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Der Westen ist geeint, wie lange nicht mehr. Fraglich ist, ob das so bleibt.
© Olivier Matthys / dpa

Folgen des Krieges für die Demokratie: Zeitenwende in globaler Perspektive

Demokratie in Bedrängnis. Experten aus Deutschland, der Ukraine, China und Indien diskutieren, welche Auswirkungen Putins Angriffskrieg auf die liberale Ordnung hat.

Dass Putin mit dem Überfall auf die Ukraine auch das demokratische Prinzip attackiert hat und uns damit ein Epochenbruch bevorsteht, ist in der Debatte zum Gemeinplatz geworden. Welche Auswirkungen aber hat der russische Angriff tatsächlich auf das liberale Ordnungsmodell? Wie blickt man in verschiedenen Regionen der Welt auf Russlands Krieg und dessen mögliche Folgen? 

Diese Fragen diskutierten nun mehrere Expert:innen aus Deutschland, der Ukraine, China und Indien auf einem Podium des Berliner Exzellenclusters “Contestations of the Liberal Script (Scripts)”.

„Wenn es Russland darum ging, die liberale Kultur aus seiner Einflusssphäre zu verdrängen, hat Putin das genaue Gegenteil erreicht“, sagt der FU-Politologe Thomas Risse. Gleiches gelte für den Wunsch nach Respekt, den Russland, da es nun auch in der Ukraine die Taktiken von Grosny und Aleppo bemühe, sicher auf lange Zeit verspielt habe.

Länder wie Moldau und Georgien orientierten sich nun stärker in Richtung Europa, der „Westen“ sei geeint wie noch nie. In Frage aber stehe, ob der momentane Schulterschluss auch über den Krieg hinaus fortbestehen werde.

„Aktuell ist Russlands Angriff ein Weckruf, die liberale Ordnung zu verteidigen“, sagt Risse. Dabei aber müsse man im Blick behalten, dass das „liberale Script“ nicht nur von außen, sondern weiter auch von innen herausgefordert werde. Ein Orban bleibt eben illiberal, auch wenn er nun näher an Europa heranrückt. 

Das Alptraumszenario

Risses Alptraumszenario ist, dass Marine Le Pen oder der Rechtspopulist Éric Zemmour die nächste Präsidentschaftswahl in Frankreich gewinnt, und Donald Trump zurück ins Weiße Haus zieht. Die EU habe endlich zusammengefunden, es sei aber nicht sicher, ob das so bleibe, sagt auch die Politologin Tanja Börzel, Direktorin des Scripts-Clusters. 

Putin hat eine neue Weltordnung im Sinn. 
Putin hat eine neue Weltordnung im Sinn. 
© REUTERS

Lange hätten Demokrat:innen im Westen nur die inneren Herausforderungen der liberalen Demokratie anvisiert, nun seien auch die äußeren bewusster geworden. „Es gibt aber eine Verbindung zwischen beiden", so Börzel. Dass die Neue Rechte von Trump über Salvini bis Le Pen mit Putin ideologische Interessen teilt, ist kein Geheimnis.

Eindruck der Demütigung

Und wie sieht es mit der Unterstützung für Putin innerhalb der russischen Gesellschaft aus? „Die Erzählung, Russland sei das eigentliche Opfer, ist hier durchaus verbreitet“, sagt die Soziologin und Russland-Expertin Katharina Blum. Das Anti-Nato-Narrativ Putins werde von vielen geteilt. Dies gründe auf dem stark kultivierten Gefühl, dass man vom Westen gedemütigt wurde und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mehr verloren als gewonnen habe. „Das hat sich langsam entwickelt“, sagt Blum. Dabei gehe es nicht nur um die Nato, sondern auch um das Eindruck, dass die westliche Kultur den Russen gleichsam aufgenötigt wurde.

[Lesen Sie auch eine Analyse von Christoph David Piorkowski auf Tagesspiegel Plus über Putins historische Mythen]

Bis 2012 habe Russland noch geglaubt, innerhalb der liberalen Weltordnung eine starke und anerkannte Macht sein zu können. Nach der Rückkehr Putins ins Amt des Präsidenten habe man sich dann von diesem Denken entfernt und strebe nun eine Weltordnung an, in der verschiedene Systeme konkurrierten.

China ist gespalten

Und wie wird der Krieg in China rezipiert, das ebenso wie Russland in Einflusssphären denkt und dem liberal-demokratischen Modell ein autoritäres entgegenstellt? „Es gibt eine Diskrepanz zwischen der diskursiven und der pragmatischen Ebene“, erklärt der im Scripts-Cluster forschende chinesische Politikwissenschaftler Lunting Wu. Der Staat rezitiere zwar die russische Sichtweise, habe aber keinerlei Interesse daran, in den Konflikt hineingerissen und selbst Adressat von Sanktionen zu werden.

Auch fühle sich China von der neu aufkommenden transatlantischen Einheit gestört und habe in der Ukraine viel investiert. Man denke in strategischen Einflusssphären, poche in China aber ebenfalls stark auf territoriale Integrität. 

Der Vergleich der Ukraine mit Taiwan in China werde eher selten gezogen, sagte Wu. So habe China als eines der ersten Länder nach 1990 die ukrainische Unabhängigkeit anerkannt, Taiwan aber stets als sein Eigentum betrachtet. Auf der Insel indes sei man begeistert davon, wie klug die Ukraine sich verteidige, und versuche nun daraus zu lernen.

Werte und Ökonomie

Dass es zu einfach ist, die geopolitischen Konflikte der Gegenwart als die Auseinandersetzung zwischen autokratischen und demokratischen Systemen zu beschreiben, ist auch die Auffassung der indischen Politikprofessorin Ummu Salma Bava. „Es ist nicht bloß eine Frage der Werte, sondern auch eine der Ökonomie – was man auch daran sehen kann, dass viele Europäer den Energiesektor aus den Sanktionen ausklammern wollen.“

So unterhalte Indien mit Russland intensive Wirtschaftsbeziehungen, die das Land nicht gefährden wolle, habe aber sicherlich nicht das Bedürfnis, sich einem einheitlichen Block anzuschließen. „Jedes Land schaut auf seine eigenen Interessen.“

Und wie wird in der vom Krieg gezeichneten Ukraine über die vermeintlich neuen Blockfronten gedacht? Die im Scripts-Cluster tätige ukrainische Politikwissenschaftlerin Tatiana Zhurzhenko erklärt, der Wille zur EU und zur Nato zu gehören, sei so verbreitet wie nie. Gleichzeitig seien viele bitterlich enttäuscht, und meinten, nicht wirklich willkommen zu sein. 

Man frage sich auch, ob der Herrscher im Kreml für seine Verbrechen bestraft werde. „Sicher ist, dass es einen wirklichen Frieden nur durch einen Wechsel des Regimes geben wird.“

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