Wenn der Mediziner auch Corona-Skeptiker ist: 150 Beschwerden über Ärzte in Berlin
Der „Wahnsinn drumherum“ sei schlimmer als das Virus, das soll offenbar ein Steglitzer Mediziner zu seinem Patienten gesagt haben. Kein Einzelfall.
Das Coronavirus sei schlimm, die nun verbreitete Angst aber schlimmer, heißt es in einer Kreuzberger Praxis. Zwar gebe es Sars-Cov-2, der „Wahnsinn drumherum“ sei jedoch die größere Bedrohung, soll ein Steglitzer Mediziner einem Patienten gesagt haben. Und in einer Zahnarztpraxis in Pankow hustete eine Mitarbeiterin offenbar tagelang – die Arbeit vor Ort sollte sie trotzdem erledigen.
Berlins Staatsanwaltschaft prüft inzwischen, ob Ärzte, die die Pandemie verharmlosen oder gar ignorieren, ein Fall für die Justiz werden könnten.
Die Ärzte trugen keine Masken, sagt eine Patientin
Vor einigen Tagen leitete die Berliner Ärztekammer zahlreiche Fälle möglicher Patientengefährdung an die Staatsanwaltschaft weiter. Dabei sind auch Mediziner erfasst, die ihre Patienten aufgefordert haben sollen, auf Mund-Nasen-Bedeckungen zu verzichten. Zudem gebe es den Verdacht, ausgestellter Gefälligkeitsatteste, die Patienten von der Pflicht zum Tragen einer Maske entbinden.
Ein Wochentag im Oktober, die Bundespolitik debattiert über den inzwischen verhängten Lockdown. Eine Kreuzbergerin, selbst im Gesundheitswesen tätig, will wegen einer Kleinigkeit schnell zu einem Hausarzt. In der Nähe in Kreuzberg gibt es eine Praxis. Das Personal dort habe komplett auf Masken verzichtet, berichtet die Frau. Auf Nachfrage der neuen Patientin soll einer der Ärzte gesagt haben: „Wir haben abgewogen, was ist schlimmer: soziale Distanz oder Corona?“ Man habe sich gegen Corona entschieden.
Im Wartezimmer habe, so erinnert sich die Frau, eine verschnupfte Patientin gesessen, die ebenfalls keine Maske trug. Die Ärzte der Praxis erklären auf ihrer Internetseite, dass sie die Lage anders bewerten, als die meisten Mediziner: Die von Bundes- und Landesregierungen beschlossenen Pandemie-Maßnahmen führten zu massenhafter Verunsicherung, so die Kreuzberger Praxis, Angst bestimme den Alltag. Dabei gebe es jährlich Grippewellen, in deren Folge ebenfalls viele Tote zu beklagen seien.
Ärztekammer-Chef: "Masken retten Leben"
„Patientengefährdung gehört auch in Kreuzberg nicht zum ärztlichen Auftrag“, sagt Ärztekammer-Chef Günther Jonitz. „Masken retten Leben, gerade im Wartezimmer und am Praxistresen.“ Es gehe zudem um physische, nicht soziale Distanz. Der Kammer sind seit März in 130 Fällen Mediziner mit fragwürdigen oder falschen Behauptungen zum Coronavirus gemeldet worden.
[Alle aktuellen Fallzahlen auf einen Blick finden Sie in unserem interaktiven Überblick zu allen Corona-Fällen in allen Berliner Bezirken, allen deutschen Kreisen, Bundesländern und weltweit. Hier finden Sie stets die neuesten Zahlen.]
Ärztekammern sind Körperschaften öffentlichen Rechts, denen alle zugelassenen Mediziner angehören müssen. In Berlin sind das 32.500. Die Kammern sind für Fragen der Weiterbildung und des Standesrechts zuständig, sie können Geldbußen verhängen. Während der Kammer alle Mediziner angehören, ist die Kassenärztliche Vereinigung (KV) eigens für die 9000 Berliner Praxen zuständig, die gesetzlich Versicherte versorgen. Dort sind zehn Beschwerden mit Corona-Bezug eingegangen. Zudem wurden fast 25 Praxen wegen mutmaßlicher Verstöße gegen die Regeln zum Infektionsschutz den Gesundheitsämtern gemeldet, hieß es aus Ärztekreisen.
Die bezirklichen Ämter können Praxen bestimmte Vorgaben machen. In gravierenden Fällen, wenn dauerhaft Richtlinien missachtet werden, kann das Landesamt für Gesundheit und Soziales einem Arzt die Approbation entziehen. Hinzu kämen bei strafrechtlich relevanten Verstößen mögliche Gerichtsverfahren.
Eine Praxis-Mitarbeiterin hustet - und ist Sars-Cov-2-positiv
Der Berliner Anwalt Jörg Heynemann ist auf Medizinrecht spezialisiert. Er sagt, wenn ein Patient darlegen könne, dass mangelnder Infektionsschutz in einer Praxis zu Schäden geführt hat, könne man auch Schadensersatz geltend machen. Oft dürfte sich allerdings kaum beweisen lassen, dass man sich an einem bestimmten Ort angesteckt habe.
Den Tagesspiegel haben zuletzt auch Beschwerden über Zahnarztpraxen erreicht. So zu einer Pankower Zahnarztpraxis, die im Netz nicht nur mit ästhetischem Ambiente, sondern auch mit fachlicher Kompetenz wirbt: Verwiesen wird auf „regelmäßige Weiterbildungen“ der Praxisangestellten. Allerdings sollen dort die aktuellen Vorschriften lax gehandhabt worden sein: Eine Zahnarzthelferin habe tagelang gehustet, sei aber jeden Morgen in der Praxis erschienen. Die Helferin sei schließlich positiv auf Sars-Cov-2 getestet worden.
Der Vorwurf ließ sich am Freitag nicht erhärten, auch der Zahnärztekammer liegt kein Hinweis zu Corona-Verstößen in jener Praxis vor. Der Kammer seien mit Pandemie-Bezug ohnehin nur zwei Fälle gemeldet worden, die sich nach Überprüfung nicht bestätigt hätten. Mit Blick auf die klassischen Ärzte, sagt Kammerchef Jonitz, dass man der Standesvertretung auch weiter Verstöße gegen die Hygieneregeln melden möge.
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