20 Jahre Berlin-Bonn-Gesetz (IV): Hauptstadt ist von gestern
Reichtum liegt in der Provinz. Im dritten Teil unserer Debatte zum Berlin-Bonn-Gesetz äußert sich Norbert Blüm zur fehlenden rechtlichen Ergänzung.
Im Kampf um die Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands hat Berlin zwar knapp, aber gewonnen. Gewonnen ist gewonnen. „Man muss auch jönne könne“, sagen die Bonner. Es gibt in der Welt wichtigere Probleme zu lösen als die deutsche Hauptstadtfrage. Deshalb hat auch Gott sei Dank bisher niemand für eine Revision der Entscheidung plädiert, die vor 20 Jahren im Bonner Bundestag fiel.
In Berlin allerdings, so hört man, mehren sich die Stimmen, die für eine Revision der Bedingungen eintreten, unter denen diese Entscheidung für Berlin zustande kam. Zum Votum für Berlin gehörte nämlich eine faire Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin, was mit anderen Worten hieß, es muss nicht alles vom Bonner Regierungsbetrieb umziehen, was transportfähig ist.
Die Berliner sehen das anders. Sie halten offenbar die Regierungsfähigkeit der Republik für gefährdet, wenn nicht jedes Bundesministerium mit Mann und Maus in Berlin sitzt. Ich fürchtete immer, Bonn wäre der liebenswerte Sitz des Provinzialismus, dem die weltstädtische Weitsicht der Berliner fehlte. Jetzt entdecke ich überrascht, dass die Berliner offenbar verpasst haben, dass räumliche Entfernungen für die Kommunikation unter den Bedingungen globaler Informationstechnologie nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Wir vermögen in Echtzeit sogar mit Partnern in Afrika von Angesicht zu Angesicht zu konferieren.
Ich kenne den Ministeriumsbetrieb aus eigener Erfahrung. Die Vorstellung, dass der oder die Bundesminister/in täglich die/den Referenten/in aus der Unterabteilung VI a sprechen müsste, ist mit Verlaub gesagt – leicht idyllisch und entspricht nicht der Rationalität des geordneten Arbeitsablaufs eines Ministeriums, in dem in einer abgestuften Kompetenzverteilung Verantwortungen delegiert und markiert sind.
Ich gebe zu, dass ich in meinen jugendlichen Sturm-und-Drang-Zeiten diese Hackordnung lächerlich fand und erst viel später bemerkte, wie viel Klugheit in diesen bürokratischen Entscheidungsgang investiert ist.
Die Verantwortung ist personell zugeordnet. Der Vorlage der jeweils vorgelagerten Stelle muss zugestimmt werden oder die Ablehnung bzw. Abänderung begründet werden. Die Entscheidungsfindung wird so gegen obrigkeitliche Willkür abgesichert. Die Dokumentation schafft Transparenz. Ich jedenfalls kann einer Ministerialbürokratie, die nicht ständig bei Hofe tanzt und deshalb auch nicht immerzu von der Sonne des Ministers beschienen werden muss, gewisse Vorzüge abgewinnen, von denen schon Max Weber sprach.
Es kann sein, dass der geordnete Aktenablauf ein Kontrastprogramm zu dem kreativen Tohuwabohu eines an der Eventkultur Maß nehmenden kreativen Brainstormings ist, das möglicherweise mehr auf räumliche Nähe angewiesen ist, als die geordnete Entscheidungsfindung einer hierarchischen Ministerialbürokratie. Auf alle Fälle ist mir die bürokratische Laufbahn einer Gesetzesvorbereitung lieber als eine geschwätzige Lobbyistenarbeit oder gar die Formulierung von Gesetzesentwürfen durch Rechtsanwaltskanzleien, die ihre Arbeit später in Hearings als Sachverständige bewerten und noch später vor Gericht ihr zahlungskräftiges Klientel vertreten.
Eine vom Marktplatz der Interessen entfernte Beamtenschaft halte ich jedenfalls als Leitbild für eine solide Gesetzesvorbereitung förderlicher als die dunklen Kanäle einer angeblich spontanen Zuarbeit. Zu meiner Vorstellung von Reform der Regierungsarbeit gehört im Übrigen sogar die weitere Ausgliederung von reiner Verwaltungsarbeit und Aufsichtspflichten aus den Ministerien. Diese Fragen sind wichtiger als Umzugspläne von Bonn nach Berlin.
Eine moderne Organisation der Regierungsarbeit ist jedenfalls nicht auf die örtliche Konzentration der ministerialen Zuarbeit angewiesen. Die politische Leitung muss freilich am Sitz des Parlamentes ihren Platz haben. Das Bonn-Berlin-Gesetz steht also weder der Effizienz noch der sachkundigen Aufgabenverteilung innerhalb der Exekutive im Weg.
Die Kultur einer Stadt messe ich an drei Attraktionen: Kneipen, Kirchen und Konzerte. Zwei von diesen drei besitzt Berlin in außergewöhnlicher Form. Berlin hat zwar noch mehr zu bieten. Aber nicht alles, was politische und kulturelle Bedeutung besitzt, kommt aus Berlin oder muss dorthin.
Ich komme gern nach Berlin, sehr gern, und fahre auch fröhlich wieder in mein rheinisches Bonn zurück. Der Reichtum Deutschlands liegt in seinen Provinzen und Städten wie: München, Hamburg, Köln, Dresden, Lübeck, Stralsund, Bremen, Magdeburg, Worms, Mainz, Erfurt, Stuttgart, Nürnberg, Freiburg, Leipzig, Münster, Halle, Weimar, Frankfurt, Göttingen, Essen, Quedlinburg. Jede Stadt steht für eigene und unsere Geschichte. Bonn für den ersten geglückten Versuch, Demokratie in Deutschland heimisch zu machen.
Hauptstädte, die einen Staat dominieren und repräsentieren, gehören ins Zeitalter des Nationalismus. Die Nationen werden nicht spurlos aus der Geschichte verschwinden, jedoch an politischer Bedeutung verlieren.
Die Zukunft wird von zwei Tendenzen bestimmt: Der Zug ins Weite und der Rückzug in die Nähe. Für die erste Bewegung steht Europa und die Welt, für die zweite Heimat und Region. Nation und Hauptstädte werden eine Scharnierfunktion zwischen beiden Trends erfüllen. Aber die Welt dreht sich nicht um sie. Hauptstadtgesetze, die gar mit Ewigkeitsanspruch auftreten, passen nicht mehr in unsere Zeit. Bonn das Provisorium, hat unserer Republik gut getan. Es kam ohne Glanz und Gloria aus.
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