"Wir Angepassten": Die DDR erzählen - dazu will Roland Jahn Mut machen
Roland Jahn beschreibt in seinem Buch "Wir Angepassten" Leben und Überleben in der DDR - und will andere dazu anregen, das auch zu tun. Denn "offen zu erzählen kann befreiend sein".
Von ihm hätte man das nicht erwartet. Nicht von einem, der jahrelang gegen das SED-Regime opponiert hatte, dafür von den Machthabern gepeinigt, seiner beruflichen Zukunft beraubt, schließlich aus der Heimat vertrieben wurde. Von dem Dissidenten und Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen hätte man nicht gedacht, dass er sich einreiht in die Masse der Mitläufer, der Gesichtslosen und Kompromissler und ihnen eine Stimme gibt: „Wir Angepassten – Überleben in der DDR“ ist der Titel von Roland Jahns Buch.
Die meisten ehemaligen DDR-Bürger sehen sich weder als Opfer noch als Täter
Doch wer sich wundert, dass ein Opfer des Systems sich in seinem stark autobiografisch geprägten Buch nicht anheischig macht, die Täter zu verdammen, sondern sich in das Phänomen der Anpassung an eine Diktatur zu vertiefen, hat wenig von diesem Mann gehört und gelesen. Auch in Interviews mit dieser Zeitung hat Jahn immer wieder deutlich gemacht, dass diese DDR nicht zu verstehen ist, wenn man sie auf die Opfer und Täter reduziert: „Die Mehrheit der Menschen, die in der DDR gelebt haben, kann sich weder mit der Definition eines Täters noch mit der eines Opfers identifizieren. Die großen Debatten über Stasiverstrickung und Diktaturanalyse fegen direkt über ihre Erinnerung hinweg.“ Dieses Defizit ist sein Ansatz. Und das Mittel, es zu beheben, nennt er auch: „Es steckt noch viel Ungesagtes in dieser Vergangenheit. Offen zu erzählen kann befreiend sein“, sind die Sätze zwei und drei des Buches. Jahn will damit „zum Erzählen einladen“. Ihm gehe es „um Aufklärung, nicht um Abrechnung“, schreibt er. „Denn es gibt keinen allgemeingültigen Maßstab über das ,richtige‘ Verhalten in einer Diktatur.“
In der DDR wurde zwischen Anpassung und Widerstand gelebt. Jahn hat die zum Teil quälenden Mechanismen der Anpassung in den Kapiteln zu kategorisieren versucht: vom Entscheiden, wie man die Weichen in seinem Leben stellt. Auflehnung oder Unterwerfung. Vom Eintakten in die staatlichen und ideologischen Muster, das schon im Kindergarten und in der Schule erfolgte. Vom sich selbst (oder von den Eltern) verordneten Schweigen, das einen vor Enttarnung – etwa West-Fernsehen geschaut zu haben – und unliebsamen Konsequenzen schützte. Vom Sichgewöhnen daran, dass man ja doch nichts verrichten könne – etwa gegen diese Mauer, „das unübersehbarste Zeichen der Allmacht der Partei“, deren Existenz man im Alltag verdrängte. Vom Mitlaufen, buchstäblich bei den Demonstrationen am 1. Mai. Vom Unterordnen, weil man sich den als Pflicht empfundenen Unausweichlichkeiten beugte. Erst gegen Ende kommt das Buch zu den meist schweren, manchmal unausweichlichen Momenten der Unangepasstheit: in der es darum geht, Angst zu überwinden und zu widersprechen.
In allem steckt viel Biografisches und Persönliches: wie er selbst mit Inbrunst die Pionierlieder schmetterte; wie ihn seine Seminargruppe entgegen ihrem ursprünglichen Bekunden im Regen stehen ließ, als wegen seiner kritischen Haltung zur Biermann-Ausbürgerung über seine Exmatrikulation von der Jenaer Uni entschieden wurde; wie seine Eltern wegen seiner Auflehnung ständig mit ihm haderten. „Das hat doch keinen Sinn“ oder „Du verbaust dir doch nur deine Zukunft“ waren Sätze, die ihn bändigen sollten.
Eine DDR-Fahne aus dem Fenster hängen - war das verwerflich?
Bei einer Veranstaltung wurde Jahn jüngst von einer 16-Jährigen gefragt, ob es verwerflich gewesen sei, dass ihr Großvater zu DDR-Zeiten die Fahne herausgehängt habe, um seiner Tochter, ihrer Mutter, Schwierigkeiten beim Studium zu ersparen. Jahn fällt die Antwort schwer: „Heute moralische Bewertungen an das Verhalten von damals anzulegen und pauschal zu verurteilten, wird dem Leben in der Diktatur nicht gerecht“, schreibt Jahn und vertieft das Nachdenken darüber mit der Beschreibung des Verhaltens bei den Wahlen: Diesem „freiwilligen Zwang“ nicht zu folgen, bedeutete, auffällig zu werden. „Das hieß: All die vielen kleinen Entschuldigungen und Verbiegungen, die man tat, um doch halbwegs ohne Kollision mit Staat oder Partei durchzukommen, sie konnten mit dem Fernbleiben von der Wahl umsonst gewesen sein.“ Und so ging man hin.
Schmaler Grat zwischen Versöhnung und Verklärung
Roland Jahn mag klar sein, dass er sich mit seinem Buch auf einem schmalen Grat bewegt. So muss er sich von anderen, unversöhnlicheren Zeitgenossen vorwerfen lassen, Vergangenheit zu verklären. Etwa im Fall des einstigen Weltklassehochspringers Rolf Beilschmidt, einem Jugendfreund Jahns, der von 1976 an für einige Jahre als Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi tätig war. Der Leistungssportler und überzeugte SED-Genosse wurde nach seiner aktiven Laufbahn Sportfunktionär in der DDR und ist heute Chef des Landessportbundes in Thüringen. Jahn hält ihm zugute, dass ihn Beilschmidt in den 70er Jahren gewarnt habe, weil die Stasi ihn „auf dem Kieker“ habe. Und er zeigt sogar Verständnis dafür, dass Beilschmidt, als Jahn im nach seiner Ausbürgerung eine Ansichtskarte aus Portugal schickte, das corpus delicti des „Staatsfeindes“ bei seinen Genossen abgab. So viel Toleranz geht der früheren DDR-Spitzensportlerin Ines Geipel gehörig gegen den Strich. Im „Spiegel“ beklagte sie, wenn das für Jahn Aufarbeitung sei, „dann wird diese zur Willkür“.
Anpassung als Abwägung von Nutzen und Risiken. Die Diktatur zwingt die Menschen zu solcherlei schnödem Pragmatismus – und sie sichert auch dadurch ihren Bestand. Jahn verurteilt dieses Verhalten nicht, so wie er sich auch nicht gemein damit macht. „Niemand will ein Anpasser sein. Und doch haben wir es alle getan. Und tun es noch. Damals und heute.“
– Roland Jahn: Wir Angepassten. Überleben in der DDR. Piper Verlag, München 2014. 190 Seiten, 19,99 Euro.