Kritik an Architektur in Berlin: Abriss ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit
Berlin hat sein architektonisches Gedächtnis verloren, klagt Hans Stimmann. Schönheit lässt sich aber nicht verordnen, schreibt der ehemalige Senatsbaudirektor in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. Eine Replik auf Daniel Libeskind.
Auf die Architektur des nach dem Fall der Mauer Gebauten als zu vorgestrig oder zu modern, zu mutlos oder zu radikal zu schimpfen, gehört in Berlin zum guten Ton. Das gilt für Partygespräche genauso wie für Veröffentlichungen. Der Tagesspiegel bildet dabei – zuletzt mit seiner prominent platzierten Kollegenkritik von Daniel Libeskind – keine Ausnahme.
Diese Ablehnung des Bestands hat Tradition und blieb nicht ohne Folgen. Spätestens nach 15 Jahren wurde in beiden Teilen Berlins nach 1945 die Stadt und die Architektur neu erfunden. Dann wurde abgerissen was nicht gefiel und was den jeweiligen Vorstellungen für eine organische, autogerechte, aufgelockerte, funktionalistische oder sozialistische Stadt im Wege stand. Schlachtfeld waren die Innenstadt, die Altstadt, die Vorstädte aus dem 17. und 18. Jahrhundert und der Gründerzeit.
Verloren hat Berlin deshalb nicht nur seine Altstadt, die Stadterweiterungen der Friedrich- und Dorotheenstadt und die Stralauer Vorstadt, sondern auch das Tiergartenviertel, Wohnbauten im Hansaviertel, das Stadtschloss und Kirchen. Berlin verlor so sein Langzeitgedächtnis. Auch damals ging es den Planern in Senat und Magistrat darum, eine bessere und schönere Stadt zu bauen.
Mit dieser Tradition des Neuanfangs brach vor der Wende zuerst die Internationale Bauausstellung in West-Berlin. Das Vorhandene sollte unbeschadet seiner Defizite Teil des Neuen werden und das Neugebaute sollte nicht einfach nur modern sein, sondern sich einfügen, Teil der vielfach gebrochenen Stadtgeschichte als europäische Stadt werden. Das war die Idee der Kritischen Rekonstruktion von Josef Paul Kleihues – und das wurde nach dem Fall der Mauer auch die Idee des Siegerentwurfes für den Potsdamer Platz und kurz danach für das, was die Planer Innenstadt nannten.
Das Planungsgebiet reichte vom Frankfurter Tor bis zum Reuterplatz. Das Leitbild war die Rückkehr zur gemischt genutzten Stadt mit einer Vielfalt architektonischer Positionen der privaten Bauherren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen – ganz wie Libeskind es heute fordert – die öffentlichen Straßen- und Platzräume. Deren Charakter bestimmt sich durch die Art der Nutzung und die Qualität der Architektur der einzelnen Häuser und deren Höhe. Es macht eben einen Unterschied, ob die stadtraumbildenden Gebäude dreieinhalb oder zehn Etagen hoch sind. Um ein bestimmtes Straßenprofil zu erreichen, greift man in Europa seit Jahrhunderten auf Verabredungen über die maximale Anzahl der Geschosse zurück (die Traufhöhe). Wer schon allein den Streit über die maximale Höhe der Gebäude für „Zeitverschwendung“ (Libeskind) hält, weiß zu wenig über die europäische Städtebaugeschichte und die Interessenlagen der Immobilienwirtschaft.
Eindrucksvolle Renderings sollten den Senat begeistern
In Berlin gibt es daher seit der Wende die stadtbaukünstlerische Regel, Hochhäuser nur da zuzulassen, wo ein Akzent gesetzt oder ein Übergang markiert werden soll, etwa am Potsdamer Platz und Breitscheidplatz und konzeptionell am Alex. Senat und Bezirke verbieten keine Hochhäuser, sondern setzen Akzente.
Ein Beispiel für die konträren Auffassungen zwischen Stadt, Bauherren und Architekten war die Debatte über das Spreedreieck an der Friedrichstraße. Nach der Wende sollte der kleine Platz an der Spree frei bleiben. Aber dann begann eine Kampagne von Projektentwicklern und Architekten, die hier in Erinnerung an den Entwurf für ein gläsernes Hochhaus von Mies v. d. Rohe (1921) für den Bau eines Bürohochhauses warben. Mit eindrucksvollen Renderings versuchten zwei Bauherren und ihre Architekten (etwa Peter Eisenman, Grüntuch & Ernst, David Chipperfield, Meinhard von Gerkan, Marg und Partner) Bezirk und den Senat von der Schönheit ihres Hochhausprojektes zu überzeugen. Der Senat blieb bei seinen Vorstellungen eines 30 Meter hohen Hauses.
Gebaut wurde schließlich ein Entwurf von Mark Braun (einem Ex-Mitarbeiter von Sir Norman Foster) für eine Harm Müller-Spreer & Co. Spreedreieck K. G. Verantwortlich für das, was der Tagesspiegel in seinem Artikel „Ist das Architektur oder kann das weg?“ als „braun verkleidete Betonmasse“ beschreibt, sind der leider verstorbene Architekt und sein Bauherr. Warum werden ihre Namen und die des Finanzsenators nicht wenigstens genannt und stattdessen „Bürokraten“ der Genehmigungsbehörden angeklagt?
Diese Form der Teilung der Verantwortung für das öffentliche Bild der Stadt hat in der Vergangenheit auch in Berlin zu Stadtquartieren mit überragenden Qualitäten geführt. An diese abgerissene Tradition sollte angeknüpft werden. Nur in Ausnahmefällen sollte die Stadt – soweit es die architektonische Gestaltung der Häuser betrifft – regelnd eingreifen.
Allein die Frage aufzuwerfen, ob „das Architektur ist oder weg kann“, ist ein Rückfall in die vielen Jahrzehnte der ästhetisch begründeten Abrisse von Kaufhäusern, Bürobauten, Hotels, Wohnhäusern, Schlössern und Kirchen, Straßen und Plätzen. Jeder Abriss einzelner Gebäude – auch hässlicher Kisten – ist im Grundsatz das Gegenteil der viel beschworenen Nachhaltigkeit.
Was sagt der Architekt selbst zum Alexa?
Auf einen Abrisskandidaten will ich kurz eingehen: Das Alexa ist zunächst einmal ein Einkaufscenter mit 56 000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Ein schwieriges architektonisches Thema, an dem sich offensichtlich auch Manfred Ortner, ein sehr renommierter Berliner Architekt als Gewinner eines Wettbewerbes, abgearbeitet hat. Warum fragt man nicht Manfred Ortner, was aus seiner Sicht schief -gelaufen ist und was an dem Projekt geändert werden könnte, um es schöner aussehen zu lassen? Vielleicht findet er sogar, dass dieses „Einkaufsparadies“ in seiner heutigen Gestaltung eine angemessene architektonische Reaktion auf den in seiner Geschichte typischen, weil mehrfach gebrochenen Berliner Ort darstellt. Das Projekt, zu dem noch das Hochhaus fehlt, beachtet die von der Stadt vorgegebenen Regeln des B-Planes, der keine Gestaltungsvorgaben, etwa zur Fassadenfarbe, enthält. Und für das, was schön ist, gibt es unter Architekten keinen Konsens.
Um auch hier nicht missverstanden zu werden: Auch ich finde einige neue Gebäude nicht schön und Schönheit ist ein Anspruch, den man nicht oft genug erheben kann. Schönheit lässt sich aber nicht verordnen, zumal die Vorstellungen über schöne Architektur weit auseinander liegen. Den Anspruch einlösen müssen Bauherren und Architekten im Bewusstsein, dass ihr Haus nur ein Teil eines durch viele Häuser gebildeten Stadtbildes ist. In solch einem Bild sollte sich jedes Haus sowohl als Individuum als auch als Element in der Straße verstehen. Diese anspruchsvolle Aufgabe können Behörden nur in Ausnahmefällen übernehmen – wie beispielsweise am Pariser Platz.
Der Autor dieses Textes, Hans Stimmann, war von 1991 bis 2006 Senatsbaudirektor von Berlin. Der gelernte Architekt machte die „kritische Rekonstruktion“ zum Leitbild der Stadtentwicklung.
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