Virologe Hendrik Streeck im Interview: „Wir werden in naher Zukunft das Virus nicht vernichten können“
Hendrik Streeck warnt vor übertriebenen Erwartungen an die Impfstoffentwicklung und fordert einen pragmatischen Weg, um länger mit dem Coronavirus zu leben.
Herr Streeck, wir waren für ein Interview eigentlich mal Anfang März verabredet, vor der Coronakrise. Es sollte um die HIV-Forschung gehen, in der Sie ein weltweit anerkannter Experte sind. Dann kam SARS-CoV-2. Inzwischen werden Sie landauf landab zu Corona befragt und nicht selten für Ihre Positionen heftig kritisiert. Wie fühlen Sie sich in dieser komplett neuen Rolle?
Als Facharzt für Virologie und Infektionsepidemiologie ist es meine Aufgabe, einen Beitrag zur Bekämpfung einer Pandemie zu leisten. Als ich vom Gesundheitsamt in Heinsberg gebeten wurde, dort mit der Diagnostik zu helfen, habe ich das auch als Chance gesehen. Als klinischer Virologe versuche ich zu verstehen, wie Menschen auf ein Virus reagieren, welche Symptome es gibt und wie ihr Immunsystem darauf anspringt. Jeder Virologe, jede Virologin forscht anders und hat einen anderen Ansatz. Keiner der Ansätze ist richtig oder falsch, stattdessen ergänzen wir uns.
Dass ich mich als HIV-Forscher mit SARS-CoV-2 beschäftige, ist übrigens keine Ausnahme. Zusammen mit Kollegen organisiere ich als Kongresspräsident den im Juli 2021 in Berlin stattfindenden Jahreskongress der International Aids Society. Daher weiß ich, dass die führenden HIV-Experten weltweit gerade in die Covid-19-Forschung gegangen sind. Das ist naheliegend, weil es so viele Parallelen zwischen der gerade beginnenden Corona-Pandemie und der seit 40 Jahre laufenden HIV-Pandemie gibt.
HIV ist in der Wirkung nicht vergleichbar. Wir haben bislang 35 Millionen Tote durch das Virus und aktuell etwa genauso viele Infizierte. Wünschen Sie gelegentlich, dass dem HI-Virus, das vor allem in ärmeren Ländern immer noch unzählige Menschen tötet, die gleiche Aufmerksamkeit zukommt wie derzeit Corona?
An einer unbehandelten HIV-Infektion versterben fast alle, die sich infiziert haben. Jemand mit einer gut eingestellten HIV-Therapie dagegen kann zum einen das Virus nicht mehr weitergeben, zum anderen hat er eine nahezu gleich lange Lebenserwartung wie ein nicht infizierter Mensch. Durch die Covid-19-Pandemie sind Lieferketten für lebensnotwendige Medikamente vor allem in arme Länder abgebrochen.
Was gerade passiert, ist erschreckend. Die WHO geht von 500.000 zusätzlichen Aidstoten dieses Jahr aus, als direkte Folge von Covid-19. Die Erfahrung mit der neuen Pandemie kann uns daher vielleicht helfen, die fortwährende HIV-Pandemie besser in Griff zu bekommen.
Viele Covid-19-Erkrankte erfahren Anfeindungen und Diskriminierung. Stigma und Diskriminierung sind eines der großen Probleme im HIV-Feld und auch ein Grund, warum sich Menschen nicht testen lassen. In jedem Fall ist das Virus der Feind. Nicht der Mensch. Das wird durch Covid-19 jetzt auch der breiteren Masse deutlich.
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Sie sind international eng eingebunden in die HIV-Impfstoffforschung, nach fast 40 Jahren hat man hier noch keinen Durchbruch erzielt. Was sagt uns das für die Suche nach einem Impfstoff gegen SARS-CoV-2?
Wir haben bis heute auch keinen Impfstoff gegen irgendeinen der großen infektiologischen Killer. Damit meine ich neben HIV, Dengue, Malaria, Tuberkulose und auch Hepatitis C. Für HIV wurden über 400 verschiedene Impfstoffkonzepte entwickelt, sehr wenige gingen in die klinische Testung, und keiner hat bislang funktioniert.
Auch gegen die anderen sechs Corona-Viren wurde bislang erfolglos nach Impfstoffen geforscht. Generell scheint es schwieriger zu sein, einen Impfstoff gegen ein RNA-Virus, zu denen ja SARS-CoV-2 gehört, zu finden. Hier gibt es bisher nur den Grippe-Impfstoff, und auch der muss jedes Jahr erneuert werden. Je nach Jahr und Influenzastamm liegt die Effektivität manchmal nur bei 40 Prozent.
Das heißt, bei so vielen Geimpften entfaltet er eine schützende Wirkung.
Genau. Und die Effektivität eines Impfstoffes ist eine wichtige Kenngröße, die wir gerade intensiv im HIV-Bereich diskutieren. Es geht um die Frage, wie hoch die Effektivität sein muss, ab der ein Impfstoff zugelassen werden sollte. Bei einer Impfung, die nur jeden Dritten schützt, haben wir zwei Drittel der Geimpften, die sich im Glauben wähnen, geschützt zu sein, es aber in Wirklichkeit nicht sind. Im HIV-Bereich wäre so ein Impfstoff in seiner Wirkung schlimmer als kein Impfstoff, weil er wahrscheinlich helfen würde, das Virus noch weiter zu verbreiten.
Das Gleiche könnte natürlich für einen Corona-Impfstoff mit zu geringer Effektivität gelten. Da muss man sehr gut überlegen, ob man das will. Ich bin ein Impfstoff-Fan. Aber ich habe eben auch gelernt, dass man nicht davon ausgehen sollte, dass es auf jeden Fall ein wirksames und in seinen Nebenwirkungen akzeptables Vakzin geben wird.
Sie sind eher skeptisch?
Beim Ebola-Ausbruch hat anscheinend der erste Versuch funktioniert. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn es bei SARS-CoV2 genauso wäre. Wir wissen es aber nicht. Wir sollten uns daher darauf einstellen, dass wir mit dem Virus leben müssen, dass SARS-CoV-2 Teil unseres Alltags wird. Wir dürfen es deshalb nicht als permanente Todesbedrohung betrachten, aber auch nicht unterschätzen.
Wir werden in naher Zukunft das Virus nicht vernichten können und auch weiter Infektionen haben – wir leben nun mal nicht auf einer Insel. Mit dieser Gewissheit müssen wir überlegen, wie wir die nächsten Jahre mit der Pandemie umgehen. Und vor diesem Hintergrund brauchen wir mehr Pragmatismus.
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Aber was heißt das konkret? Jeder Alltag führt doch unvermeidlich dazu, dass wir in die gleiche Situation laufen, vor der wir schon mal im März standen.
Aber das kann ja nicht heißen, dass wir so tun, als gäbe es irgendwann das Allheilmittel, denn das wird nicht kommen. Unsere Alternative ist, das Virus zu beobachten und achtsam zu sein, dass wir die Zahl der Infektionen möglichst gering halten. Ohne dass wir aufhören, unser Leben zu leben.
Wie geht das aus der Sicht eines Virologen?
Wenn Infektionen passieren, müssen wir solche mit wenigen oder auch gar keinen Symptomen begünstigen und dafür sorgen, dass die Ansteckungen nicht aus dem Ruder laufen. Dafür gibt uns das Verhalten des Virus die Möglichkeit. Es bricht vor allem in Clustern aus, also bei großen Menschenansammlungen. Wir haben inzwischen Instrumente an der Hand, solche Großausbrüche schnell zu erkennen und schnell einzugrenzen. Das Zweite, was wir langsam erahnen und was uns die Erfahrung mit anderen Grippe- und Coronaviren auch lehrt, ist, dass die Schwere einer Covid-19-Erkrankung maßgeblich auch von der Virenmenge abhängt, mit der man sich ansteckt.
Abstandsregeln, Hygienemaßnahmen und der Verzicht auf Großveranstaltungen in geschlossenen Räumen sind genau die richtigen Maßnahmen, und überall, wo sie eingeführt wurden, nahm die Zahl der leichten und asymptomatischen Verläufe zu. Anscheinend entsteht daraus auch eine Teilimmunität, die bei einer neuen Infektion zu einem noch leichteren Verlauf führen könnte. Wenn wir davon ausgehen, dass sich 15 Prozent der Bevölkerung in diesem Sommer infizieren, wäre das ein Schritt hin zu einer Normalität, die auch ohne Impfstoff funktioniert.
15 Prozent, das wären in Deutschland zwölf Millionen Menschen. Bei einer Letalität zwischen einem halben und einem ganzen Prozent bedeutete das 60.000 bis 120.000 Tote.
Die Rechnung ist sehr vereinfacht. Bei Tönnies sehen wir bei jetzt mehr als 1500 Infizierten eine sehr hohe Zahl von asymptomatischen Fällen. Wir wissen natürlich noch nicht, ob sich das ändern wird. Aber auch beim Ausbruch im DPD-Verteiler Hückelhoven gab es fast nur asymptomatische Fälle, und dies ist eine Weile her.
Die schweren Fälle hatten wir immer bei Superspreading-Ereignissen und dort, wo Menschen wahrscheinlich mit vielen Viren in Kontakt gekommen sind. Wir können davon ausgehen, dass die Zahl der leichten Verläufe nach oben gehen wird. Es ist immer fatal, über Todesfälle zu sprechen, und wir müssen leider davon ausgehen, dass am Coronavirus Menschen weiterhin sterben werden. Es kann aber nicht unser Ziel sein, jede Infektion zu verhindern. Dann haben wir alles andere nicht mehr.
Wir sehen aber doch gerade in Schweden, wie es aus dem Ruder laufen kann.
Dort kam das Virus sehr schnell in die Pflegeheime. Das ist fatal, da hier die vulnerable Population lebt. In Schweden gab es ja durchaus Maßnahmen zur Vermeidung von Superspreading-Ereignissen.
Würden Sie immer noch sagen, der schwedische Weg ist nicht gescheitert?
Der schwedische Weg läuft ja weiterhin. Man wird erst am Ende des Jahres urteilen können, welcher Weg der richtige war. Niemand wird den einzig richtigen gegangen sein, und ich bin froh darüber, wie der deutsche Gesundheitsminister mit dieser Krise umgegangen ist.
Sie fühlen sich von Medien so manches Mal missverstanden, und dabei geht es oft um solche Äußerungen. Haben Sie das Gefühl, dass sich die Weltsichten eines HIV-Forschers mit den Systematiken der Medien-Zuspitzung vor dem Hintergrund einer für alle Menschen neuen und sehr beängstigenden Pandemie schlecht vertragen?
Was ich sage, sage ich nicht leichtfertig. Wenn ich von einer Immunität in der Bevölkerung spreche, stütze ich mich auch auf Empfehlungen der europäischen Seuchenschutzbehörde, das denk ich mir nicht aus. Bei meinen Äußerungen zu Hygieneproblemen bei Atemschutzmasken weiß ich zum Beispiel die WHO hinter mir oder auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.
Ich versuche, mich differenziert zu äußern. Es soll daher nicht sein, dass ein Shitstorm dazu führt, mich zu verkriechen. Aber wer von einem Virologen absolute Wahrheiten verlangt, hat eine falsche Vorstellung von Wissenschaft. Die lebt von Dialektik. Am Ende eint uns alle, dass wir einen Weg heraus finden wollen aus dieser Pandemie.