Interview mit Roland Jahn: Als die Bürger die Stasi-Zentrale stürmten
Zum 25. Jahrestag der Erstürmung der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg findet ein Tag der offenen Tür statt. Unsere Jugendredaktion hat sich mit Roland Jahn über die NSA, die Aufarbeitung der Akten und die Abwägung von Freiheit und Sicherheit unterhalten.
Roland Jahn, Jahrgang 1953, ist seit März 2011 Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Aufgewachsen in der DDR, protestierte er gegen das sozialistische Regime und kam dafür ins Gefängnis. 1983 wurde er aus der DDR zwangsausgebürgert. Vom Westen aus unterstützte er die DDR-Opposition, als Bundesbeauftragter ist er nun mit seiner Behörde für die Aufarbeitung der Tätigkeit des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zuständig.
Der ehemalige NSA-Chef Keith Alexander hat mal gesagt: „Man braucht den Heuhaufen, um die Nadel darin zu finden.“ Lässt sich das auch auf die Stasi übertragen?
Die Stasi hat zielgerichtet Informationen gesammelt, sie hat aber auch sehr umfassend das Land und die Menschen in den Blick genommen. Stasi-Chef Mielke hatte den Satz geprägt: „Genossen, wir müssen alles wissen.“ Und das war das Motto, nach dem die Stasi vorgegangen ist.
So geht die NSA ja eigentlich auch vor...
Ja, aber deswegen kann man sie trotzdem nicht gleichsetzen. Weil NSA und DDR-Staatssicherheitsdienst einen grundsätzlich unterschiedlichen Ansatz haben. Ein Geheimdienst in einer Demokratie ist dazu da, Freiheit und Menschenrechte zu schützen. Die Geheimpolizei in der DDR hatte die Macht einer Partei, der SED, zu sichern – mit Hilfe von Menschenrechtsverletzungen.
Ist Abhören nicht generell eine Menschenrechtsverletzung?
Nein. Menschenrechtsverletzungen setzen dort ein, wo Abhören keine rechtsstaatliche Grundlage hat. Natürlich ist immer die Frage, inwieweit man eine Methode wie Abhören einsetzt. Die Frage ist ja grundsätzlich: Wie viel Freiheit darf ich einschränken, um Freiheit zu schützen?
Was ist wichtiger, Freiheit oder Sicherheit?
Im Spannungsfeld Freiheit oder Sicherheit gilt es in einer Demokratie abzuwägen. Und die Demokratie muss Regeln entwickeln, mit denen die Freiheit in der Gesellschaft geschützt wird. Das abzuwägen ist ein Prozess mit ständigen Diskussionen. Aber eines ist doch klar: Die Freiheitsrechte gilt es hochzuhalten, und sie dürfen nur in einem Maß eingeschränkt werden, das Grundrechte nicht verletzt.
Edward Snowden hat darauf hingewiesen, dass in den USA diese rechtsstaatlichen Grenzen überschritten werden.
Die Gefahr ist immer da, dass auch in einem Rechtsstaat Regeln missachtet werden, dass ein Geheimdienst seine Möglichkeiten missbraucht. Da steht die Demokratie auf dem Prüfstand: Wie weit ist die sie mit ihren Instrumenten in der Lage, diese Übergriffe zu beenden?
Aber einen transparenten Geheimdienst kann es ja auch nicht geben. Denn dann wissen davon ja auch die Feinde der Demokratie.
Das ist ein Widerspruch in sich. Transparenz und Geheimdienst, das passt nicht zusammen. Aber das ist die Herausforderung, die demokratische Kontrolle der Geheimdienste sicherzustellen. Das ist die Aufgabe der Politik.
Sie beschäftigen sich mit den Methoden eines ehemaligen Geheimdienstes. Finden Sie auch heute noch neue Informationen?
Wir haben es hier mit Hinterlassenschaften von 111 Kilometern Akten zu tun. Gerade die Forscher haben immer wieder neue Betrachtungsweisen und neue Zugänge. Dieses Archiv ist eine Quelle von unschätzbarem Wert.
Ihre Arbeit ist ja nicht nur für die Opfer der Stasi wichtig, sondern auch die Zukunft, damit sich so etwas nicht wiederholt.
Ich denke schon, dass uns diese Akten, die in der SED-Diktatur immer geheim waren, auch Antworten für die Gegenwart geben können. In dieser Hinsicht können wir auch für Gefahren sensibilisiert werden, die uns für die Freiheit hier und heute drohen. Aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen ist eine Chance, die wir uns nicht entgehen lassen sollten.
Gibt es seit den Enthüllungen von Edward Snowden ein größeres Interesse, sich auch in Deutschland mit der Vergangenheit zu beschäftigen?
Das lässt sich schlecht bewerten. Wir können nur feststellen, dass die Anzahl der persönlichen Akteneinsicht-Anträge immer noch sehr hoch ist. Es werden über 5000 pro Monat gestellt. Ganz viele Forscher und Medien, die die Akten zur Aufklärung über die Herrschaftsmechanismen in der DDR nutzen wollen, stellen ebenfalls Anträge. Wir haben viele Diskussionen, auch mit jungen Leuten. Die setzen das natürlich zu ihrer eigenen Erlebniswelt in Bezug und stellen die Frage: Welche Gefahren drohen uns im Internet, dass die Daten missbraucht werden?
Hätte es die Wende gegeben, wenn die Stasi die Möglichkeiten von heute gehabt hätte?
Die technische Entwicklung hätte ja nicht nur die Stasi genutzt, sondern auch die Opposition. Die Menschen hätten Vorteile mit der Nutzung des Internets und der Kommunikation gehabt. Es hätte die Revolution vorangetrieben.
Also egal, wie technisiert und hoch ausgerüstet der Geheimdienst ist – wenn es den Willen der Bevölkerung gibt, kann man jedes System stürzen.
Richtig. Auch gerade, weil das Informationsmonopol der herrschenden Partei in der DDR eine Säule der Diktatur war und weil dieses Informationsmonopol aufgebrochen wurde, konnte die Demokratisierung beflügelt werden.
Das Entscheidende ist ja, dass die Menschen in der DDR irgendwann wussten, dass sie abgehört wurden, und das System dann hinterfragt haben. Glauben Sie, dass das auch in der Gegenwart passieren könnte?
Es ist immer gut, das System zu hinterfragen. Das Wesen der Demokratie ist, dass wir auf der Grundlage von Menschenrechten streiten können, welches der beste Weg in der Gesellschaft ist.
Die Herrschenden müssen sich ja auch hinterfragen ...
Ja, selbstverständlich. Eine wesentliche Säule der Demokratie ist das Hinterfragen auf der Grundlage von Menschenrechten. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit – das sind doch die Grundlagen der Auseinandersetzung. Und am Ende muss es eben die Möglichkeit geben, die Regierenden abzuwählen. Die gab es in der DDR nicht. Dort konnten wir nicht über die Aktivitäten der Stasi diskutieren. Da konnten wir keine Auseinandersetzung in der Presse darum führen, welche Machenschaften die Stasi hier an den Tag gelegt hat. - Die, die das gemacht haben, landeten im Gefängnis.
Und warum setzen sich die USA, wenn sie eine Demokratie sind, nicht mit Edward Snowden an den Tisch und reden mit ihm, statt ihn zu verfolgen?
Das ist so ein Punkt, wo hinterfragt werden muss: Geht man mit den Problemen unserer Demokratie angemessen um? Nun regeln das die Staaten unterschiedlich, und auch da muss immer ein Fragezeichen gesetzt werden. Aber das auf der Grundlage von Regeln. Wir haben einen Rechtsstaat, der immer verbessert werden kann, aber der regelt erst mal klar und deutlich, was erlaubt und was verboten ist.
Kommen wir noch mal zu Ihrer Behörde zurück: Wie lange wird die Erfassung dieser 111 Kilometer Akten noch dauern?
Von den 111 Kilometern sind 105 erschlossen. In dem Sinne gibt es also noch ein bisschen was zu tun. Jetzt geht es darum, diese Akten bestmöglich zur Verfügung zu stellen.
Es geht ja auch um juristische Aufarbeitung. Es gibt immer wieder diese Prominenten, bei denen man eine Stasi-Vergangenheit vermutet.
Dafür sind die Akten natürlich auch da, Verantwortung festzuschreiben für das begangene Unrecht in der SED-Diktatur. Auch da können Akten helfen. Mag sein, dass strafrechtlich fast nichts mehr geht, aber aus der politischen Verantwortung ist niemand entlassen, der im Unrechtssystem dazu beigetragen hat, dass Unrecht geschieht.
Am 17. Januar ist der Bürgertag in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Hohenschönhausen. Welche Veranstaltung empfehlen Sie besonders?
Am 15. Januar 1990, vor genau 25 Jahren, wurde zum ersten Mal auf der Welt die Zentrale einer Geheimpolizei von Bürgern besetzt und die Akten gesichert. Das ist die Grundlage dafür, dass wir die Akten bis heute nutzen können. In dieser Hinsicht ist ein Bürgertag in der ehemaligen Stasi-Zentrale etwas Besonderes. Es ist der Ort, zu dem man damals nicht konnte, eine geheime Stadt im Bezirk Lichtenberg. Jetzt offen über das Gelände zu gehen, das Archiv zu besuchen und auch durch das Büro des gefürchteten Stasi-Chefs Mielke zu gehen – das ist schon ein einmaliges Erlebnis.
Und dazu sind alle herzlich eingeladen. Es gibt natürlich zusätzlich Veranstaltungen, es gibt Podien, Filme. Es wird auch über gegenwärtige Fragestellungen diskutiert. Was können wir aus der Vergangenheit für die Beschäftigung mit Geheimdiensten hier und heute lernen? Es gibt ein sehr vielfältiges Angebot, das für junge Leute, die nach dem Ende der DDR geboren wurden, genauso interessant ist wie für die Menschen, die damals die Zeit erlebt haben.
Oder auch aus dem Westen ...
Also uns wird immer wieder deutlich, dass die Aufarbeitung des Wirkens der Stasi eine gesamtdeutsche Angelegenheit ist. In der Hinsicht ist das sowohl für Ost als auch für West interessant. Ich war vor 25 Jahren bei der Besetzung der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg als Journalist aus dem Westen dabei, und habe immer noch die Gesichter der Menschen in Erinnerung, die das als einen befreienden Akt gesehen haben, dass sie hier Schild und Schwert der SED zerbrochen haben. Die Menschen waren den Repressionen und Blicken der Stasi ausgesetzt, sie war das Werkzeug der SED, damit sie als Partei ihre Macht im Staat erhält.
Und 1989 ist dann die Ohnmacht der Menschen aufgebrochen ...
Das ist das Entscheidende, dass die Angst überwunden worden ist. Und wenn die Angst vor dem Regime verloren geht, dann ist die Diktatur am Ende.
Der Bürgertag - 25 Jahre Ende der Stasi findet am 17. Januar von 11 bis 19 Uhr in der ehemaligen Stasi-Zentrale, Ruschsestraße 103 in Berlin-Lichtenberg statt. Das Programm finden Sie unter www.bstu.bund.de
Mit Roland Jahn sprach Johann Stephanowitz (16) aus unserer Jugendredaktion "Schreiberling". Weitere Beiträge finden Sie auf www.facebook.de/Schreiberlingberlin oder bei www.twitter.com/schreiberling_.
Johann Stephanowitz
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