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Roland Jahn, 59, leitet seit zwei Jahren die Stasi-Unterlagen-Behörde mit Sitz in Berlin-Mitte. Diese soll nun in die ehemalige Stasi-Zentrale nach Lichtenberg umziehen (unser Foto). Jahn wurde in Jena als Bürgerrechtler und SED-Gegner bekannt und deshalb 1983 zwangsweise aus der DDR ausgebürgert. Er zog nach West-Berlin und unterstützte als Journalist die ostdeutsche Opposition. Nach dem Umbruch war er beim RBB-Fernsehen tätig. Roland Jahn lebt in Prenzlauer Berg.
© Thilo Rückeis

Interview mit Roland Jahn: "Akten müssen immer zugänglich sein"

Roland Jahn hütet die Stasi-Akten und will in Berlin die DDR erfahrbarer machen. Im Interview spricht er über die Zukunft seiner Behörde, belastete Mitarbeiter und neugierige Kinder.

Herr Jahn, haben Sie schon die Rolling Stones angerufen?

Es ist nicht so leicht, an die Telefonnummer von Mick Jagger zu kommen.

Sie wollen die Rolling Stones einladen, auf dem Dach der ehemaligen Stasi-Zentrale in Lichtenberg aufzutreten. Meinen Sie das wirklich ernst?

Wenn ein Traum öffentlich wird, sieht man, welchen Symbolcharakter er hat. 1969 hatte sich das vom West-Berliner Radiosender Rias gestreute Gerücht in Ost-Berlin verbreitet, die Band würde auf dem Dach des Springer-Hochhauses spielen. Viele junge Menschen strömten damals auf der Ostseite an die Mauer und einige wurden verhaftet. Ihrer zu gedenken, indem 25 Jahre nach dem Mauerfall die Stones dem Stasi-Minister Mielke aufs Dach steigen, wäre doch eine schöne Reminiszenz. Wir stellen jetzt die Akten zusammen, wie die Staatssicherheit einst auf dieses Gerücht reagiert hat, und dann wird es eine konkrete Anfrage an die Rolling Stones geben.

Welche Träume könnte man in Berlin noch verwirklichen, um die DDR-Geschichte erlebbarer zu machen?

Es gilt, authentische Orte zu nutzen. Dort kann Diktatur sinnlich erfahrbar gemacht werden, das sind gute Lernorte auch für die nächsten Generationen. Die Gedenkstätte Hohenschönhausen und die Gedenkstätte Berliner Mauer zeigen, wie gut das funktioniert. Auch wir haben solche Erfahrungen gemacht mit dem Stasi-Museum in der Magdalenenstraße, das wir mit dem Bürgerverein Astak betreiben, und unserem Stasiakten-Archiv. Letzteres wird auch von internationalen Gästen, vor allem aus dem arabischen Raum, gut besucht.

Sie wollen das ehemalige Stasi-Gelände in Lichtenberg zu einem Campus der Demokratie entwickeln. Wie weit sind denn die Pläne gediehen?

Wir wollen unsere auf mehrere Standorte verteilte Behörde an diesem authentischen Ort zusammenführen. Dazu haben wir in den zuständigen Bundesverwaltungen unseren Raumbedarf angemeldet. Derzeit leer stehende Räume, die zum Teil im Besitz des Bundes sind, sollen von uns genutzt werden. Wir haben dazu die nötige Unterstützung von Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Wenn niemand auf der Bremse steht, könnten die Umzüge bis Mitte 2014 abgeschlossen sein. Schließlich läuft der Mietvertrag für unser Haupthaus an der Karl-Liebknecht-Straße Ende 2014 aus, der unseres Bildungszentrums in der Zimmerstraße schon Ende dieses Jahres.

Kann es sein, dass Sie so nur die weitere Existenz Ihrer Behörde sichern wollen?

Es geht hier nicht um eine Behörde, sondern um die Aufarbeitung. Das Türschild kann jederzeit ausgewechselt werden. Das Stasi-Museum in Lichtenberg, in dessen Sanierung elf Millionen Euro geflossen sind, wird man nicht abreißen. Und das Stasi-Archiv dort hat es schon immer gegeben. Auch die Spezial-Bibliothek, die wir in 20 Jahren aufgebaut haben, soll ja nicht verschwinden, sondern idealerweise am historischen Ort genutzt werden.

Nun sind Lichtenberg und Hohenschönhausen ein ganzes Stück weg von Berlins Zentren. Touristen treffen am Checkpoint Charlie auf Uniformen-Budenzauber oder am Brandenburger Tor auf Stände mit Russenmützen. Was kann man in der Stadtmitte tun, um die DDR besser erfahrbar zu machen?

Ich stehe zunächst in der Verantwortung für unsere Behörde und den Beitrag, den wir erbringen können. Und Lichtenberg ist ja wirklich nicht jottwede. Vom Alexanderplatz aus ist man in elf Minuten mit der U-Bahn an der Magdalenenstraße.

Herr Jahn, Sie sind vor zwei Jahren Aufsehen erregend gestartet mit Ihrer Ankündigung, die noch in der Behörde tätigen ehemaligen hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter loswerden zu wollen. Warum sind Sie mit diesem Vorhaben gescheitert?

Ich bin damit nicht gescheitert. Es war mein Anliegen, ein 20 Jahre altes Problem zu lösen: dass Stasi-Opfer zum Beispiel am Eingang zu unserer Behörde nicht mehr auf ehemalige Stasi-Offiziere treffen können, die sie nach ihrem Ausweis fragen. Dieses Anliegen setzen wir konsequent um, so wie es das entsprechend novellierte Stasiunterlagengesetz von uns fordert. Wichtig ist, diesen Weg rechtsstaatlich korrekt und menschlich respektvoll zu gehen. Das braucht seine Zeit. Erst wenn ausreichend gleichwertige, zumutbare Stellen für diese Mitarbeiter in anderen Einrichtungen des Bundes vorhanden sind, wird das abgeschlossen sein können.

Wie viele von den damals 47 früheren hauptamtlichen Stasi-Leuten sind schon weg?

Es waren 47 hauptamtliche und ein inoffizieller Stasi-Mitarbeiter. Seither haben neun das Haus verlassen, drei davon sind auf andere Stellen gewechselt, weitere Wechsel stehen bevor.

Das heißt, sechs sind aus Altersgründen ausgeschieden?

Fünf sind aus Altersgründen gegangen, einer ist verstorben.

Wenn es in diesem Tempo weitergeht, wird es noch eine Weile dauern, bis Ihr Haus stasifrei ist ...

Entscheidend ist, dass das Signal gesetzt ist und dass wir den Opfern der Staatssicherheit gerecht werden. Von den Opferverbänden erfahre ich große Unterstützung.

Angesichts der Mühen, die Ihnen das bereitet: Sind Sie mit einer gewissen Blauäugigkeit in diese Behörde gegangen?

Das würde ich nicht sagen. Als Journalist kannte ich mich mit dem Rechtsstaat aus und wusste, dass dieser Weg schwierig werden würde. Ich weiß, wie lange Umsetzungen von Personal in anderen Behörden dauern, ich weiß, wie langsam die Mühlen der Verwaltung arbeiten. In diesem Sinne war ich nicht naiv.

Kinder beantragen Einsicht in Stasi-Akten der Eltern

Sie haben zu DDR-Zeiten am eigenen Leibe viel erdulden müssen, was von der Stasi ausging. Gibt es dennoch Dinge, die Ihnen jetzt beim Umgang mit der Vergangenheit die Sprache verschlagen?

Einprägsam sind einzelne Erlebnisse. Da spürt man: Es geht eben nicht nur um Akten. Es geht um Menschen und ihre Schicksale – zunehmend auch um Leute der nächsten Generation, die über ihre Eltern sprechen.

Ist die jüngere Generation denn inzwischen kritischer gegenüber ihren Eltern?

Das kann man nur punktuell beantworten. Oft ist es reine Neugier, aber bisweilen auch kritisches Hinterfragen. Wenn etwa eine Frau kommt und sagt: Ich will unbedingt die Stasi-Akte meiner verstorbenen Mutter sehen, ich will wissen, warum meine Mutter sich von mir losgesagt hat, nur weil ich einen Ausreiseantrag gestellt habe. Wie hat hier das System der Angst funktioniert?

Das neue Stasiunterlagengesetz ermöglicht es seit einem Jahr, dass Menschen die Akten ihrer verstorbenen Angehörigen einsehen können. Machen viele davon Gebrauch?

Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 5581 Anträge von Familienangehörigen gestellt, zumeist von Kindern oder Enkelkindern der Verstorbenen. Das sind immerhin zehn Prozent aller Erstanträge.

Warum entscheiden sich andere Antragsteller erst nach so vielen Jahren, in ihre Akten zu schauen?

Die einen sagen: Jetzt bin ich Rentner, jetzt habe ich Ruhe und will mein Schicksal noch mal ordnen. Andere merken: Meine Kinder fragen mich immer, wie das damals war. Unter den rund 88 000 Anträgen im vergangenen Jahr waren aber auch 21 000 Wiederholungsanträge. Die kommen von Leuten, die Anfang der Neunzigerjahre ihre Akten eingesehen haben und davon gehört haben, dass mittlerweile weitere Akten aufgearbeitet und auch zerrissene rekonstruiert wurden.

Ist es nicht frustrierend für einen Antragsteller, wenn er bis zu zwei Jahre auf seine Akteneinsicht warten muss?

Ich kann den Frust vollkommen nachvollziehen. Diese Wartezeiten sind nicht akzeptabel. Aber diese Behörde hatte in den Neunzigerjahren mehr als 3000 Mitarbeiter. Mittlerweile hat sich diese Zahl halbiert und wir müssen weiter abbauen. Im Gegensatz dazu haben wir anhaltend hohe Antragszahlen.

Warum bauen Sie die Behörde nicht um und konzentrieren sich auf die Antragsbearbeitung?

Wir tun das was möglich ist innerhalb der Behörde, um die Effizienz zu steigern. Wir haben Leute aus den Bereichen Bildung und Forschung sowie aus der Verwaltung in die Abteilung Auskunft umgesetzt. Aber das sind Tropfen auf den heißen Stein. Wir müssen realistisch sein. Diese Antragszahlen bedeuten auch: Die Wartezeiten steigen und sinken nicht.

Wie lange wird es denn die Behörde überhaupt noch geben?

Es wird sie so lange geben, wie sie gebraucht wird.

Und wie lange wird sie noch gebraucht?

Das ist Spekulation. Wir wissen nicht, ob und wann die Zahl der Anträge zurückgeht. Eins ist sicher: Die Akten müssen immer zugänglich sein.

Herr Jahn, die Akten geben nicht nur Opfern ein Gesicht, sondern auch Tätern. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein alter Täter an der Supermarktkasse hinter einem steht?

Ja, die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter leben mitten unter uns. Und das ist auch gut so, denn mit der friedlichen Revolution haben wir nicht nur uns selbst befreit, sondern auch unsere Peiniger. Auch sie sollen den Rechtsstaat nutzen – mit Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit. Natürlich gibt es gerade hier in Berlin vergleichsweise viele ehemalige Stasi-Mitarbeiter, schließlich war der Ostteil jahrzehntelang die Hauptstadt der DDR. Und natürlich verbreiten manche von denen auch Unwahrheiten in Büchern. Aber diese Leute können uns zehn Mal sagen, dass damals alles besser war – die Praxis der Demokratie erlaubt ihnen genau das zu tun, wofür sie früher andere einsperrten.

Robert Ide, Matthias Schlegel

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