Bonn-Berlin-Beschluss vor 25 Jahren: Als Berlin wieder Weltstadt wurde
Vor 25 Jahren entschied der Bundestag über den Sitz von Parlament und Regierung. Es war eine Debatte voller Leidenschaft – und eine Abstimmung mit knappem Ergebnis.
Das wäre auch möglich gewesen: „Am besten der Bundestag bleibt in Bonn und die Bundesnacht findet in Berlin statt – oder umgekehrt.“ Aber niemand hörte auf Otto, den Ostfriesen, und sein Vorschlag zur Hauptstadtfrage, zu lesen am 20. Juni 1991 an der großen Wandzeitung am damaligen Ku’damm-Eck, schräg gegenüber vom Kranzler, blieb ohne Resonanz.
Der Bundestag tagte an jenem trüben Donnerstag, diesen Montag vor 25 Jahren, ohnehin fern vom Kurfürstendamm im Bonner Wasserwerk, Ersatz für sein morsches Plenargebäude, das einem Neubau weichen musste. Und ihm lagen auch so schon hinreichend Anträge zur Frage „Bonn oder Berlin?“ vor, gleich fünf an der Zahl: der Bonn-Antrag, der Bundespräsident und Bundesrat für Berlin vorsah, Bundestag und -regierung aber weiter in Bonn belassen wollte; der Berlin-Antrag, der den Umzug von Parlament und Regierung bedeutete, jedoch bei „fairer Arbeitsteilung“ zwischen beiden Städten. Auch der Bundespräsident sollte den ersten Amtssitz in Berlin nehmen, der Bundesrat sich aber bitte für Bonn entscheiden.
Eine Gruppe um Heiner Geißler (CDU) wollte in einem Kompromiss Parlament und Regierung splitten: Ersteres nach Berlin, Kanzleramt und Ministerien nach Bonn, während ein separater PDS-Antrag klar auf Berlin-Linie lag. Die SPD-Abgeordneten Peter Conradi und Otto Schily schließlich legten sich da nicht fest, wollten nur, dass Bundestag und -regierung „örtlich nicht voneinander getrennt“ würden.
Eine Vielfalt an Möglichkeiten, die Jahre zuvor, unter dem Eindruck jubelnder Menschen an der geöffneten Berliner Mauer, kaum jemand erwartet hätte. Das Brandenburger Tor, war es nicht das eigentliche Symbol der friedlichen Revolution und Berlin selbstverständlich die künftige Hauptstadt mit allem Drum und Dran? Seit seiner Gründung hatte sich der Bundestag wiederholt für Berlin starkgemacht, damals hatte das nur proklamatorische Bedeutung. Und für Neufünfland, die ehemalige DDR, besaß Berlin als Hauptstadt ohnehin Tradition. Aber der vermeintliche Konsens hatte sich als schöner Traum erwiesen: Bonn oder Berlin – das war eben für viele eine offene Frage.
Der Trend richtete sich klar gegen Berlin
Aber einen Trend gab es schon, nur richtete sich der klar gegen Berlin. Noch wenige Tage vor der Abstimmung hatte es eine dpa-Umfrage unter den Abgeordneten gegeben. Demnach wollten nur 267 Parlamentarier für Berlin, aber 343 für Bonn votieren. Und es gab sogar den Versuch, sich vor der Entscheidung zu drücken und die Hauptstadtfrage per Volksentscheid klären zu lassen – ein Vorschlag der SPD, der am Vorabend des 20. Juni aber vom Bundestag abgelehnt wurde.
Die Stimmung war alles andere als hoffnungsfroh in Berlin. „Wir bereiten uns darauf vor, die Wunden zu lecken“, seufzte etwa Bernd Schultz, Vorsitzender der „Initiative Regierungssitz Berlin“, einer der Vorkämpfer für die Stadt an der Spree, während Friedhelm-Leonhard Lennartz von der Familieninitiative „Mahnwache Brandenburger Tor“ sich ärgerte, dass die Bonner schon vor der Entscheidung eine „Jubeltribüne“ aufgebaut hätten.
In der Berliner CDU, dank der Abgeordnetenhauswahl im Dezember 1990 wieder in Regierungsverantwortung, wollte man gleichwohl so schnell nicht aufgeben. Noch am Vortag der Entscheidung flogen vormittags der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen und der CDU-Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus Klaus Landowsky nach Bonn, um bei Kanzler Kohl zu antichambrieren.
Unangemeldet, mit Diepgen nicht abgesprochen, folgte nachmittags eine rund 30-köpfige Delegation der CDU-Fraktion, um ebenfalls Kohl auf die Pelle zu rücken, der sich den als „demonstrativen Akt“ gemeinten Überfall sogar gefallen ließ, die Berlin-Werber empfing und ihnen versicherte, er stehe zu Berlin, jede andere Entscheidung sei unhistorisch. Aber es gab in der Bundes-CDU, selbst bei den Berliner Bundestagsabgeordneten auch Stirnrunzeln über diesen Versuch, die Abstimmung zu beeinflussen.
Blüm: "Ersparen wir Berlin den Weg in die Megastadt"
Am 20. Juni 1991, um 10 Uhr vormittags, wurde die 34. Sitzung des Bundestages eröffnet. Die Redezeit für die Debatte war auf je 15 Minuten festgelegt worden, aber 213 Abgeordnete plus Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau und Berlins Regierendem Bürgermeister Eberhard Diepgen hatten Redebedarf angezeigt. Zum Glück begnügten sich 106 Parlamentarier dann damit, ihre Beiträge zu Protokoll zu geben. Die Argumente, quer durch die Parteien vorgetragen bei aufgehobener Fraktionspflicht, begannen sich ohnehin bald zu wiederholen.
Den Anfang machte Norbert Blüm von der CDU, zehn Jahre zuvor noch in Berlin Senator für Bundesangelegenheiten, nunmehr in der Hauptstadtfrage ein Gegner Berlins, aber nach seiner Ansicht nur zum Besten der Stadt. „Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands“, das war auch für ihn gewiss, aber „die bescheidene Selbstsicherheit Bonns“ habe der Arbeit von Parlament und Regierung doch gutgetan und so solle es bleiben. „Bonn verliert mit Bundestag und Regierung viel. Berlin gewinnt mit Bundestag und Regierung viele neue Probleme: Wohnungsprobleme, Raumordnungsprobleme, Infrastrukturprobleme.“ Seine Konsequenz: „Ersparen wir Berlin den Weg in die Megastadt.“
Willy Brandt sorgte mit einem schrägen Vergleich für Ärger
Ähnlich wurde noch häufig für Bonn argumentiert, nach dem Motto: „Klein, aber fein“. Die jahrzehntelang nur als Provisorium geltende Hauptstadt wurde nun als funktionierendes, für Wohlstand und Demokratie stehendes Gebilde gepriesen, unverdächtig jeglicher nationaler Großmannssucht, historisch unbelastet. Das mochten Berlins Befürworter nicht hinnehmen. Keinen Zweifel an seiner Haltung ließ Kanzler Kohl: „Ich stimme für Berlin.“ Die Stadt sei „Brennpunkt deutscher Teilung und der Sehnsucht nach deutscher Einheit“ gewesen, für ihn immer auch „die Chance zur Überwindung der Teilung“, und werde in einem erweiterten Europa „eine geopolitisch wichtige, zentrale Funktion“ haben.
Auch Willy Brandt war natürlich für Berlin, zog sich aber mit einem etwas schrägen Vergleich Unmutsbezeugungen von Union, FDP und Grünen zu: „In Frankreich wäre übrigens niemand auf die Idee gekommen, im relativ idyllischen Vichy zu bleiben, als fremde Gewalt der Rückkehr in die Hauptstadt an der Seine nicht mehr im Wege stand.“ Und Wolfgang Schäuble, dessen Rede damals viele besonders gelungen fanden, warb damit, dass es hier nicht um den Wettkampf zweier Städte, um Umzugs- und Reisekosten gehe. „In Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands“, um die Überwindung der Teilung des Landes, ja Europas (Schäubles Rede im Wortlaut finden Sie hier).
Feiern in Berlin, tiefe Trauer in Bonn
Bis 20.50 Uhr dauerte die Debatte, danach verging noch einmal rund eine Stunde, bis die fünf Anträge abgearbeitet waren und die Entscheidung feststand: 338 Stimmen für die Hauptstadt Berlin, 320 für Bonn, eine ungültige Stimme, eine Enthaltung. Eine historische Entscheidung, kein Zweifel, aber doch ein knapper Sieg, von dem Diepgen sofort versicherte, es sei gar keiner, schließlich habe es sich nicht um einen Städtewettkampf gehandelt, sondern um eine Entscheidung zur Weiterentwicklung der deutschen Politik. Aber die Freiheitsglocke im Turm des Rathauses Schöneberg ließ man bei ihm zu Hause dann doch läuten, und am Kranzler-Eck und auf dem Breitscheidplatz feierten Berliner, nicht allzu viele, aber doch Hunderte, die künftige Rolle ihrer Stadt. Ein Hupkonzert auf dem Kurfürstendamm gab es auch, am Alexanderplatz dagegen herrschte Ruhe, wie ohnehin die Reaktion in Berlin nicht gerade überschwänglich war, während die Menschen in Bonn am Boden zerstört waren.
Ganz so schlimm wie befürchtet traf es die Bonner dann doch nicht. Am 26. April 1994 folgte das Berlin/Bonn-Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses von 1991, da war dann wiederum von „einer dauerhaften und fairen Arbeitsteilung zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn“ die Rede, deren Ende noch immer nicht absehbar ist. Gewiss, Bundestag, Bundesrat und Kanzleramt sind an der Spree angekommen, aber der Bundespräsident hat neben dem Berliner Schloss Bellevue einen Amtssitz in Bonn, und auch die Ministerien sind zum Teil noch dort beheimatet. Neun von ihnen haben ihren Hauptsitz in Berlin, sechs in Bonn, samt zweitem Dienstsitz in der jeweils anderen Stadt.
Rund 7,5 Millionen Euro kostet der dadurch notwendige Pendelverkehr der Bundesbediensteten jährlich. Zwar ist ein „Rutschbahneffekt“, die allmähliche Verlagerung von Arbeitsstellen nach Berlin, zu beobachten, aber er löst das Problem nicht grundsätzlich. Und es ist vielleicht ganz gut, dass die Bonner erst mal bleiben, wo sie sind. Schon ohne sie ist der Wohnungsmangel in Berlin groß genug – ein Problem, das der Abgeordnete Blüm ganz richtig prognostizierte, und auch an den von ihm ebenfalls beschworenen Raumordnungs- und Infrastrukturproblemen hat es hier keinen Mangel.
Andererseits mag man es sich als Berliner kaum vorstellen, wie es hier aussähe, wenn Bonn vor 25 Jahren das Rennen gemacht hätte. Mancher hässliche Betonklotz des Bundes wäre uns erspart geblieben, vom Innenministerium bis zum BND, und nahe der Kongresshalle im Tiergarten stünde wohl noch immer das alte Tempodrom-Zelt statt des Kanzleramts. Aber auch der Traum vom Schloss wäre kaum Wirklichkeit geworden. Die Stadt hätte nur schwerlich all die Investoren gelockt, wäre jetzt wohl ein überdimensioniertes Provinznest, etwas ruhiger, aber ganz sicher auch langweiliger. Dann herrschte hier, um mit Otto zu reden, tatsächlich Bundesnacht, selbst tagsüber.
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