Impfung: Zwischen Segen und Sorge
Impfen ist unangenehm, doch es beugt gefährlichen Krankheiten vor. Immer wieder wird darüber heftig gestritten – auch in diesen Tagen.
Von Impfpflicht bis Masern: Das Thema Impfen erhitzt in diesem Sommer die Gemüter. Wir dokumentieren aktuelle Entwicklungen und Streitpunkte.
Schluckimpfung gegen Rotaviren
Während in Politik, Ärzteschaft und Medien noch über die Lehren aus den gehäuften Masernfällen diskutiert wurde, ist inzwischen sicher, dass die beim Robert Koch-Institut angesiedelte Ständige Impfkommission (Stiko) die Liste der für Kinder empfohlenen Impfungen demnächst um ein weiteres Element erweitern wird. Die neue Empfehlung, eine Schluckimpfung gegen Rotaviren in den Impfkalender für Säuglinge aufzunehmen, wird zwar erst in einigen Wochen offiziell herausgegeben werden, doch eine ausführliche Darstellung und Begründung in englischer Sprache wurde bereits im Bundesgesundheitsblatt veröffentlicht. Je nach Impfstoff bekommen die Kinder dabei in den ersten sechs bis 32 Lebenswochen vom Kinderarzt zwei- bis dreimal eine Dosis des Impfstoffs direkt in den Mund. Einige Krankenkassen zahlen diese Impfung schon jetzt; wenn der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen sich der Empfehlung anschließt, werden es bald alle tun.
Die Eltern stehen damit vor einer neuen Entscheidung: Es geht um den Schutz vor einem Erreger, der vor allem bei Babys und Kleinkindern schwere Durchfälle verursacht. In Entwicklungsländern sterben in jedem Jahr fast 600 000 Kinder unter fünf Jahren in deren Folge. In Deutschland hat eine Infektion mit dem Virus nicht so verheerende Folgen. Immerhin werden den Behörden in jedem Jahr 40 000 Erkrankungen von Unter-Fünfjährigen gemeldet, und die Hälfte von ihnen muss im Krankenhaus behandelt werden, rund 50 in jedem Jahr sogar auf der Intensivstation. Rotaviren haben also insgesamt einen großen Anteil daran, wenn die Allerjüngsten krank werden.
Langer Weg zur Impfempfehlung
Anders als bei Masern oder Mumps drohen nach einer Infektion mit Rotaviren aber nur ganz selten langfristige Folgen. „Die Anforderungen an die Sicherheit und Wirksamkeit eines Impfstoffs müssen also besonders hoch sein“, sagt der Stiko-Vorsitzende Jan Leidel. Erstmals hat seine Kommission deshalb der Empfehlung zur Rotaviren-Impfung ein langwieriges Verfahren vorgeschaltet, im Zuge dessen mithilfe von RKI-Wissenschaftlern systematisch Fachliteratur und Erfahrungen anderer Länder ausgewertet wurden. „Diese Prozedur führt dazu, dass wir auch in Zukunft mehr Zeit für die einzelne Entscheidung brauchen werden“, sagt Leidel. Nach der fachlichen Empfehlung der Stiko dauert es dann wieder eine Weile, bis der Gemeinsame Bundesausschuss grünes Licht dafür gibt, dass die Kassen die Impfung zahlen. Bisher ist der Impfkalender im Zuge dieser Prozedur so gut wie immer länger geworden. Nur ein einziges Mal wurde eine Impfung wegen ihres schlechten Verhältnisses zwischen Wirksamkeit und Sicherheit gestrichen, die gegen Tuberkulose.
Wind um die Windpocken
Als die Impfkommission 2004 die Immunisierung gegen Windpocken in ihren Impfkalender aufnahm, fanden auch viele Eltern, die eigentlich keine Impfgegner waren, dass das zu weit gehe. Sollte ihren Kindern nun selbst die harmloseste Kinderkrankheit genommen werden, eine, die fast jeder aus eigener Erfahrung kannte und im Rückblick als wenig schlimm empfand? Auch fachlich gibt es nach wie vor Bedenken. Wo nicht mehr so viele von den extrem ansteckenden Viren zirkulieren, könnten mehr Menschen als bisher erst in höherem Alter erkranken, und das dann schwerer.
Noch ist unklar, wie lange der Impfschutz anhält. Außerdem gibt es die Befürchtung, dass nun zunächst mehr Menschen in geschwächtem Immunzustand eine Gürtelrose bekommen werden. Zu deren Abwehr könnte nämlich eine ständige Auseinandersetzung mit den Varizella-Viren wichtig sein, die sich früher immer im Umlauf befanden, etwa bei Kindern und Enkeln. Andererseits gibt es auch bei den relativ harmlosen Windpocken Komplikationen, etwa für Kinder mit einer Neurodermitis, und in seltenen Fällen sterben immungeschwächte Kinder daran.
Nach Leidels Ansicht hilft nur die konsequente Auswertung der Daten, um Klarheit über den langfristigen Nutzen der Impfung zu gewinnen. Immerhin gibt es sie neuerdings, und das nicht nur aus kleinen Stichproben. Denn seit März sind auch die Windpocken meldepflichtig. Wahrscheinlich sei es für die Gesamtbevölkerung am unvorteilhaftesten, wenn die Empfehlung zur Windpockenimpfung nur halbherzig umgesetzt wird, so fürchtet der Stiko-Chef. Dann sinken nämlich die Chancen, dass sie eine echte Kinderkrankheit bleibt, und es steigt die Gefahr für immungeschwächte Kinder oder ältere Erwachsene.
Masern: Ausrottung angepeilt
Zu Beginn dieses Jahrtausends hat sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Die Masern, die seit 2002 in Ländern wie den USA nicht mehr aufgetreten sind, sollten bis zum Jahr 2010 auch aus Europa verschwunden sein. Es kam bekanntlich anders, im ersten Halbjahr 2013 wurden allein in Deutschland den Gesundheitsämtern 1070 Fälle gemeldet, im gesamten letzten Jahr waren es nur 166 gewesen. Nun lautet das neue Ziel der WHO: Ausrottung 2015.
Prinzipiell kann man es mit Impfprogrammen schaffen, Krankheiten zum Verschwinden zu bringen. Unter der Bedingung, dass sich ihre Erreger nur im Menschen vermehren und nur von Mensch zu Mensch verbreiten. Paradebeispiel sind die Pocken. Den Durchbruch brachte die Beobachtung des englischen Landarztes Edward Jenner. Mägde, die sich beim Melken mit den Kuhpocken infiziert hatten, behielten ihre glatte Haut. Im Jahr 1796 machte er den gewagten Versuch, einen kleinen Jungen zunächst mit Eiter aus einer Pustel von der Hand einer Kuhmagd, einige Wochen später mit echten Pocken zu infizieren. Die „Vakzination“ (nach lateinisch vacca, die Kuh) und ihre Weiterentwicklungen erwiesen sich als so erfolgreich, dass die Impfung im 19. Jahrhundert in vielen Ländern Pflicht wurde, in Deutschland 1874. Erst 1976 endete sie. Ältere Jahrgänge erkennt man an den Narben in der Haut der Oberarme.
Von der Kür zur Pflicht?
Nun kam die Impfpflicht durch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr vor kurzem anlässlich der Masernausbrüche erneut ins Gespräch. „Aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht ist eine Impfpflicht das einzig Sinnvolle“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, gegenüber dem „Spiegel“. Aus der Sicht des Stiko-Vorsitzenden Jan Leidel ist die Forderung nach Pflichtimpfungen „ein Ruf nach gesetzgeberischen Maßnahmen, obwohl die Bundesländer ihre Hausaufgaben noch nicht erledigt haben“. Konkret nennt er die im Infektionsschutzgesetz festgelegte Pflicht der Leitungen von Kitas und Schulen, Eltern in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern über den Impfschutz zu informieren. „Das scheitert oft nicht allein an Zeitmangel, sondern auch an der Impfskepsis vieler Lehrer und Erzieher“, sagt Leidel. Auch die Möglichkeit, Verträge abzuschließen, die den Öffentlichen Gesundheitsdienst für Impfaktionen in die Schulen bringen, würde von den Ländern kaum genutzt. Wenn eine besonders gefährliche Infektionskrankheit droht, kann die Regierung im Übrigen laut Infektionsschutzgesetz mit Zustimmung des Bundesrats schon heute die Bevölkerung oder Teile davon zur Schutzimpfung verpflichten. Denkbar wäre das etwa, wenn eine hochinfektiöse Variante der Vogelgrippe auftauchte, die sonst zahlreiche Todesopfer fordern würde.
„Eine solche Bedrohung führt die Menschen allerdings meist freiwillig zum Impfen“, sagt Leidel. Und berichtet vom Andrang, der Ende der 70er Jahre im Gesundheitsamt Köln während eines Diphtherie-Ausbruchs herrschte. „Das Gewühl war so groß, dass die schon Geimpften das Gebäude durchs Fenster verlassen mussten.“
Individuelle Entscheidung
Die Impfungen gegen Diphtherie und Wundstarrkrampf (Tetanus), die im Erwachsenenalter alle zehn Jahre aufgefrischt werden sollten, sind kaum umstritten. Die Stiko empfiehlt, allen Erwachsenen bei der nächsten Auffrischimpfung einen Kombinationsimpfstoff zu spritzen, der auch einen Schutz gegen Keuchhusten bietet. Den haben heute nur knapp sechs Prozent der erwachsenen Bundesbürger. Denn weder die Impfung noch eine natürliche Infektion führen zu lebenslanger Immunität. Ungeimpfte könnten nicht nur selbst erkranken, sondern auch Säuglinge infizieren.
Wie man bei den jüngsten Masernfällen gesehen hat, hat die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Impfung oft nicht nur Auswirkungen für den Betroffenen selbst oder sein Kind. Wer sich gegen eine Impfung entscheidet, gefährdet die Gemeinschaft. Denn von der „Herdenimmunität“, die gute Impfraten bewirken, profitieren zum Beispiel Menschen, die Impfungen aus gesundheitlichen Gründen nicht bekommen dürfen.
Impfskeptiker wie der Mediziner Martin Hirte propagieren für alle Bürger „individuelle Impfentscheidungen“. Das klingt gut. Was der Arzt empfiehlt, sollte sich trotzdem auf die wissenschaftliche Auswertung der Erfahrung mit großen Gruppen von Menschen stützen. „Die Medizin wird nicht in jedem Einzelfall neu erfunden“, gibt Leidel zu bedenken.
Unerwartete Nebenwirkung
Es war ein Triumph für die Impfskeptiker. In den 80er Jahren hatten sie die Hersteller des Keuchhustenimpfstoffes erfolgreich verklagt, schließlich verursachte sie bei Kindern relativ oft hohes Fieber und Krämpfe. Etliche Firmen zogen sich zurück, andere entwickelten einen neuen Impfstoff. Statt ganzer abgetöteter Bakterien werden nur noch einzelne Teile verwendet. Der Vorteil war offensichtlich: Heftige Impfreaktionen sind damit extrem selten. Allmählich bemerkten Ärzte aber einen gravierenden Nachteil. Der Impfschutz lässt innerhalb von fünf Jahren immer weiter nach. Präsentierte die altmodische Variante dem Immunsystem mehr als zwölf verschiedene Angriffspunkte (Antigene), sind es nun nur noch die zwei bis vier wichtigsten. Endotoxin, Ursache der Nebenwirkungen, ist nicht mehr dabei. Doch ausgerechnet dieser Stoff ist anscheinend der Schlüssel zu einem langen Schutz, schreibt Arthur Allen im Fachblatt „Science“.
Trotzdem sollte man nicht auf die Impfung verzichten, auch nicht auf die Auffrischung als Jugendlicher oder Erwachsener. Ohne sie wären die Erkrankungszahlen deutlich höher, gibt Wiebke Hellenbrand vom Robert Koch-Institut zu bedenken. „Wahrscheinlich mildert die Impfung auch den Krankheitsverlauf ab, sollte man sich trotzdem anstecken.“ Für Säuglinge und kleine Kinder ist das besonders wichtig. Keuchhusten ganz auszurotten, ist im Moment unmöglich. Man kann die Verbreitung nur eingrenzen. „Aber das ist immerhin schon etwas“, sagt Hellenbrand.
Weitere Informationen zum Impfen finden Sie unter www.impfen-info.de
Mitarbeit: Jana Schlütter
Adelheid Müller-Lissner