"Haus der kleinen Forscher" als Irrweg: Im freien Spiel die Welt begreifen
Im freien Spiel lernen Kinder am besten, schreibt der Autor Salman Ansari in einem Beitrag für den Tagesspiegel. Die Kita als „Haus der kleinen Forscher“ sei ein Irrweg.
Die Ergebnisse der ersten Pisa-Studie lösten vor mehr als zehn Jahren Debatten über den „Lernort Deutschland“ aus. Dabei gerieten auch die Kitas ins Blickfeld der Bildungsplaner. Als Reaktion auf die nur mittelmäßigen Leistungen der 15-Jährigen in Deutschland wurde postuliert, dass bereits in der früheren Kindheit eine Förderung in Naturwissenschaft, Technik und Mathematik notwendig sei, damit Jugendliche nicht nur besser vorbereitet und interessiert für den naturwissenschaftlichen Unterricht in die Schule kämen, sondern sich später auch für naturwissenschaftlich und technisch orientierte Berufe qualifizieren würden. Bis zum heutigen Tag gibt es jedoch keine wissenschaftliche Studie, die diese Schlussfolgerung legitimieren kann.
Die Frühförderungsprogramme verschiedener Einrichtungen, Projekte wie das „Haus der kleinen Forscher“ und die Bildungspläne der Länder haben inzwischen sogar eine Dichotomie zwischen dem Lernen und dem Spielen im Bewusstsein des Kitapersonals und der Eltern bewirkt. Das freie Spiel wurde zugunsten von kognitiven Lernprogrammen gemindert. Dazu trugen auch die voreiligen Statements einiger Hirnforscher bei. Dabei zeigen alle wissenschaftlichen Befunde, dass das kindliche Spiel und kognitive Entwicklung keine Gegensätze sind.
Die Behauptung, nur in den ersten Lebensjahren seien im Gehirn Fenster zur Aufnahme von Wissen offen, hat zu einer Frühförderungshysterie geführt. Inzwischen wissen wir, dass dies nicht zutrifft. Auch Kategorien wie „hirngerechtes Lernen“ oder „Neurodidaktik“ sind ungenau und irreführend.
Besondere Verwirrung hat der Begriff vom „Kind als Forscher“ verursacht. Die Wege der kindlichen Erforschung haben nichts mit den Forschungsstrategien der Erwachsenen gemeinsam. Die Rolle eines Experiments im Kontext von Forschung geht von einer Hypothese aus. Hierbei sind die Merkmale des Experiments gekennzeichnet von Planung, Methode und Kontrolle. Dies sind Kategorien, die mit dem kindlichen Denken nicht übereinstimmen.
Auch ein spezifisch naturwissenschaftliches Denken, dessen Vernetzungen im Gehirn nachweisbar wären, gibt es nicht. Es reicht nicht aus, Kinder und Jugendliche als kleine Forscher zu bezeichnen, sobald sie sich einen weißen Kittel anziehen, mit Geräten hantieren dürfen und dabei angeblich in die Lage versetzt werden, auf der Grundlage ihrer Beobachtungen wissenschaftliche Theorien und Konzepte zu bilden.
In den Kitas haben die Naturwissenschaften nur einen exemplarischen Charakter. Sie dienen der Förderung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes. Es ist daher die Aufgabe der Erzieher und anderer Bezugspersonen, zu erkennen, dass Kinder in allem, was sie tun, neue Erfahrungen machen wollen, um sich selber und ihre Welt besser zu begreifen und somit die Wirklichkeit zu bewältigen.
Dies ist für Kinder eine existenzielle Herausforderung. Das zu erkennen und zu unterstützen, ist die vornehmliche Aufgabe des Kitapersonals. Dabei kommt der Sprachförderung eine herausragende Rolle zu. Lernprozesse, die einen Dialog mit Kindern suchen, sind geeignet, in Erfahrung zu bringen, was Kinder bereits wissen. Da Lernen eine Modifizierung von bereits vorhandenen Konzepten ist, muss man zuerst in Erfahrung bringen, in welchen Denkmustern Kinder einen Sachverhalt wahrnehmen. Dies setzt einen Dialog, eine persönliche Begegnung voraus. Im Dialog erfahren wir, was die anderen über einen Sachverhalt denken und über welche Erfahrungen sie verfügen. Im Dialog hören wir anderen zu und lernen unterschiedliche Sprachformen der Beschreibung von ein und derselben Begegnung mit Phänomenen. Gerade die Sprachförderung sollte deshalb das Hauptanliegen aller Frühförderungskonzepte sein. Denn Menschen mit einer hohen Sprachkompetenz können unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit begreifen und somit lernen, sich in dieser Welt zu bewähren.
Kinder können selber nicht darüber entscheiden, welche Lernumgebung für ihre geistige und seelische Entwicklung förderlich ist und welche nicht. Dies liegt in der Verantwortung der Eltern, der Bezugspersonen und aller Bildungseinrichtungen.
Meine Konzepte sind aus Beobachtungen der Kinder beim Spielen entstanden. Die eminente Bedeutung des Spiels beim Erwerb intellektueller Fähigkeiten wird häufig unterschätzt. Der Drang zu spielen ist ein elementares Bedürfnis. Selbst in Regionen, deren Alltag von kriegerischen Handlungen geprägt ist, gehen Kinder alle Risiken ein, um miteinander zu spielen. Wer nicht gelernt hat, mit Kindern zu spielen und sie beim Spielen zu beobachten, wird sehr wenig darüber erfahren können, wie Kinder sich die Welt aneignen. Prinzipiell wäre es erforderlich, dass Erzieherinnen zusammen mit den Kindern spielend den pädagogischen Stellenwert des Spiels entdecken.
Im Spiel lernen die Kinder, sozial und gerecht miteinander umzugehen, gemeinschaftlich Konflikte zu lösen, sich in unerwarteten Situationen zu bewähren. Das freie Spiel trägt zum Erwerb von intellektuellen Strategien bei, die Kindern dabei helfen, kognitive Herausforderungen zu bewältigen. Ich beobachte oft, wie Kinder raffinierte elektronische Spielzeuge sofort fallen lassen, wenn sie die Gelegenheit bekommen, mit anderen Kindern zu spielen. Gerade Kinder aus sozial schwachen Schichten brauchen das Spiel, um sich Kompetenzen anzueignen, die sie für den Erwerb von intellektuellen Herausforderungen benötigen.
Doch was ist bestechend am Spielcharakter der Kinder? Im Spiel nehmen sie das Misslingen hin, als wüssten sie schon im Voraus, dass das Beherrschen einer Fertigkeit Arbeit voraussetzt. Im Spiel lernen Kinder ihre Emotionen zu kontrollieren und Frustrationen hinzunehmen. Mit jedem Scheitern lernen sie intuitiv, wie sie es besser machen könnten und somit auch jene Regeln, die ein Gelingen ermöglichen. Im Spiel lernen Kinder alle Instrumentarien zum erfolgreichen Lernen – Ideenreichtum, Selbstständigkeit, soziale Kompetenzen, Gerechtigkeit und Anteilnahme. Beobachtet man Kinder beim Spiel, dann wird deutlich, dass sie diese Qualitäten dabei entfalten können.
Dies möchte ich am Beispiel eines Schulkindes erläutern. In jeder Pause rennt Katharina hinaus auf den Spielplatz der Schule. Dort beobachtet sie gespannt, wie ein Junge mit sieben Bällen meisterhaft jongliert. Nachdem sie ihn einige Zeit beobachtet hat, erscheint sie mit drei Tennisbällen und fängt einfach an. Sie nimmt das Misslingen ohne ein Anzeichen von Frustration oder Verzagtheit hin, als wüsste sie schon im Voraus, dass das Beherrschen einer Fertigkeit Arbeit voraussetzt. Sie ist dabei, sich neue Kompetenzen anzueignen, und Kompetenz bedeutet stets, etwas zu beherrschen, setzt also ein Können voraus. Katharina muss Bewegungsabläufe koordinieren, rhythmisieren, Körperbeherrschung lernen.
Mit jedem weiteren Tag schärft sie deutlich erkennbar ihre Sinneswahrnehmung und steigert sich in ihrer Konzentrationsfähigkeit. Aufzugeben steht für sie außer Frage. Denn jeder Fortschritt ermutigt sie dabeizubleiben. Katharina muss zugleich auch ihre Emotionen kontrollieren lernen, geduldig Fehlschläge und Frustrationen hinnehmen. Mit jedem Scheitern lernt sie intuitiv, wie sie es besser machen soll und somit auch jene Regeln, die ein Gelingen ermöglichen. Ich habe Katarina gefragt, ob sie nicht lieber spielen wolle. Sie verstand mich nicht und meinte, dass Jonglieren sei ihr Lieblingsspiel.
Dieses kurze Gespräch mit Katarina zeigt für mich, wie wichtig es ist, zu erfahren, wie Kinder denken. Ich habe Katharina damals nicht unterrichtet, sprach jedoch über sie mit ihrer Klassenlehrerin. Im Unterricht sei Katharinas Verhalten leider nicht von jenen Tugenden gekennzeichnet, die ich bei ihr beim Jonglieren entdeckt hätte, meinte die Lehrerin. Katharina sei auffällig unruhig und würde auch andere mit ihrer Unruhe anstecken.
Was ist da passiert? Katharina beherrschte doch alle Instrumentarien zum erfolgreichen Lernen. Die Schule muss sich fragen lassen, warum sie sich im Klassenraum nicht entfalten konnten.
Der Autor, geboren 1941 in Indien, ist promovierter Chemiker und seit Jahrzehnten pädagogisch aktiv. Zuletzt erschien sein Buch „Rettet die Neugier. Gegen die Akademisierung der Kindheit“.
Salman Ansari
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