zum Hauptinhalt
Die ZBW, Bibliothek des Jahres 2014
© ZBW / Stefan Vorbeck

Interview zur Bibliothek der Zukunft: „Wir werden zum Leser kommen“

In der Bibliothek der Zukunft müssen Forscher kaum mehr recherchieren: Denn die Bibliothekssysteme wissen bereits, was sie lesen wollen. Das wirft Datenschutzfragen auf. Ein Interview mit Klaus Tochtermann, dem Direktor der Bibliothek des Jahres.

Herr Tochtermann, wie wird ein Wissenschaftler 2025 für seinen aktuellen Aufsatz zur neuen Weltbankenkrise recherchieren?

Er wird immer weniger recherchieren, die Inhalte werden online zu ihm kommen – als Service der Bibliothek. Man beginnt, seinen Text zu schreiben, das Bibliothekssystem analysiert ihn und liefert relevante Literatur zu. Auch wenn sich Wissenschaftler oder Forscherinnen in sozialen Medien oder Wikipedia aufhalten, bestimmten Facebookseiten oder Twitter-Accounts folgen, wird dazu wissenschaftliche Hintergrundliteratur proaktiv angeboten.

Wird so die Bibliothek neu erfunden?

Das Paradigma der Bibliothek wird sich grundlegend ändern. Bisher haben wir alles getan, damit die Nutzer gerne zu uns kommen in die schönen Lesesäle. Online müssen sie noch immer aktiv auf unser Suchsystem zugreifen. In Zukunft aber werden wir viel mehr mit dem „information push“ arbeiten, Informationen also dorthin bringen, wo die Nutzer sich online aufhalten. Also etwa in einem Blog, in dem sie gerade einen Text verfassen.

Dabei überwachen sie Wissenschaftler und steuern den Informationsfluss?

Selbstverständlich beliefern wir nur Personen, die sich für diesen Service registriert und ihren Blog beziehungsweise ihre Dokumente freigeschaltet haben.

Ihr Haus, die Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften mit Standorten in Kiel und Hamburg, ist kürzlich als „radikal innovative Bibliothek“ zur Bibliothek des Jahres gekürt worden. Wie nah sind Sie der Fiktion von 2025 schon gekommen?

Wir haben in den vergangenen Monaten eine Information-push-Technologie für die Nutzung innerhalb der Wikipedia entwickelt und im Juli als Google Chrome App veröffentlicht. Wer sich bei dem kostenlosen Service anmeldet und einen beliebigen Wikipedia-Artikel liest, wird automatisch mit wissenschaftlichen Hintergründen aus unserer Bibliothek, aus dem Literaturverwaltungsprogramm Mendeley und der virtuellen europäischen Bibliothek Europeana beliefert. Wir werden das laufend evaluieren, vor allen Dingen, um ein Zuviel an Informationen künftig auszuschließen.

Klaus Tochtermann (49) ist seit 2010 Direktor der ZBW-Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften in Kiel und Hamburg.
Klaus Tochtermann (49) ist seit 2010 Direktor der ZBW-Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften in Kiel und Hamburg. Er lehrt Medieninformatik an der Uni Kiel.
©  Promo/Pepe Lange

Haben Sie weltweit Vorbilder, die ähnliche Wege gegangen sind?

Kaum. Wir sind eine der ganz wenigen Bibliotheken mit hoher wissenschaftlicher Informatik-Kompetenz, außer meiner Professur haben wir zwei weitere Professuren mit wissenschaftlichem Personal eingerichtet, eine in der Informatik, die andere in den Informationswissenschaften.

Im vergangenen Jahr hat die ZBW einen Forschungsverbund zu „Science 2.0“ in der Leibniz-Gemeinschaft initiiert, der sie angehört. Gibt es schon Erkenntnisse darüber, wie die digitale Revolution wissenschaftliche Publikationen verändert?

Wir haben erst einmal untersucht, welche Nutzertypen es im Bereich Wissenschaft und soziale Medien eigentlich gibt. Das eine Extrem ist der Nerd, der alles Verfügbare einsetzt und auch offen gegenüber neuen, noch nicht stabilen Netzwerken ist. Das Gegenteil sind die Konservativen, die mit sozialen Netzwerken gar nichts anfangen können und über diese Medien folglich auch nicht mit ihren Studierenden kommunizieren, was heute eigentlich unerlässlich ist.

Sind die Wissenschaftler nicht zu Recht skeptisch, sich den Datenkraken rückhaltlos in die Arme zu werfen?

Wir achten sehr darauf, das strenge europäische und deutsche Datenrecht zu respektieren. Wir zeigen etwa Alternativen zur Dropbox zum Austausch von Dateien oder zum Doodlen, um Termine abzustimmen. Und wenn wir beispielsweise einen Facebooknutzer mit Informationen beliefern, schicken wir nicht die Literatur als PDF an Facebook, sondern nur einen Link, über den man zum PDF gelangen kann.

Welche Relevanz haben Blogs und Wikis als Quellen überhaupt in der Forschung?

Tatsächlich fehlt bislang eine Qualitätssicherung, wie wir sie aus Begutachtungsverfahren von wissenschaftlichen Zeitschriften und Tagungen kennen. Man weiß schlicht nicht, ob das, was drinsteht, richtig ist. Nichtsdestotrotz engagieren sich viele Forscher in sozialen Medien. Wir sind mit anderen Expertengruppen dabei, alternative Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln: Wie oft wurde eine Twitter-Nachricht weiterverbreitet, also getweetet, wie oft wurde sie zitiert, wie groß ist die Community, die dem Forscher folgt, und wie ist der Blog einer Wissenschaftlerin in die Blogosphäre eingebunden, also mit anderen Weblogs vernetzt?

Aber irgendwann sind die Beiträge nicht mehr im Netz aufzufinden, weil sie nicht archiviert werden. Die Langzeitarchivierung digitaler Daten ist insgesamt ein großes Problem. Haben Sie Lösungen?

Wir haben gemeinsam mit den anderen beiden zentralen Fachbibliotheken in Hannover sowie Köln und Bonn eine Infrastruktur für die digitale Langzeitarchivierung aufgebaut. Jetzt sind wir dabei, unsere digitalen Dokumente dort einzuspielen. Sie werden regelmäßig so aktualisiert, dass sie mit der jeweils neuen Lesesoftware gelesen werden können. Für die Langzeitarchivierung von Blogs sind zunächst Konzepte erforderlich, die regeln, ob ein Blog als Ganzes oder nur einzelne Beiträge archiviert werden sollen. Und bevor wir starten, müssen wir die Qualitätskriterien allein aus Kostengründen festgelegt haben.

Neue Wege geht die ZBW auch beim Open Access. Was ist das Besondere an dem Portal und dem Server, auf denen Sie kostenfrei internationale wirtschaftswissenschaftliche Publikationen anbieten?

Der Umfang: Unser Portal „EconStor“ gehört zu den zehn weltweit meistgenutzten Archiven in den Wirtschaftswissenschaften, 1600 sind da im Wettbewerb miteinander. Das macht es für Forschende attraktiv, bei uns Inhalte einzustellen. Ungefähr 90 Prozent der wirtschaftswissenschaftlichen Institute in Deutschland legen ihre Arbeitspapiere bei uns ab. Damit kommen sie auch in die digitale Langzeitarchivierung. Und ins weltweite Nachweissystem für wirtschaftswissenschaftliche Literatur, das in den USA betrieben wird. So tragen wir zur internationalen Sichtbarkeit der deutschen Wissenschaft bei.

Wenn die Bibliothek zunehmend über digitale Dienste zum Nutzer kommt, welchen Stellenwert hat künftig noch das von vielen so geliebte Arbeiten im Lesesaal?

Unser Auftrag lautet, der Forschungsgemeinschaft in ganz Deutschland zu dienen. Die Betreuung der Forschenden vor Ort ist primär Aufgabe der lokalen Universitätsbibliotheken. Einen großen, teuren Lesesaal als Lernort für Studierende oder Promovierende bereitzustellen, das werden wissenschaftliche Bibliotheken unserer Art auf Dauer nicht mehr leisten können. Ein anderer Fall ist etwa die Berliner Staatsbibliothek, sie hat viele historisch wertvolle Kulturgüter, die man nur in der Bibliothek nutzen kann. Die wunderschönen Lesesäle der Stabi haben also weiter ihre Berechtigung.

Aber Sie als Informatiker wären froh, wenn Sie die Nutzer nur noch digital bedienen?

Im Moment ist es durchaus noch hilfreich, die Nutzer vor Ort zu haben. Mit ihnen können wir experimentieren, wie bestimmte überregionale Services ankommen. Auch wenn wir Menschen für Usability-Studien gewinnen wollen, ist die persönliche Ansprache leichter. Eine Bibliothek ohne Menschen ist genauso undenkbar wie eine Bibliothek ohne Inhalte.

- Das Gespräch führte Amory Burchard.

Amory Burchard

Zur Startseite