Kiosk im Kreuzberger Prinzenbad: 18.573 Portionen Pommes im Monat und die volle Kanne Leben
Seit 21 Jahren verkaufen Dagmar Keuenhof und Mathias Kutscha Pommes und mehr im Kreuzberger Prinzenbad. Ihr Laden ist ein Brennglas für den Wandel im Bezirk.
Den Mittagstisch verdanken sie Heiner, Stammgast der ersten Stunde. Heiner gehörte zu jener Clique, die sie keineswegs abfällig das „Schulle-Pack“ nannten. War es knackevoll, sodass er auf der Terrasse keinen Platz mehr fand, sagte Heiner: Endlich kommen die Leute mal aus ihrem Haus! Goss es wie aus Eimern, bemerkte Heiner zufrieden: Gut für die Natur! Dann ertrank sein Sohn, mit 17, „nicht hier!“, betont Dagmar, und seitdem kam Heiner fast täglich und nahm morgens erstmal einen Schwarzen Abt und mittags Schultheiss und Weisse gemischt und Schnaps.
Als 2008 Heiners Frau ins Pflegeheim kam und er fortan zu Hause nur noch Reis aß, begann Daggi, jeden Mittag eine warme Mahlzeit für ihn zu kochen. Irgendwann fragten die anderen: „Was kriegt Heiner heute?“ So verselbstständigte sich das. Nach dem Mittag fuhr Heiner ins Heim und las seiner Frau vor, bis sie 2014 starb, da blieb er nach dem Mittag eben sitzen. Mal setzte sich Kuchen-Uwe zu ihm, mal die Sekt-Utes, die hier immer Karten spielen, und als es schwierig wurde, halfen sie ihm auch zur Toilette. Ein Jahr nach seiner Frau starb Heiner, mit 86 Jahren. „Heiner-Gedächtnis-Stunde“, ruft Daggi bis heute ab und zu und gibt eine Runde Eierlikör aus.
„Das Schnitzel brennt schon wieder!“, ruft Matze aus der Küche. „Mach aus!“, ruft Daggi. – „Vorbei!“, sagt Matze, „die kannst du wegwerfen.“
18.573 Portionen Pommes im Monat
Seit 21 Jahren verkaufen Dagmar Keuenhof und Mathias Kutscha Pommes Frites und mehr im Kreuzberger Prinzenbad. Es ist der mit Abstand erfolgreichste Schwimmbadimbiss Berlins. Die Monatsstatistik für Juni: 18.573 Portionen Pommes, davon 14.930 mit Ketchup, 10.174 mit Mayo. Doch das ist nur ein Teil ihres Geschäfts. Hier ist Kreuzberg im Brennglas, und während „Daggi und Matze“ an der immer gleichen Stelle die immer gleichen Handgriffe tun, hat sich jenseits ihres Tresens viel verändert – die Kunden, das Viertel, die Stadt. Vielleicht beherrschen die beiden wie kein anderer, damit umzugehen. Von ihren Stammgästen werden sie dennoch dafür geliebt, dass gefühlt alles bleibt, wie es ist.
Schweiß strömt, Wasser spritzt, Eis tropft, Leben rinnt, alles ist im Fluss, auf Daggi und Matze bleibt Verlass.
Dagmar Keuenhof: „Nenn’ mich bloß Daggi, sonst denk’ ich, ich hab was ausgefressen“, blond, Brille, 61 Jahre alt. Mathias Kutscha: „Alle sagen Matze“, dunkelhaarig, drahtig, 40. Ein Team seit Jahrzehnten, viele meinen, das Herz von Berlins wohl bekanntestem, 1956 eröffnetem Freibad.
Wenn im Prinzenbad, das offiziell Sommerbad Kreuzberg heißt, die Stammgäste zu Mittag essen, hat Dagmar bereits einen ganzen Arbeitstag hinter sich. Um vier Uhr hat sie das Gebäude durch den Seiteneingang in der Gitschiner Straße betreten, rechts auf den Lichtschalter gedrückt und ihr Tagwerk begonnen, Backofen vorheizen, Rührei anrühren, Tomaten und Gurke schneiden, erst die Croissants, dann die Brezeln reinschieben. Wenn Daggi es zuließe, würde Matze auch um vier anfangen, aber das lässt sie nicht zu, „er will immer helfen und steht nur im Weg“, also gewährt er ihr eine Stunde Vorsprung, ehe er die Wäsche aufhängt, die sie abends gewaschen haben, die halbleeren Kartons zusammensortiert, die Kassen mit Wechselgeld füllt, die Terrasse fegt, Stühle parat stellt, 15 Tische vom Morgentau befreit, Töpfe mit Fleißigen Lieschen drauf platziert, damit es einladend aussieht, wenn die Ersten aus dem Wasser kommen.
Dienstag und Donnerstag sind die „Brötchentage“
Draußen vor dem Bad stehen sie seit viertel vor sieben Schlange, um die Ersten zu sein: Zwei Dutzend sind es heute, ein Donnerstag im Juli, der ein schöner und heißer zu werden verspricht, der Himmel blau und wolkenlos. Matze blickt auf sein Handy, 32 Grad sind angekündigt, 80 Säcke Pommes, schätzt er. Um sieben öffnet das Bad.
Fünf nach sieben, zwei Frauen in Shorts mit blauen T-Shirts und Kurzhaarfrisuren betreten den Verkaufsraum, betrachten die Brötchentheke. „Sind das Stangeneier“, also industriell geformte? „Nee“, sagt Matze. „Schmecken widerlich, darum frag ich.“ „Nee“, versichert Matze nochmal. Also dann: zwei Kaffee mit Milch, drei halbe Brötchen mit Ei und ein stilles Wasser. Wer sagt, dass man vor dem Frühstück schwimmen muss?
Eigentlich gehört der erste Auftritt des Tages Thomas. 7 Uhr 25, sagt Matze. In der Tat: „Guten Morgen!“, schmettert Thomas, ein sportlicher Anwalt mit Brille. Aus der Küche erscheint Daggi mit Teller, „das sieht ja gut aus!“, befindet Thomas, zahlt, trägt den Teller hinaus und spannt sich – wie immer – selber einen der roten Sonnenschirme auf.
Dienstag und Donnerstag heißen hier „Brötchentage“, das sind die, an denen die meisten Stammgäste auflaufen, da schmieren sie von vornherein mehr. Das kommt daher, dass früher montags und mittwochs die Becken gereinigt wurden, montags das Sportbecken gleich hinterm Eingang, von dem sie hier als dem Bergsee reden, weil es stets ein paar Grad kälter ist. Mittwochs das Mehrzweckbecken, und weil die dann tabu waren, wurden die Tage gemieden. Inzwischen wird alles morgens vor Badöffnung gereinigt, aber die Gewohnheiten sind geblieben.
Gewohnheiten sind wichtig, gerade an einem Ort wie diesem, an dem alles fließt, gibt es Gesetze, an denen keiner rütteln sollte. Manche gehen nur ins Nichtschwimmerbecken, weil das in der Früh nicht so voll ist, einige sitzen immer am gleichen Tisch, im gleichen Stuhl, trinken und essen immer das gleiche und lesen die neueste Ausgabe der immer gleichen Zeitung, die Matze auf dem Weg im U-Bahnhof Prinzenstraße geholt hat.
Thomas isst jeden Morgen ein Überraschungsfrühstück, das Daggi ihm zubereitet, heute bestehend aus ein paar Scheiben Schafskäse, gewürzter Tomate, einer Gemüsebulette. Thomas nimmt, was Daggi ihm hinstellt, ohne jede Beanstandung und mit der gebührenden Begeisterung.
Menschen brauchen Rituale, Menschen brauchen Menschen, die Stammkunden des Prinzenbads brauchen Daggi und Matze. Und Daggi und Matze brauchen sie.
Nicht verzagen, Gäste fragen
Früher gehörte der Laden Familie Flöther. Mathias war Daggis Passmann in der Doppelschicht, weil seinerzeit auch Daggis Sohn hier arbeitete, Mutter und Sohn in einer Schicht, das ist nicht gut. „Wir hatten immer die gleiche Meinung, Matze und ich, was schmeckt, was zuerst aufgeräumt werden muss.“ Als es mit der alten Chefin vorbei war, sagte deren Sohn zu Daggi, damals 42, eine Frau ihres Alters hätte er nicht eingestellt. Und irgendwann: „Übrigens, ich suche einen neuen Pächter, aber machen Sie sich nicht ins Hemd, ich sage dem Neuen, er soll Sie übernehmen.“ „Ein neuer Pächter?“, fragte Daggi. „Wieso fragen Sie nicht mich?“ – „Haben Sie denn Geld?“ – „Das findet sich“, sagte Daggi. Und wenig später, als Matze zum Beginn seiner Schicht erschien: „Matze, ich hab’ Mist gebaut.“
„Nicht verzagen, mich fragen“, sagte ein Stammkunde. Es setzte eine wohl beispiellose Bewegung ein: Binnen kurzer Zeit hatten Gäste des Prinzenbads gut 8.000 Euro zusammengesammelt. Am Ende zahlten sie mit Ware fast 50.000 Euro Ablöse. Das war 2008.
Früher oder später schlappt das Draußen zu ihnen herein
Seitdem ist das hier ihr Reich: 250 Quadratmeter, ein flacher Zweckbau, weiß gekachelt. Seitdem ist das hier ihr Sommer: Irgendwo zwischen Fritteuse, vor der es an Tagen wie diesen 70 Grad heiß wird, und Froster, minus 28 Grad. „Du ahnst gar nicht“, sagt Daggi, „wie gern ich da reingehe“. Was draußen auf der Wiese stattfindet oder an den Startblöcken, davon bekommen Daggi und Matze nichts mit. Und genaugenommen doch fast alles – denn früher oder später schlappt das Draußen zu ihnen herein.
Die Grenzen zwischen drinnen und draußen sind fließend, dennoch ist der Unterschied zuweilen enorm. Wie oft schon stand die Security sprungbereit in der Tür und fragte: Macht dieser oder jener Ärger? Daggi kennt die Erzählungen von Schlägereien, Hundertschaften, die anrücken müssen. Aber das sind ja absolute Ausnahmen, sagt sie, Schlechtes erzählt sich immer besser.
Daggi hat zehn Jahre im Q-Dorf gearbeitet, in der Großraumdisko, sie weiß, „wenn du ’nen jungen Mann hast, der Alphatier sein möchte, den bocken die Sicherheitsleute von vornherein an, aber wenn du ihn anstrahlst und freundlich mit ihm redest, wünscht er dir am Ende einen guten Tag.“ Oder sie sagt: „Dir hab’ ich doch schon als kleinem Stöpsel Süßigkeiten verkauft“, und liegt damit fast immer richtig. „Es gibt nur zwei Dinge, vor denen ich Angst habe“, sagt Daggi: „Höhe und das Finanzamt.“ Dass bei ihr keiner aus der Reihe tanzt, liegt womöglich aber auch daran, dass am Ende dieser Reihe alle etwas von ihr haben wollen – Pommes.
In den 21 Jahren Imbiss, die Daggi und Matze überblicken, hat sich die Nachfrage immer wieder verändert. Die Leute wollten wissen, ob die Pommes halal sind. Die Leute wollten wissen, ob die Pommes in Palmfett frittiert sind. Die Leute wollten wissen, warum Daggi und Matze statt Plastikpieksern keine Bambuspiekser nehmen (nehmen sie jetzt). Aber die Leute wollten Pommes.
Je heißer der Sommertag, desto dringender. Es ist ganz natürlich, sagen Mediziner: Wer schwitzt, verliert Elektrolyte, muss den Salzhaushalt wieder ausgleichen. Wer wollte gegen dieses Naturgesetz aufbegehren.
Fett brodelt, Ketchup kleckert, Mayo trieft.
Weit mehr als eine Pommesbude
„Einmal Pommes“, sagt ein behäbiger Mittzwanziger in rotschwarzen Badeshorts um 10 Uhr 36, hinter ihm 15 Leute in der Schlange. „Keine Pommes vor elf“, belehrt Dagmar. Auch so ein Gesetz. „Du wirst die Fettzellen ja nie wieder los!“ Daggis Sohn ist inzwischen als Autor etabliert, Diät-Ratgeber. „Schlank werden mit Low-carb.“
Schon Frau Flöther hatte Müsli und Cornflakes im Angebot. Jetzt, in der „Keuenhof und Kutscha GbR“, gibt es Dinkelmüsli mit Rosinen oder Cranberrys, Jogurt mit Früchten, Quark mit Rhabarberkompott, Obstsalat, Milchreis, Grießbrei. Macht Dagmar alles selbst, wie überhaupt beinahe alles, Kuchen und Torten, Kekse, Suppen, Salate. Matze schmeckt ab. „Mir macht das Freude, wenn jemand sagt: Was nehm’ ich bloß“, sagt Daggi. Nur den Schichtkäse, den macht Matze, selber schuld, sagt Daggi, hat er mal zu einer Feier mitgebracht, ist ein Rezept seiner Oma, mit Kräutern der Provence, das muss er jetzt regelmäßig liefern.
„Es duftet wie in einer Konditorei“, lobt Elsbeth Kadler, 86, graue Hochsteckfrisur, gemustertes Halstuch zu dunkler Weste, beringte Hände und grüne Perlenkette. „Kadler, meine Sonne, hier ist dein Espresso, und hier ist dein Restgeld“, trällert Matze. Elsbeth bezieht Position am Stehtisch in der Ecke rechts des Eingangs, sichert sich die „B.Z.“ und beginnt, ihren Espresso zu trinken. Seit der Wende kommt sie her, ganz aus Johannisthal, weil ihre Freundin hier gewohnt hat, mit der sie immer Limburgerbrötchen aß, weshalb Daggi und Matze sie „die Käseweiber“ nannten. Jetzt ist die Freundin seit zwei Jahren tot, aber Elsbeth Kadler kommt immer noch, wo, sagt sie, gibt es sowas denn noch? „Sowas wie hier gibt es ja nicht mehr!“
Und wenn es hier etwas nicht gibt, und jemand es vermisst, wird es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit bis morgen herbeigeschafft. Dinkelbrötchen für Tessa. Zwiebelmett für Karl-Heinz. Dieser Ort ist weit mehr als eine Pommesbude, Sven Regener lässt seinen gleichnamigen Protagonisten im Buch „Herr Lehmann“ nach dem passenden Begriff suchen: „Eine Art Kneipen- oder Imbiss- oder Kioskbereich oder, wie Herr Lehmann es für sich zusammenfasste, die Gastro.“ Und das alles im beliebtesten Bad der Stadt, am besucherstärksten noch vor dem Strandbad Wannsee, größte Pool-Wasserfläche unter freiem Himmel, 5.228 Kubikmeter, in Literflaschen abgefüllt und nebeneinander gestellt, nicht etwa gelegt, eine Flaschenkette von Berlin bis Nürnberg.
Viel wichtiger aber, ist es Menschen unterschiedlichster Generationen und Herkunft ein Stück Heimat. Das hat mit Daggi und Matze zu tun.
Die Maschinen laufen 24/7
Daggi kocht, backt, brät, macht die Buchhaltung. Matze hält Möbel und Maschinen in Schuss, Kaffee, Eisgetränke. Das Surren der knallblaue, rote und grüne Masse wälzenden Eismaschinen ist die ständige Hintergrundmusik des Sommers. Die Maschinen laufen 24/7, frieren aber nicht ununterbrochen, etwa eine Stunde dauert es, bis die gewünschte Konsistenz erreicht ist. Matze herrscht auch über das Spielzeugreich, Spritzpistolen, Schaumstoffnudeln, Schwimmtiere, allein fünf verschiedene Varianten Wasserbälle, „das macht dem richtig Spaß, siehste das?“, fragt Dagmar.
Wo Spaß ist, gibt es natürlich Spaßbremsen, das Spielzeug darf nicht über den Eisgetränken hängen, hat der Lebensmittelkontrolleur beim letzten Besuch getadelt, aber irgendwo findet Matze immer noch Platz, einen rosa Aufblasoktopus aufzuhängen. Momentan liegt auf dem Schirm, der drinnen völlig unnötigerweise den Stehtisch rechts des Eingangs beschirmt und unter dem noch immer die 86-jährige Elsbeth Kadler steht, ein aufgeblasener Hai auf einer aufgeblasenen Schildkröte, als würden sie rammeln. Seit Matze dem Mülleimer daneben ein Gesicht verpasst hat, werfen die Kinder viel mehr hinein.
„Ein Glück ist das Nichtschwimmerbecken wieder offen“, sagt Elsbeth Kadler, „ich kann ja schwimmen, aber so, wie die einen umkraulen, kriegt mich da keiner rein. Ich hab’ ja eh schon einen Blutdruck, der mir nachts Angst macht.“ Und sie halte einiges aus, 45 Jahre bei der U-Bahn, Starkstromanlagen, „da gab es keine Damentoiletten!“ Nach dem Espresso verschwindet Elsbeth Kadler eine Dreiviertelstunde, bestellt danach einen Kaffee und, weil die Limburgerbrötchenzeiten passé sind, ein halbes mit Rührei, ein halbes mit Lachs. Falls sie zwischendurch im Wasser war, sieht man es ihr nicht an, Dutt, Halstuch, Kette: akkurat wie zuvor. „Den Lachs mit Meerrettich?“, fragt Matze, „Ja.“ „Den scharfen oder den milden?“ „Gern den scharfen“, sagt Elsbeth Kadler.
Popcorn ist tot. Die Schaumwaffeln auch
Wiener, belegte Brötchen: Das war so das 70er- und 80er-Jahre-Programm, Pott Kaffee, fertig. „Es gab keine Laktose-intoleranten Menschen“, stellt Daggi fest, jedenfalls traten die nicht in Erscheinung. Heute stehen im Vorratsregal im Flur Bio-, Soja-, Hafer- und Mandelmilch. Angeschrieben haben sie das nicht, aber wenn jemand fragt, sind sie vorbereitet. Gleiches gilt für Gelatinefreies. Daggi macht eine türkische Linsensuppe, die ist vegan, und als das aufkam, sagte Matze, schreib das doch dran, aber das gefiel den Alt-Kreuzbergern gar nicht, die bestellten die Suppe plötzlich nicht mehr, also heißt sie nur wieder Linsensuppe.
Was haben sie hier nicht schon für Moden kommen und gehen sehen! Das ausgeprägte Ernährungsbewusstsein bei Teilen ihrer Kundschaft hält an, aber der Fitnesswahn hat aufgehört, sagt Matze, die Oberarme schrumpfen wieder in sich zusammen. Auch diese Tussi-Generation stirbt aus, meint Dagmar, „ich finde, dass die jungen Frauen heute so rumlaufen wie ich in den 80ern nicht mal den Müll runtergebracht hätte“.
Einst war das Günstigste, was neben dem Süßkram zu bekommen war, der Ketchuptoast. „Für 35 Pfennig mussten wir im dicksten Betrieb Ketchup-Gesichter auf Toast malen. Und abends die Flaschen auswaschen.“ 2000 haben sie das abgeschafft, rechnete sich nicht. Zuckerwatte ist tot, Popcorn auch, und die Schaumwaffeln! Einst der Renner, haben sie die 2001 endgültig aus dem Sortiment genommen. Jetzt kommt lediglich noch einmal im Jahr eine alte Dame und fragt danach.
„Bin ich froh, dass das Minion-Eis weg ist“, seufzt Dagmar. Schmeckte nicht nur komisch, war so weich, dass die Hälfte auf dem Boden lag, ehe die Kids den Raum verlassen hatten. Das Eis kommt von Langnese, „Schöller ist Nestlé, das kannst du in Kreuzberg nicht mehr verkaufen“, sagt Daggi.
Als die Hipster kamen, sagte sie: Ich will meine Kanaken wiederhaben!
Früher fragten die Leute: „Haben Sie Kamillentee?“, erinnert sich Dagmar. Jetzt nehmen sie die Antwort vorweg: „Kamillentee haben Sie wohl nicht.“
So sind die Berliner, sagt Daggi, „ich weiß nicht, was die Leute antreibt, die Messlatte so hochzulegen und ein solches Anspruchsdenken zu haben.“ Ende der Nullerjahre, da wurden besonders viele Hipster in ihr Freibad geschwemmt, da sagte Daggi irgendwann zu Matze: „Ich will meine Kanaken wiederhaben!“ Sie haben dann aber festgestellt, all die Nörgler tragen im zweiten Jahr ihre Nasen schon nicht mehr ganz so hoch, vielleicht auch, weil Daggi – natürlich! – Kamillentee hat.
Matze ist im Haus gegenüber des Personaleingangs geboren. Er war drauf und dran, Polizist zu werden wie sein Vater. Dann bekam er kurz vor Abschluss der Ausbildung die Diagnose Diabetes, das war’s. Kein Dienst an der Waffe, einen Bürojob wollte er nicht.
Dagmar wollte eigentlich Maskenbildnerin werden, lernte dann Friseuse, zog mit 25 aus Bremen nach Berlin und versuchte sich in „Waschmaschinen An- und Verkauf“. Dann ein Jahrzehnt Q-Dorf, irgendwann hing an ’nem Blumenladen ein Zettel, Aushilfe fürs Schwimmbad gesucht, und Dagmar dachte sich: Das ist wie Q-Dorf ohne Alkohol.
Auf zwei Tafeln an der Wand steht: „Aperol Sprizz, Bellini, Mimosa (Sekt mit Orangensaft)“. Gestern wollten zwei junge Frauen, ehe sie Prosecco bestellten, den Jahrgang erfahren. Gibt es aber alles erst ab 18, sagt Daggi, auch das Bier, ihr Gesetz.
Jetzt schenkt sie Sekt aus. Sechs Gläser auf einem Tablett, dazu ein Schokokuss mit Kerze drin. Harald, längeres Haar, grünweiß gestreiftes Poloshirt, ist 61 geworden, darauf wird angestoßen. Hinten im Flur hängt ein Kalender, 40, 50 Namen sind darauf eingetragen. Sekt sprudelt.
Bei aller Feuchtfröhlichkeit achten sie ein bisschen auf die Verfassung, „wenn die Männer angeschickert sind und dann sagen, was sie fühlen, sind andere unangenehm berührt. Dann hast Du hier so ’ne Psychotherapienummer“, sagt Daggi.
Aber haben sie die nicht eh? „Meldet euch bei der AOK an“, hat ihnen eine Kundin geraten, ihr seid definitiv Beratungs- und Lebenshilfe.“ Wenn jemand Zuspruch und Komplimente in ’ner Pommesbude sucht, sagt Dagmar, „mag er uns entweder sehr gern, oder er ist furchtbar einsam“. Oder beides.
Rechts der Kuchentheke gibt es ein schmales Bücherregal, eine Tauschbörse. „Himmel aus Eisen“, empfiehlt Elsbeth Kadler, über die französische Kolonialzeit, „das fand ich lehrreich, das war da raus.“
Sie nennen sie Höllenwoche
Krasser als die Sommerferien ist die Woche davor. Von Daggi und Matze liebevoll als „Höllenwoche“ bezeichnet. Da sind die Arbeiten und Zeugnisse geschrieben, wollen ganze Klassen alle auf einmal Süßigkeiten. Stehen sich um halb elf 52 Viertklässler in der Schlange vor dem Slush-Eis die Beine in den Bauch und die Lehrer nennen das Wandertag.
Slush-Eis: 3.178 Portionen im Vormonat, am begehrtesten ist die Mischung aus blau, grün, rot, maximaler Aufwand für die Mitarbeiter.
„Liebe Kinder, könnt ihr ein bisschen leiser sein, damit wir euch verstehen?“, ruft Matze in die Schar hinein. „Wer hat die rotweißen Pommes bestellt und schon bezahlt?“ Drei Finger gehen in die Luft. „Ich!“
Das alles ändert nichts daran, dass Matze den Weingummifrosch mit der Zange geduldig zurück zu seinen Artgenossen legt, wenn sich in letzter Sekunde zugunsten eines Weingummischlumpfs umentschieden wird. Dass er seine kleinen Kunden stets respektvoll mit „junger Mann, junge Frau“ anspricht und jedem noch ein „Lass’ es dir schmecken“ mit auf den Weg gibt. Ein asiatisch aussehender Junge will Pfand. „Dafür doch nicht“, bedauert Matze ehrlich, „das ist eine Pappschale“.
Matze nimmt sich für jeden Gast viel Zeit, er kann aber auch auf unmissverständliche Art deutlich machen, wenn es reicht: Dann lehnt er sich weit vor über den Tresen, sieht dem Nächsten tief in die Augen und sagt: „Bitte?“
Tampons verkaufen sie einzeln
Die Berliner Bäder-Betriebe, die eine Provision kassieren, raten Dagmar und Mathias jedes Jahr, die Preise anzuheben. Schon um sie denen anderer Schwimmbadimbisse anzupassen. Aber Daggi und Matze waren da stets zögerlich, und beim Pommespreis gehen sie nicht über die 2 Euro 20. „Pommes gehören für Kinder zum Schwimmbadbesuch einfach dazu“, sagt Daggi entschieden, „da mache ich doch nicht die Pommes teurer“.
Überhaupt erscheint vieles auf der Liste recht taschengeldfreundlich. Schokokussbrötchen 75 Cent. Spritzkringel 25 Cent. Colakracher 5 Cent.
Babysitter, vier Mal, steht in der Junibilanz. Gemeint sind nicht etwa Betreuungsdienste als zusätzliche Einnahmequelle, sondern eine grellorangefarbene Plastik-Schwimminsel, in der ein Baby sitzen kann. Gebabysittet habe sie nur einmal, erzählt Dagmar, einen französischen Säugling, dessen Mutter auch mal ein paar Bahnen ziehen wollte. „Dem hab ich Frère Jacques vorgesungen.“
26 Herrenbadeshorts, 7 Damenbadeanzüge, 26 Windeln, 7 mal Ohrenstöpsel, 3 Päckchen Streichhölzer, 1 Lockenshampoo, 1 Haargummi, 1 Haarbürste, kaum eine Not, aus der Daggi und Matze nicht helfen können. Tampons verkaufen sie einzeln, 18 mal im Juni. Nicht zu vergessen: 49 Mal Sonnenmilch. Sonnenmilch kleckst.
Kaffee schwappt. 4.475 Becher Kaffee, 339 Cappuccino, 24 doppelte Espresso, 17 Kaffee Hag, 2 Carokaffee, 2 Apfelpunsch. Apfelpunsch? Man muss flexibel sein, sagt Daggi.
Das Leben ist wie eine Ketchupflasche
Man muss überhaupt sehr flexibel sein. „Klar, wenn es junge Hunde regnet, machen wir früher zu.“ An starken Tagen zählen die Drehkreuze schonmal 9.000 Besucher, an schlechten 300. Wenn es geregnet hat, kann es danach noch so schön sein, ist die Wiese nass, haben die Leute keinen Bock, sich da draufzulegen. Gerade erst war – nicht nur zu Elsbeth Kadlers Missfallen! – das Nichtschwimmerbecken tagelang gesperrt, „da spüren wir schon einen Verdienstausfall, aber nicht so, dass wir ins Kissen weinen.“ Funktionieren wie gestern obendrein die Duschen nicht, ziehen viele Stammschwimmer unverrichteter Dinge wieder ab, bleiben von 65 geschmierten Brötchen schon mal 34 liegen.
Um 15 Uhr an diesem Julitag warten vor dem Bad 230 Menschen auf Einlass. Die Liegewiese ist als Wiese nur noch schwer zu erkennen, in den Becken stoßen Körper unfreiwillig aneinander.
Wann gibt es den großen Ansturm, wann bleibt er aus? Selbst Daggi und Matze können das nur bedingt vorhersehen. Manchmal ist da gähnende Leere, kurz darauf reicht die Schlange bis vor die benachbarten Waschräume. Das Leben ist wie eine Ketchupflasche, erst kommt nix und dann kommt alles.
Bis elf Uhr erkundigen sich die Mitarbeiter telefonisch, ob sie gebraucht werden. 18.573 Portionen Pommes im Monat schwenkt man nicht alleine. Weil das Pommesgeschäft alles andere in den Schatten stellt, ist es vom restlichen getrennt und an vier Außentresen ausgelagert. An Tagen wie diesen sind allein im Pommesbereich fünf Angestellte beschäftigt.
So begehrt sind die Jobs bei Daggi und Matze, dass sie quasi vererbt werden – die Vorauswahl treffen die Mitarbeiter. Sie empfehlen Klassenkameraden, Nachbarn oder Geschwister, und das ist Daggi und Matze die beste Referenz. „Gastronomie ist was Besonderes“, sagt Daggi, „wenn du das Herz dafür nicht hast, nützt dir das beste Zeugnis nichts. Als Tresenschlampe kommt man zur Welt.“
Yussuf zum Beispiel, der hatte immer Ärger mit der Polizei, war bei ihnen aber „ganz doll zuverlässig“ und hat zum 1. Mai dieses Jahres in Nordrhein-Westfalen eine Schwimmbad-Gastronomie aufgemacht. Überhaupt ist eigentlich aus allen was geworden. Harun ist jetzt Facility Manager bei einem großen Verlagshaus, sein kleiner Bruder Oli Fluglotse. Gerade hat er sie zu seiner Hochzeit eingeladen, „aber keine Chance“, sagt Dagmar, „wir können hier nicht weg, weißt du ja“.
Syrer, Afghanen, Türken, Libanesen, Polen, Deutsche
Ayat, eine junge Frau mit Turban, ist erst seit drei Jahren in Deutschland. Eine Stammkundin hatte gefragt, ob sie hier arbeiten könne, zehn bis zwölf Stunden pro Woche auf 450 Euro Basis. „Die ist ein solcher Schatz, die könnte unsere Nachfolgerin werden“, sagt Daggi.
Syrer, Afghanen, Türken, Libanesen, Polen, Deutsche. Über die Fritteusen hinweg rufen sie einander „He, Arab“ oder „Polacke“ zu, aber alle lachen dabei.
„Wieso essen wir, was in Afrika wächst“, fragt Elsbeth Kadler Ayat, „und holen uns das nicht aus Osteuropa?“
Wieso zahlt ein Taxifahrer aus Steglitz eigens die 5,50 Euro Eintritt, wenn er in der Gegend ist, um hier Currywurst zu essen?
Elsbeth könnte den anderen noch eine Frikadelle ans Ohr quatschen, aber sie muss zur Rückengymnastik. Und ehe sie zurück in Treptow ist, dauert es.
Heute nimmt sie sich noch einen Knusperkeks mit. Unter den Brötchen, die sie hier aufbacken, sind welche mit Kürbiskernen, und wenn die alle sind, bleiben in dem Tiefkühlbeutel immer reichlich davon zurück. Irgendwann hat Dagmar die mal rausgeklaubt und gewogen, 200 Gramm, welche Verschwendung!, also mischte sie ein bisschen dieses und jenes darunter und erschaffen war der Knusperkeks, 90 Cent. Der ist seither dermaßen beliebt, dass Dagmar die Kürbiskerne säckeweise kauft.
Im Winter ist es schon Körperverletzung, wenn der Steuerberater anruft
Daggi nimmt in der Saison 25 Pfund ab. Morgens isst sie den Kanten vom Vollkornbrot, Matze zieht sich mal ein Maisbrötchen rein, „ein bisschen teurer im Einkauf, aber das ist es wert“, preist er. Auch das ein Gesetz: Geschmack entscheidet. Neben dem Gebäude haben sie den „botanischen Garten“, zwischen Pommestresen und der Hecke, die den Gastrobereich von der Liegewiese abtrennt, zieht Daggi Basilikum, Oregano, Thymian, Majoran, Minze, Salbei. „Ich mag die Vielfalt.“ Trotzdem essen sie fast jeden Abend Wiener, weil die übrig sind. Daggi sagt, „die Wiener wachsen uns bald zu den Ohren raus“.
Beide sehen gern Tim Mälzer. „Kitchen Impossible“. Nicht selten ruft einer den anderen an, „Guckst du gerade? Wär’ das nicht was für uns?“
Seit 2007, da war Dagmar „gerade ihrem Mann weggelaufen“, wie sie sagt, gehen sie auch zusammen auf Reisen. Kambodscha, Thailand, „ich habe nie ein beeindruckenderes Land gesehen“, sagt Dagmar, Sri Lanka, Malediven, die Dominikanische Republik, Mexiko, Sansibar, Tansania, die San-Blas-Inseln. Matze macht Fotos, ein paar hängen im Raucher- und Pausenraum an der gelb gestrichenen Wand über dem Tisch und dem beigefarbenen Veloursledersofa mit der Leopardenfelldecke, die hat die Q-Dorf-Chefin zum Abschied für Dagmar genäht. Hier legt Daggi sich manchmal ein bisschen hin.
Ein Paar sind sie nicht. Vom Urlaub abgesehen macht im Winter jeder seins. Mathias sieht ab und zu nach dem Rechten, lüftet, gießt die Pflanzen, die sie während der kalten Monate in den Pommesraum stellen. Daggi nimmt die Katze mit zu sich, die ihnen irgendwann zugelaufen ist, und die, wenn die Badegäste weg sind, hervorkommt, um die Reste zu inspizieren. Sie haben sie Mogelchen getauft, „weil die sich hier so reingemogelt hat“.
Willkommen und Abschied
In Kreuzberg leben beide schon lange nicht mehr. Dagmar ist nach Reinickendorf gezogen. Matze wohnt in Heiligensee. Es bedeutet 40 bis 60 Minuten Anfahrt jeden Morgen, oder vielmehr: jede Nacht. Aber das hier, das sei nicht mehr ihr Viertel, „das Flair ist weg“, sagt Daggi, „die Polizeisirene ist die Nationalhymne Kreuzbergs“, sagt Matze, „zu hochkandidelt“, findet Daggi, „wer soll sich diese Mieten leisten?“ Sie haben Kreuzberg den ganzen Sommer über, das genügt.
„Im Winter ist es schon Körperverletzung, wenn der Steuerberater anruft“, sagt Daggi. Am Ende jedes Sommers steht die totale Erschöpfung. Da ist die Zeit, die Kontakte zu pflegen, für die im Sommer beim besten Willen keine Zeit bleibt, und doch kommt Daggi allzu oft gar nicht erst von ihrem Sofa hoch. „Ich freue mich auf jede Saison, aber ich habe vor jeder einen immensen Respekt.“
Am 18. März haben sie mit der Putzerei angefangen, am 19. April eröffnet. Mit dem 15. September soll Schluss sein, „danach machen wir noch vier Wochen winterfest, eine Riesen-Orgie, Fritteusen, Caféteria, Trockenlager, einfach alles, damit keine Biotope entstehen.“ Manche Stammgäste weinen, wenn die Saison zu Ende ist, sie veranstalten dann immer ein Abschiedsfest mit großem Buffet, zu dem jeder einen Obolus zahlt.
2017 war das Wetter eine solche Katastrophe, dass sie vor dem Konkurs standen. Da fragte ein Stammkunde bei der Schlussfeier, hast du mal Zettel und Stift, und notierte die Kontonummer. Eine andere bot an: In drei Monaten werde ich pensioniert, bis dahin bekomme ich noch Beamtenkredit, wie viel braucht ihr? So wurden Daggi und Matze dank ihrer Kunden ein weiteres Mal liquide.
Um 19 Uhr sperrt Matze die Caféteriatür ab, den Außentresen halten sie bis zuletzt offen. Um Punkt 20 Uhr ist das Bad zu, und von einem auf den anderen Moment ist das eben noch so bewegte Wasser nurmehr eine glatte, gespannte Oberfläche.
Hin und wieder gönnen sie sich selber ein paar Züge im leeren Becken, meistens sind sie zu kaputt. „Und ich weiß ja, wie die Wasserfilter aussehen“, sagt Daggi.
Stattdessen eine Zigarette im botanischen Garten. Dann wieder hoch, die Backmischungen für das Brot vorbereiten, die Pfandflaschen sortieren, das alte Fett in die blaue Tonne hinterm Haus kippen, die Mülleimer leeren, die Kaffeemaschine spülen, die Theke auswischen, den Boden feudeln, die Kühlschranktemperaturen checken, die Stühle hochstellen.
Nach und nach verabschieden sich die letzten Mitarbeiter. Um 22 Uhr startet Dagmar die Wäsche und macht Kassensturz. Ehe sie geht, spricht sie noch dem Metzger auf den Anrufbeantworter und bestellt 300 Currywürste und 300 Wiener für den kommenden Tag.