Wie Spermien ans Ziel kommen: Wo geht’s hier bitte zur Eizelle?
So ein Spermium hat’s schwer: Der Weg zur Eizelle ist voller Hürden. Ein Wunder, dass es hin und wieder doch eines schafft. Über die ersten Schritte, die Mann und Frau künftig zu Vater und Mutter machen.
Es ist ein unfreundlicher Empfang, wie man ihn Liebenden nicht zutrauen mag. Ein Milieu so sauer wie Zitronensaft begrüßt die 100 bis 600 Millionen Spermien, sobald sie im weiblichen Genitaltrakt abgesetzt werden, und lässt viele in einer Säurestarre verharren. Die übrigen müssen sich Angriffen des weiblichen Immunsystems erwehren, das sich auf die Fremdlinge stürzt. Abwehrzellen eilen zum Ejakulat und begehen Selbstmord, um Erbgutfäden und Abwehrmoleküle freizusetzen, mit denen die Spermien wie in einem Spinnennetz festgesetzt und abgetötet werden.
Spermien haben Überlebensstrategien
Angesichts des Frontalangriffs des weiblichen Körpers würde wohl kaum ein Spermium das Ziel erreichen – wenn sie nicht ihre eigenen Überlebensstrategien in petto hätten. Enzyme im Ejakulat zerschneiden das Spinnennetz aus DNS-Fäden, sodass sie sich einer Kaulquappe gleich durch Bewegen ihres Schwanzes wieder auf den Weg zur Eizelle machen können. Gegen die Abwehrgifte des Immunsystems rüsten sie sich mit süßen Gegengiften auf ihrer Zelloberfläche – langkettigen Zuckermolekülen.
Was aber soll der Kampf zwischen Mann und Frau, künftiger Mutter und baldigem Vater, auf molekularer Ebene überhaupt, wo makroskopisch doch alles so liebevoll und zärtlich beginnt? Viel wissen Forscher darüber nicht, zumal sich der Vorgang im Labor schwerlich nachstellen lässt. Doch schrittweise finden sie immer mehr darüber heraus.
Bakterien im Gefolge
Des Rätsels Lösung ist vermutlich, dass die Spermien selten alleine kommen, sondern Hundertschaften von Bakterien im Gefolge haben. „Wir gehen davon aus, dass das weibliche Immunsystem deshalb so aggressiv reagiert, um diese Mikroben loszuwerden, weil sie Entzündungen verursachen können, die die Empfängnis erschweren“, erklärt Sebastian Galuska, Biochemiker an der Universität Gießen.
Die Spermien kümmert das nicht. Sie müssen flott weiter. Die Zeit drängt. Irgendwo im linken oder rechten Eileiter wartet die Eizelle und rutscht ganz gemächlich, Mikrometer um Mikrometer, der Spermienschar entgegen. Vor den männlichen Keimzellen aber liegt ein Marathon: Nur ein paar tausendstel Millimeter sind sie lang, etwa 60 Mikrometer, und müssen dennoch in den kommenden Stunden und Tagen zwanzig Zentimeter schwimmend zurücklegen. Für einen Menschen entspräche das einer Strecke von 5,8 Kilometern.
Bessere Mikroskope zeigen mehr Details
Doch einige Spermien kommen nicht weit. Sie haben einen Knick oder einen zum Kringel verklebten Schwanz. „Die werden es nie schaffen“, sagt Toxikologe und Pathologe Klaus Weber vom „Anapath“-Labor in Oberbuchsiten. „Die mit Ringschwanz schwimmen immerzu im Kreis herum. Kreisläufer heißen sie deshalb auch.“ Weber hat im Dezember eine neue Technik zur Beobachtung von Spermien vorgestellt: Unter einem Laserscanmikroskop kann er die Keimzellen mehr als 17 000 Mal vergrößern. Bisher schauen sich Reproduktionsmediziner diese bei maximal 1000-facher Vergrößerung an. Weber entdeckte ganz neue Anomalien: Zwei am Kopf verklebte Spermien etwa, die aufgrund der geringen Auflösung bislang als doppelschwänziges Spermium fehlinterpretiert wurden. „Die kommen nicht in die Eizelle hinein“, sagt Weber. Er hofft, dass seine Technik die bisherige, oft fehlerhafte Spermienanalyse verbessert. Weber selbst wurde, wie viele andere Männer auch, als unfruchtbar abgestempelt, wurde jedoch später zweifacher Vater.
Im Team schwimmen Samen doppelt so schnell
Bisher verglich man den Weg der Spermien gerne mit einer Rallye. „Man glaubte, die treten alle gegeneinander an und das schnellste gewinnt“, sagt Gunther Wennemuth, Leiter des Instituts für Anatomie am Universitätsklinikum Essen. „Doch das Bild stimmt so nicht.“ Spermien beherrschen verschiedene Schwimmtechniken und können sich zu Bündeln von zwei, drei und vier Spermien zusammentun. Im Team schwimmen sie dann doppelt so schnell wie jeder Einzelkämpfer, fand Wennemuth heraus. Kooperation statt Konkurrenz ist also gerade am Anfang des Rennens von Vorteil, obwohl es am Ende gewöhnlich nur ein Spermium in die Eizelle schafft. Außerdem schwimmen Spermien nicht einfach bloß geradeaus, sondern drehen sich dabei schraubenförmig um ihre Längsachse. Spermien ohne diese Bewegung irren nur im Kreis herum.
Haben sie dann endlich das Etappenziel Gebärmutter erreicht, gibt es erstmals weibliche Hilfe. Der Beckenboden zieht sich beim Orgasmus rhythmisch zusammen und pumpt dadurch das Sperma durch das birnenförmige Organ nach oben – vorausgesetzt, das Timing stimmt und die Spermien sind rechtzeitig da, sonst müssen sie den Weg aus eigener Kraft zurücklegen.
Die alles entscheidende Frage: nach rechts oder links?
Dann kommt die erste Verzweigung: In den linken oder den rechten Eileiter schwimmen? Wo steckt die Eizelle? Bis heute weiß kein Forscher, woher die Spermien, noch weit entfernt vom Ziel, an dieser Gabelung wissen, wo es langgeht. Vielleicht bleibt auch alles dem Zufall überlassen und die eine Hälfte schwimmt nach rechts und die andere nach links?
Im Eileiter müssen sie jedenfalls die längste Strecke zurücklegen – über unwegsames Gelände. „Das ist eine Art labyrinthartiger Grand Canyon mit vielen Einsenkungen“, sagt Wennemuth. Hier sind besondere Schwimmkünste gefragt. Würden sich die Spermien stur geradeaus bewegen, würden sie unweigerlich gegen eine Wand des Eileiters schwimmen. Wennemuth aber hat beobachtet, dass sich die Spermien an die Eileiterwand heften und dann ihre Richtung um eine halbe Drehung ändern, bevor sie sich mit einem Schwanzschlag wieder losreißen. So arbeiten sie sich per „Stop and Go“ den zwei Millimeter breiten Kanal hinauf.
Ein Erfrischungsgetränk für die müden Schwimmer
Damit die Spermien in dem Labyrinth nicht verloren gehen, hilft ihnen wieder der weibliche Körper. Zum einen werden die Schwimmer mit Calcium aus der Flüssigkeit im weiblichen Genitaltrakt aufgepäppelt. Das wirkt auf die Spermien wie ein Erfrischungsgetränk, sodass sie prompt flotter schwimmen.
Zum anderen verursachen feine Härchen an der Wand des Eileiters, sogenannte Zilien, einen Flüssigkeitsstrom entgegen der Bewegungsrichtung der Spermien. Das klingt zunächst widersinnig: Die Strapazierten müssen also auch noch stromaufwärts schwimmen. Doch das nehmen die Spermien in Kauf, denn die Strömung dient ihnen als Wegweiser. Erst kurz vor der Ziellinie, wenige Millimeter von der Eizelle entfernt, kommt vermutlich ein zweites Navigationssystem zum Zug. Die Eizelle samt schützender Eihülle sendet Botenstoffe aus, die den wenigen verbliebenen Spermien signalisieren, wo es langgeht. Chemotaxis, Lenken durch Lockstoffe, nennt sich dieses Lotsenprinzip.
Spermien, die Maiglöckchenduft riechen - ein Mythos
Oft ist in diesem Zusammenhang vom Maiglöckchenduft die Rede. Doch es ist wohl ein Mythos, dass die Eizelle die Spermien mit Blumenduft anlockt. Vielmehr hat man in Laborexperimenten verschiedene Duftstoffe von Chemiekonzernen zu Spermien gegeben und beobachtet, dass sie auf Maiglöckchenduft ansprechen. Allerdings erst bei hohen Dosen, sodass der Effekt auf die Befruchtung bezweifelt werden kann.
Sicher ist, dass die Eihülle das weibliche Sexualhormon Progesteron in großen Mengen bildet – ein wahres Dopingmittel für die Spermien auf den letzten Mikrometern. Es öffnet die Ionenkanäle in ihrem Schwanz weit und lässt viel Calcium hinein. Die Spermien schlagen darauf hin wie wild mit dem Schwanz und mobilisieren ihre letzten Kräfte.
Ein Cocktail aus Enzymen
So kurz vor dem Ziel sind nur noch rund zehn von den einst 100 bis 600 Millionen Spermien übrig. Die Eizelle ist umgeben von einer Eihülle, die wiederum eine ordentliche Schicht Zuckermoleküle umkleidet, an die die Spermien nun andocken können. Daraufhin „spucken“ sie einen Cocktail aus Enzymen aus einer Tasche des Spermienkopfes, die die Hülle um die Eizelle schmelzen lassen. In diesem Augenblick, in dem das erste Spermium eindringt, wirft es seinen Schwanz ab und die Eizelle versiegelt im selben Moment ihre Andockhülle. Die übrigen Spermien rutschen ab. „Clever gemacht“, sagt Weber: Das eine Spermium, das es geschafft hat, sei dann der „King of Sperm“.
Susanne Donner