Hyperaktivität: ADHS ist keine Kinderkrankheit
Nicht immer wächst sich ADHS aus. Experten entwickeln geeignete Therapien für Betroffene im Erwachsenenalter. Ritalin soll bald auch für Erwachsene offiziell zugelassen werden.
Zappel-Philipps Mutter „blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“. Sie bekommt den Jungen aus der Struwwelpeter-Geschichte nicht in den Griff, aber sie ist da. Doch was wird aus Kindern und Jugendlichen, wenn sie ihre Aufmerksamkeits-Störung nicht mithilfe von Therapeuten überwinden können?
Darüber haben jetzt mehr als 2000 Kongressteilnehmer aus über 70 Ländern im Berliner ICC diskutiert. Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, besser bekannt unter dem Kürzel ADHS, ist dabei keineswegs nur ein Problem, das Heranwachsenden das Leben schwer machen kann. „Das wächst sich nicht einfach aus, mindestens ein Drittel der Betroffenen hat die Symptome auch noch im Erwachsenenalter“, sagt ADHS-Spezialist Johannes Thome, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik in Rostock.
Allerdings verschiebt sich im Lauf der Zeit meist das Bild: Die körperliche Unruhe lässt typischerweise etwas nach, Konzentrationsstörungen und auch die Impulsivität führen aber zu Problemen im Beruf und im Privatleben. Und es fehlen die Eltern, die Kindern mit ADHS noch dabei helfen, ihr Leben zu strukturieren. Bei vielen kommen andere psychische Schwierigkeiten hinzu: Einige rutschen in eine Suchterkrankung hinein, nachdem sie ihre Unruhe mit Alkohol, Zigaretten oder Cannabis bekämpft haben. Andere sind psychisch labil, depressiv, bis hin zur Suizidgefährdung.
Schon länger diskutieren die Wissenschaftler darüber, ob emotionale Symptome Bestandteil der Erkrankung oder eine zusätzliche Last sind, die einzelne Betroffene zu tragen haben. Michael Rösler vom Neurocenter der Universität des Saarlandes stellte auf dem Kongress seine Studien vor, die zeigen: Das §klassische§ ADHS-Medikament Methylphenidat, besser bekannt als Ritalin, hilft bei Stimmungsschwankungen und psychischer Labilität, nicht aber gegen Ängste und Depressionen. Ein Hinweis darauf, dass nur die erstgenannten Symptome zum Krankheitsbild gehören.
Ulrich Hegerl von der Neuropsychiatrischen Forschungsgruppe der Uni Leipzig machte auf weitere deutliche Unterschiede zwischen ADHS und Depressionen aufmerksam: Bei Depressionen wirkt Schlafentzug oft heilsam, bei ADHS kann er verheerende Folgen haben. Die Studien der Leipziger Arbeitsgruppe, für die EEG und Bildgebung zum Einsatz kommen, zeigen dafür eine andere Verwandtschaft, die zwischen ADHS und den manischen Phasen innerhalb einer bipolaren Störung. Beiden Krankheitsbildern liege wahrscheinlich eine instabile Fähigkeit zur geistigen Wachsamkeit (Vigilanz) zugrunde, „wie wir sie von übermüdeten Kindern kennen“, vermutet Hegerl.
Bei vielen erwachsenen Patienten führt das dazu, dass sie beruflich weit unter ihren Möglichkeiten bleiben. Thome berichtete allerdings auch von Patienten, die er als „high-functioning“ bezeichnet. Zum Beispiel Manager oder Rechtsanwälte, die genau planen, wie sie lange Sitzungen durchstehen können. Denn man kann lernen, mit der ganz persönlichen Form von ADHS möglichst gut umzugehen. Dabei hilft ihnen nicht zuletzt Methylphenidat. Mitte April wurde bekannt gegeben, dass es in Deutschland demnächst auch für Erwachsene zugelassen werden soll. „Off-label“ haben es Psychiater ohnehin schon erwachsenen Patienten verschrieben.
Dass es die überhaupt gibt, ist erst Mitte der 90er Jahre ins Bewusstsein der Fachöffentlichkeit gedrungen. Das ist ziemlich genau der Zeitpunkt, zu dem auch die Verordnungen von Methylphenidat an Kinder und Jugendliche rasant in die Höhe zu gehen begannen: 0,7 Millionen Tagesdosen waren es im Jahr 1992, 46 Millionen im Jahr 2007. Kritiker warnen seit Jahren vor leichtfertigen Verordnungen.
Wichtig sei vor allem, dass der Verschreibung eine gewissenhafte Diagnostik vorausgehe, mahnt Michael Colla, Oberarzt an der Psychiatrie der Charité Campus Benjamin Franklin und Leiter des Centrums für ADHS im Erwachsenenalter. „Es reicht nicht, nur auf das aktuelle Erscheinungsbild zu schauen, das vielleicht durch besonderen Stress geprägt ist. Bei Erwachsenen mit ADHS zieht sich die Beeinträchtigung wie ein roter Faden durch ihr ganzes bisheriges Leben.“
Colla behandelt viele Patienten weiter, die zuvor bei einem Kinderarzt betreut wurden. Andere waren als Kind nicht in Behandlung, sind aber auf ihr Problem gestoßen, als sie beim eigenen Kind damit konfrontiert wurden. Erst da wurde ihnen klar, was es ist, das sie selbst schon so lang am ruhigen Lernen und besonnenen Reagieren gehindert hat.
Auch wenn Methylphenidat angezeigt ist, wirkt es nicht allein. „Das Medikament ist nur ein Baustein in der Therapie“, sagt Colla. Die anderen Bausteine sind kognitive Verhaltenstherapie und eine bewusste, gute Strukturierung des Alltags.
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