Ost-Ökonom der dpa, und er lässt offen, ob er China oder die USA meint.
Kleinkapitalisten lässt die DDR gewähren. Einst enteignete Betriebe werden vielfach von ihren früheren Besitzern zurückgekauft und ausgebaut, ihre Produkte bereichern nun den Markt in beiden Teilen Deutschlands. Das Paradebeispiel ist natürlich Rotkäppchen-Sekt, aber auch der einst in Zerbst produzierte Stichpimpulibockforcelorum lebt weiter – Katharina die Große soll den süffigen Kräuterschnaps schon auf ihrer Reise nach St. Petersburg genossen haben.
Und Berlin? Wird prächtig ausgebaut: Glaspaläste in der Friedrichstraße, internationale Popstars im Palast der Republik, Hochhäuser am Alex, der öffentliche Wohnungsbau boomt. Die Mauer steht zwar noch, aber eigentlich nur für die Touristen – und sie ist sehr durchlässig. Nur ein Mausoleum in Schönefeld für „Die Großen Deutschen“ wird nie fertig, auch wegen des Streits, wie weit Adenauer und Ulbricht voneinander getrennt liegen dürfen und ob die Entrauchung funktioniert.
Roberto Betancourt hatte im Tempo der Veränderungen noch Zeit, sein Buch „Ich war der letzte Bürger der DDR“ zu schreiben. Nun ist Nr. 2 in Vorbereitung: „Ich bin der erste Regierungschef der DDR“. Darin beschreibt er die Treffen mit anderen Staatslenkern, gibt preis, dass er öfter mit Angela Merkel telefoniert („Sie ist zwar geflüchtet, aber sie bleibt eine von uns“), und verrät, dass der Agentenaustausch nun am Potsdamer Platz im Weinhaus Huth stattfindet. Der Berliner nennt das fortan „Schlapphuthaus“.
Momentan möchte der umtriebige Roberto erreichen, dass die Nationalhymne der DDR zum gesamtdeutschen Feierlied wird: „Schließlich ist die Zeile ,... lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland‘ höchst aktuell.“ Die Bundeskanzlerin sagt dazu weder Ja noch Nein. Sie sagt nur: „Roberto, wir schaffen das!“
Und wie sähe West-Berlin aus, wenn Erich Honecker Recht behalten hätte? Das lesen Sie unter diesem Link.
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