7. Oktober 1989: Der letzte Tanz der Totgesagten beim 40. Geburtstag der DDR
Mit Paraden und Parolen wird der 40. Geburtstag der DDR gefeiert. Vergangenheit und Zukunft haben ein Rendezvous in Ost-Berlin. Am 7. Oktober 1989 rufen Menschen nach Freiheit und „Gorbi“ – sie werden verprügelt. Und ein Chor singt „Wach auf“.
Na, wer erinnert sich noch? Der 9. November 1989 ist den meisten Menschen in Ost und West als historisches Datum gegenwärtig: Wo war ich an jenem Abend? Wie habe ich das erfahren? Bin ich gleich losgerannt? Wohin? Oder lag ich, während die anderen schon über den Kudamm tanzten, ahnungslos in Morpheus’ Armen? Geschichten ohne Ende.
Aber der 7. Oktober? Der 40. Jahrestag der DDR? Ein herbstlich-kühler Sonnabend, ein Tag, von dem heutzutage kaum jemand spricht. Obwohl die Hauptstadt der DDR damals vor 25 Jahren zu kochen schien. Es war ein Tag voller Widersprüche, an dem die Gegensätze aufeinanderprallten. Der Tag mit dem Rendezvous von Vergangenheit und Zukunft.
"Beide Generalsekretäre umarmten sich brüderlich"
Die DDR nahm sich so wichtig, dass sie ihren 40. Geburtstag zwei Tage lang feierte. Schon am 6. Oktober war das Politbüro früh auf den Beinen, um in Schönefeld die Chefs der Bruderländer zu empfangen. Mit dem größten Airbus landete die leuchtende Sonne des Balkans auf dem Sonderteil Nord, der rumänische Staatschef Nicolae Ceausescu, während Michail Gorbatschow und Frau Raissa mit einer IL 62 einschwebten. „Beide Generalsekretäre umarmten sich brüderlich“, meldete die Zeitung. Es schmatzte ein wenig. Zuvor hatte ein Journalist aus ein paar Metern Entfernung Herrn Honecker gefragt, wie es ihm gehe. „Totgesagte leben länger“, gab der SED-Chef lachend zurück und meinte wohl nicht nur sich, sondern auch sein kleines Land. Später, im Schloss Niederschönhausen, sagte der sowjetische Parteichef zu den SED-Politbürokraten: „Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.“ Welche Worte daraus wurden, ist bekannt.
Zuvor waren die (Ost-)Berliner zum letzten Mal zum Jubeln an die 30 Kilometer lange Strecke von Schönefeld nach Pankow gebeten worden. Diesmal kamen sie gern, denn der Staatsgast war ein Hoffnungsträger, mutig, voller Ideen und aufgeschlossen für Reformen, und er rief den Spalierstehern zu: „Euer Jahrestag ist auch unser Feiertag!“ Erich Honecker wollte das letzte Wort haben und sagte: „So wird es für immer bleiben.“ Nun ja, man soll nie nie sagen, aber „für immer“ ist auch nicht immer gut. Das Volk lästert: Was ist der Unterschied zwischen Honecker und einem Klempner? Der Klempner kommt nicht und Honecker geht nicht.
Gorbatschows Rede erfüllt die Hoffnungen nicht
Nein, er spricht auf der Festveranstaltung, lobt die DDR und damit sich, kein Wort von notwendigen Veränderungen, kein Wort zu den Ausreisenden. „Es wird die Rede eines körperlich Kranken und politisch Uneinsichtigen“, erinnert sich Honeckers Nachfolger Egon Krenz. Leider erfüllt Gorbatschow in seiner Rede keine der Hoffnungen, die die Leute in den Erfinder von Glasnost und Perestroika an diesem Abend gesetzt haben. Die alten Floskeln. Der Chef aus Moskau will seinen deutschen Statthalter nicht öffentlich brüskieren. Der ist sauer, weil die Jugend mit den Fackeln in der Hand „Gorbi! Gorbi!“ ruft und nicht „Honni Honni“. Dabei wetzen die meisten Politbüroleute schon die Messer, zwölf Tage später würden sie ihn stürzen. Noch aber ist er Chef und staucht Krenz zusammen: „Du hast gemeinsam mit dem Zentralrat die FDJ-Mitglieder im Sinne Gorbatschows manipuliert“. Anderes kommt ihm nicht in den Starr-Sinn. „Offene Zweierbeziehung“ heißt das Stück, das an diesem Abend in den Kammerspielen gegeben wird, und ein Jung-Reporter der „Berliner Zeitung“ beginnt seinen Bericht über die „Manifestation der Jugend“ listig mit der Frage: „Sind Fackelzüge noch zeitgemäß? Braucht die Jugend unserer Zeit tausendstimmige Chöre, Fahnenwälder, Trommelwirbel, Hochrufe, um ihre Empfindungen auszudrücken?“. Dann kommt wahrscheinlich der Redakteur, findet das toll, aber setzt ein dickes Ja! als ideologisch reines Schwänzchen hintendran.
Einig Vaterland kommt später
Der 40. Gründungstag der DDR beginnt, wie der „Vorabend“ geendet hatte – mit einer Demonstration. Diesmal ruft keiner „Gorbi!“, Waffen können nicht sprechen. Die bestahlhelmten „Kämpfer unserer Nationalen Volksarmee“, Soldaten in ihren Knobelbechern, wieder flatternde Fahnen, Panzer, Kanonen und Raketen, all der ganze gefährlich-aggressive Kram, sollen zeigen, dass sie immer bereit sind zum Schutz der Errungenschaften. Die Demonstration der Macht wirkt noch bedrohlicher als sonst an Fest- und Feiertagen in der Karl-Marx-Allee, nach dem Ja! der SED zum Angriff des Staates auf Oppositionelle in China war auch bei uns Schlimmes zu befürchten. Auf der Pressetribüne fragt ein West-Kollege, ob dies die letzte Demonstration dieser Art sein könnte. Ja! Das wird sich schon am Abend zeigen.
Der Herbst der Entscheidungen hat begonnen. „Es führt kein Weg zurück“, ein Film aus den USA, läuft abends im DDR-Fernsehen. Nachmittags herrscht auf dem Alexanderplatz Jubel, Trubel beim Volksfest zum Feiertag. Es ist üblich, dass sich an jedem Siebten eines Monats Bürgerrechtler beharrlich auf dem Alex treffen, um auf die Wahlmanipulationen am 7. Mai aufmerksam zu machen. Diesmal vermischen sich die Demonstranten mit ihren Trillerpfeifen („Wir pfeifen auf die Wahlen“) und die Feierlustigen, aber die Herren mit ihren Henkeltäschchen sind schon da. Die Protestantenschar wird immer größer, sie zieht in Richtung Palast der Republik, wo sich die Staatsführung und ihre Gäste zum offiziellen Festakt getroffen haben. Die Thomaner singen „Friede sei im Lande“ und die Staatsoper steuert den „Wach-auf“-Chor bei. Draußen rufen die Aufgewachten nach Gorbi, sie skandieren nicht mehr wie zuvor „Wir wollen raus“, sondern „Wir bleiben hier“. Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg. Einig Vaterland kommt später.
"Es war gespenstisch. Überall herrschte eine gedrückte Stimmung"
Der Palast ist hell erleuchtet und von Volkspolizisten umstellt. Drinnen beginnt die Schlacht am Kalten Buffett. Für die Sänger Dagmar Frederic und Jochen Kowalski ist die real existierende Situation ziemlich kafkaesk: Ein Staat feiert sich mit seinen hohlen Phrasen, draußen vor der Tür rufen Tausende nach „Freiheit!“ und verlangen ihren Hoffnungsträger. Carl-Heinz Janson, Mitglied der Wirtschaftskommission des Politbüros, berichtet darüber im Buch „Das Komplott“: „Es war gespenstisch. Überall herrschte eine gedrückte Stimmung, ein Hauch von Götterdämmerung. Es war wie auf der ’Titanic’. Jeder spürte, dass es fünf Minuten nach zwölf war.“ Der Große Saal im Palast leerte sich. Erich allein zu Haus. Mielke fuhr zur Schönhauser Allee, wo Volkspolizei und Stasi ihre Knüppel aus dem Sack holten. Kaum war Gorbatschow in Schönefeld in die Luft gegangen, gab Mielke den Befehl aus: „Jetzt ist aber endlich Schluss mit dem Humanismus.“ Rund um die Gethsemanekirche begann eine Menschenjagd, wie sie Ost-Berlin und auch später Leipzig, Dresden und Karl-Marx- Stadt so noch nicht erlebt hatten. Im Kino Babylon gab es an diesem Abend den Film „Die Russen kommen“. Aber der Große Bruder hatte mit sich zu tun. „Ist das etwa der 17. Juni?“ fragte der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit. Noch nicht ganz. Aber es war nah dran.
In den Zeitungen erscheint eine 16-Zeilen-Meldung: „In den Abendstunden des 7. Oktober versuchten in Berlin Randalierer, das Volksfest zum 40. Jahrestag der DDR zu stören. Im Zusammenspiel mit westlichen Medien rotteten sie sich am Alex und Umgebung zusammen und riefen republikfeindliche Parolen. Der Besonnenheit der Schutz- und Sicherheitsorgane sowie der Teilnehmern an den Volksfesten ist es zu verdanken, dass beabsichtigte Provokationen nicht zur Entfaltung kamen. Die Rädelsführer wurden festgenommen.“ Hunderte landen in Polizeikasernen und im Knast, viele andere gehen in die von Kerzen erleuchtete Gethsemanekirche. Die Opposition unter dem Dach der Kirche wird immer größer. Schon hat man kaum noch Angst, wenn „Kennzeichen D“ die Szenerie filmt. Hier werden die neuesten Nachrichten von der Front der Veränderungswilligen verlesen.
Der Maler und Grafiker Manfred Butzmann aus Pankow schildert, wie er mit dem Fahrrad in die Pappelallee fuhr. „Um 23.15 kam der Räumungsbefehl, und sofort begannen die ’Zuführungen’. Auf mich stürzten sich mehrere Volkspolizisten, sie rissen und schlugen mich von meinem Fahrrad, das ich festhielt. Ich bekam mehrere Schläge auf die rechte Hand und den linken Oberschenkel.“ Dann wird er zu einem Bus gebracht, ein junger Mann wird geprügelt, ein älterer bekommt einen Schlag auf den Kopf, weil er „menschliches Benehmen“ angemahnt hatte. Dann mussten sie vier Stunden in eine Garage im Knast in Rummelsburg stehen, ehe 46 Mann in eine fensterlose Zelle im Keller gesperrt wurden. Ist das der Sozialismus in den Farben der DDR?
Man nimmt Fingerabdrücke, Fotos und sogar eine Geruchskonserve
Die Mauer bröckelt. Honecker setzt den visafreien Verkehr in die CSSR aus, in Dresden und Karl-Marx-Stadt stürmen „unsere Menschen“ die Züge mit DDR- Bürgern aus den BRD-Botschaften in Prag oder Warschau. In Schwante bei Berlin trinken Bürgerrechtler ein Bier auf eine neue Partei: Die SDP als Ost-SPD. Und Mielke weiß Bescheid. Der zum Chef-Sozialdemokrat Ost auserkorene Ibrahim Böhme ist Briefträger für die Stasi.
Eine verrückte Zeit, in der zwei Mädchen-Geschwister, 20 und 12 Jahre alt, verhaftet werden. Man nimmt Fingerabdrücke, Fotos und sogar eine Geruchskonserve. Die 20-jährige muss drei Monate ins Gefängnis – sie hatte handgeschriebene Zettel in ihrem Wohngebiet angebracht. Überschrift: Werdet aktiv! Text: „Tausende von Bürgern verlassen unser Land, Demonstrationen werden niedergeknüppelt, eine Opposition ist illegal. Eine greise starre Regierung feiert sich in unglaublicher Weise und stellt sich blind – taub – stumm. Nur wenn alle endlich den Mund aufmachen und gemeinsam handeln, gibt es für unser krankes Land Hoffnung.“ Einen guten Monat später fällt die Mauer. Der Tag der Republik ist Geschichte. Gefeiert wird nun das große Ganze – am 3. Oktober.
Lothar Heinke