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Geschnappt. Unter jugendlichen Delinquenten hat vermutlich jeder zweite eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung.
© picture alliance / dpa

ADHS: Zerstreute Täter

Menschen mit einer Hyperaktivitätsstörung werden häufiger kriminell – und öfter als andere überführt. Im Gefängnis kommt es für die meisten noch schlimmer. „Sie haben ihre Emotionen und ihr Verhalten nicht unter Kontrolle“, sagt eine Psychologin.

Jugendliche mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) können sich nur schwer konzentrieren. Viele haben ihre Gefühle nicht im Griff – sie reagieren schnell über, sind oft ängstlich, depressiv und schlecht organisiert. Keine guten Voraussetzungen, um eine kriminelle „Karriere“ zu starten. „Menschen mit ADHS sind als Straftäter nicht gerade versiert“, sagt die Psychologin Susan Young vom King’s College in London. Weil sie die Überwachungskameras übersehen. Oder nicht bemerken, dass ein Polizist praktisch neben ihnen steht und sie beim Autoknacken beobachtet. „Sie werden fünfmal häufiger geschnappt als andere“, sagt Susan Young. Gleichzeitig werden sie häufiger kriminell.

Die Wissenschaftlerin arbeitet mit Schwerverbrechern in britischen Hochsicherheitstrakts. Die Gefängnisse sind voll mit ADHS-Betroffenen, sagt sie. In den Jugendhaftanstalten hat jeder zweite Insasse ADHS, im Erwachsenenstrafvollzug jeder dritte. Und von zehn inhaftierten Frauen leidet mindestens eine an ADHS, ergaben internationale Studien.

Hyperaktive Kriminelle begehen prozentual gesehen mehr Straftaten als andere, darunter auch mehr Gewaltverbrechen. Eine ADHS begünstigt anscheinend kriminelles Verhalten, darin sind sich forensische Psychiater einig. Und aus ihrer täglichen Arbeit weiß Susan Young: Gerade junge ADHS-Patienten fallen in unserem Rechtssystem schnell durch die Maschen.

Das fängt schon auf der Polizeiwache an: „Sie müssen Fragen beantworten, Szenen aufmalen, Beweisstücke anschauen – oft alles gleichzeitig“, sagt die Psychologin. Damit seien sie heillos überfordert.

Die Eltern von jugendlichen Straftätern sind in dieser Situation oft keine große Hilfe. „ADHS ist teilweise erblich bedingt, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Eltern selber betroffen sind“, sagt Young. „Viele geben Tipps wie: Sag denen doch einfach das, was sie hören wollen, und dann nichts wie weg hier.“ Studien hätten gezeigt, dass ADHS-Patienten besonders oft Taten zugeben, die sie überhaupt nicht begangen haben.

Im Gefängnis kommt es für die meisten noch schlimmer. „Sie haben ihre Emotionen und ihr Verhalten nicht unter Kontrolle“, sagt die Psychologin. Die Betroffenen ließen sich leicht provozieren und würden dann nicht nur ausfällig, sondern auch schnell aggressiv, gegenüber Mitgefangenen und Gefängniseigentum. „Je ausgeprägter die ADHS, desto öfter werden die Insassen in Ausschreitungen verwickelt“, sagt Susan Young.

ADHS ist eine Entwicklungsstörung des Gehirns, die bereits im Kindesalter beginnt. Die Betroffenen können nicht stillsitzen, sich nicht konzentrieren und ihr Verhalten nicht kontrollieren. Sie haben große Schwierigkeiten, sich in der Schule oder in ihrer Familie anzupassen. Und sie können Eltern und Lehrer regelrecht in den Wahnsinn treiben. Viele der Kinder werden unter anderem mit Ritalin behandelt, was gerade in Deutschland umstritten ist. So weit, so bekannt. Weit weniger bekannt ist, dass viele als Erwachsene weiter an der Störung leiden. Und dass die Störung ein erheblicher Risikofaktor dafür ist, auf die schiefe Bahn zu geraten.

Zu diesem Ergebnis kommt auch eine große Studie aus Island. Gisli Gudjonsson, forensischer Psychologe am Londoner King’s College, und seine Kollegen haben Fragebögen von mehr als 11 000 isländischen Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren ausgewertet. Gefragt wurde nach ADHS-Symptomen, Gewaltbereitschaft und Aggression, Selbstkontrolle, kriminellem Verhalten, Drogenabhängigkeit und dem Freundeskreis.

„Wir bringen ihnen bei, wie sie ihre Impulsivität unter Kontrolle bringen“

Gisli Gudjonsson kommt zu dem Schluss: „Die ADHS selbst hat wahrscheinlich nur einen geringen Einfluss auf kriminelles Verhalten.“ Es seien eher die Begleiterscheinungen, die kriminelles Verhalten begünstigten, das gestörte Sozialverhalten und die erhöhte Gewaltbereitschaft. „Jugendliche mit einer ADHS werden schnell zu Außenseitern“, berichtet Gudjonsson. In der Schule haben sie keinen Erfolg und finden kaum Freunde. „Sie suchen Kontakt zu anderen Außenseitern und geraten so in schlechte Gesellschaft.“ Oft würden sie in einen Strudel aus harten Drogen und Beschaffungskriminalität hineingezogen. Möglicherweise ließe sich das relativ einfach verhindern. Eltern und Lehrer müssten sich um einen Jugendlichen mit ADHS besonders bemühen, dafür sorgen, dass er gut in die Schulklasse integriert wird und Anschluss findet, sagt der Psychologe.

Die Island-Studie zeigt auch: Es gibt eine Gruppe von jungen ADHS-Betroffenen, deren Risiko, kriminell zu werden, besonders hoch ist. Es sind Jugendliche, die bereits Medikamente gegen ADHS einnehmen. „Das liegt nicht an den Medikamenten“, betont Gudjonsson, „sondern daran, dass die Jugendlichen schon sehr auffällig sind. Deshalb bekommen sie die Medikamente.“ Doch offenbar reicht das allein nicht aus. „Die Betroffenen brauchen zusätzlich eine Psychotherapie, um ihr kriminelles Verhalten in den Griff zu kriegen“, sagt Gudjonsson. Mithilfe der Medikamente könnten sie sich besser auf eine Therapie einlassen.

Die alleinige Gabe von Ritalin und Co. dagegen wäre fast schon gefährlich, warnt Susan Young: „Die Mittel helfen den Jugendlichen dabei, sich besser zu konzentrieren und ihre Aktionen besser zu planen.“ Anders ausgedrückt: Durch die Medikamente könnten kriminelle Jugendliche doch noch zu richtig erfolgreichen Straftätern werden.

Young hat eine Verhaltenstherapie entwickelt, die für ADHS-Patienten ab 13 Jahren geeignet ist. Darin lernen sie zum Beispiel, sich in ihre Opfer hineinzuversetzen und sich mithilfe von psychologischen Tricks Dinge besser zu merken.

„Wir bringen ihnen bei, wie sie ihre Impulsivität unter Kontrolle bringen“, erzählt die Psychologin. Sie müssten lernen, ihre eigenen Warnsignale zu erkennen und sich zu beruhigen, bevor sie ausflippen. Ein weiteres Modul widmet sich dem sozialen Miteinander: „Wir zeigen ihnen, dass es bei Problemen eine ganze Bandbreite von Lösungsansätzen gibt, aus denen sie wählen können.“ Und nicht einfach nur das Erstbeste machen sollten, was ihnen in den Sinn kommt.

Susan Young hat die Therapie schon erfolgreich bei erwachsenen Straftätern im Hochsicherheitstrakt angewendet, außerdem gab es eine Studie mit ADHS-Patienten in Island. Die ADHS-Symptomatik sei zurückgegangen, sagt Young. Die Betroffenen rasteten nicht mehr so schnell aus und seien weniger ängstlich und aggressiv. Und: Sie sehen ihr kriminelles Verhalten deutlich kritischer. „Das sagen nicht nur sie selbst“, meint die Londoner Psychologin. „Auch unabhängige Gutachter, die die Patienten untersucht haben und dabei nicht wussten, ob sie an der Therapie teilgenommen hatten oder nicht, bestätigen das.“

Als Nächstes will Susan Young die Therapie im Jugendgefängnis testen. Das Programm selbst könnte aber schon viel früher zum Einsatz kommen: bei jungen ADHS-Betroffenen, die abzurutschen drohen, aber noch nicht straffällig geworden sind. Vielleicht ließe sich so die eine oder andere kriminelle Karriere verhindern.

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