Gentests und Gesundheit: Mein Erbgut und ich
Die eigenen Erbanlagen zu kennen, könnte Leben retten, sagen manche Forscher. Firmen, die das Genom testen, schaden womöglich mehr, als sie nützen, sagen andere. Das von Google unterstützte US-Unternehmen 23andme hat seine medizinischen Tests nun vorerst einstellen müssen. Unser Autor hat noch rechtzeitig seine Ergebnisse bekommen.
Die Zukunft wird in einem kleinen Paket geliefert: nur ein paar Seiten mit Anweisungen der Firma 23andme und ein Plastikbehälter, in den ich hineinspucken soll. Die Zellen, die in meinem Speichel enthalten sind, können im Labor aufgebrochen und ihr Erbgut untersucht werden. Im Internet kann ich dann ein paar Wochen später die Ergebnisse anschauen: Ob ich zum Beispiel ein höheres Risiko als andere Menschen habe, an Alzheimer zu erkranken, oder ob bestimmte Medikamente bei mir nur in hoher Dosis wirken. Das Ganze geht ohne Arzt. Ohne Beratung. In Deutschland ist das durch das Gendiagnostikgesetz eigentlich verboten. Aber 23andme sitzt in den USA. Auf dem Paket, das ich in einem Logistikzentrum abgebe, steht eine Adresse in Los Angeles. Auch die Genetik ist globalisiert. Ich trete hinaus, stehe auf der Straße im Industriegebiet in Berlin-Schmargendorf und mache meine Jacke zu. Schon seltsam, denke ich. Ich hier – und meine Spucke auf dem Weg nach Hollywood.
Die abgeschilferten Mundschleimhautzellen im Speichel enthalten mein gesamtes Erbgut: Eine drei Milliarden Glieder lange Kette, aufgeteilt auf 23 Chromosomen. Drei Milliarden Mal entweder das Molekül Adenin, Guanin, Cytosin oder Thymin. Eine Bauanleitung in 23 Kapiteln, geschrieben mit vier Buchstaben. Vergleicht man das Erbgut von zwei Menschen, so sind 99,9 Prozent dieser Buchstaben identisch. Aber die, die sich unterscheiden, können etwas über den Einzelnen verraten.
Nach einer Woche erhalte ich eine E-Mail, dass meine Speichelprobe im Labor angekommen ist. Dort wird das Erbgut aus den Zellen gefischt, in kleine Stücke zerlegt und dann auf einen DNS-Chip gegeben. Mein Erbgut wird nicht Buchstabe für Buchstabe sequenziert, das würde immer noch mehrere tausende Euro kosten. Stattdessen werden etwa eine Million einzelner Stellen im Erbgut, sogenannte SNPs (sprich: Snips), bestimmt.
Die Frage, die all die As, Cs, Gs und Ts beantworten sollen, heißt: „Was wird passieren?“ Wir wollen einen Blick in die Zukunft werfen, wir wollen wissen, was uns blüht: Glatze, Parkinson, Brustkrebs. Und wenn irgendwie möglich, wollen wir das Schlimmste verhindern. Wir glauben, wenn wir nur fest genug an dem Faden Erbgut ziehen, dann können wir vielleicht all die Krankheit und all das Leid, das das Leben für uns bereithält, aufdröseln wie einen hässlichen Pullover.
Zahlreiche Firmen haben dieses Versprechen zum Geschäftsmodell gemacht, doch keine so erfolgreich wie 23andme. Das Unternehmen wurde 2006 gegründet und wird unter anderem von Google finanziert. 2008 wählte das Magazin „Time“ den Gen-Test zur Erfindung des Jahres. Etwa eine halbe Million Menschen haben ihn inzwischen genutzt. Vor kurzem senkte das Unternehmen den Preis auf 99 Dollar. Eine Million Kunden wollte das Unternehmen so erreichen.
Daraus wird erst einmal nichts werden. Am Donnerstag hat das Unternehmen auf Druck der Arzneimittelsicherheitsbehörde FDA entschieden, ab sofort keine Gesundheitsinformationen mehr zu liefern. Zahlreiche Fragen rücken dadurch erneut in den Fokus: Was können wir bisher überhaupt aus dem Erbgut herauslesen? Wie sinnvoll sind solche Tests? Und wer sollte sie machen dürfen?
Nach einigen Wochen liegt mein Ergebnis vor. Unter der Überschrift „Gesundheitrisiken“ sind all die Krankheiten aufgeführt, für die ich ein erhöhtes Risiko haben soll: Koronare Herzkrankheiten, Gicht, Prostatakrebs, Zöliakie. Mein Risiko, an Diabetes zu erkranken, beträgt laut 23andme zum Beispiel zwei Prozent, ist also doppelt so hoch wie für den Rest der Bevölkerung. Dafür liegt mein Risiko, an Rheuma, Multipler Sklerose, Schizophrenie oder Hautkrebs zu erkranken, angeblich unter dem Durchschnitt. Aber was bedeutet das wirklich?
„Ich nenne das Bullshit-Genetik“, sagt Daniela Steinberger, eine Ärztin für Humangenetik, die in Frankfurt ein Zentrum für Humangenetik betreibt. „Das sind keine relevanten Informationen.“ Häufige Krankheiten wie Diabetes, Schizophrenie oder Multiple Sklerose entstehen zwar in der Regel aus einem Zusammenspiel von Umwelteinflüssen und genetischer Veranlagung. Doch die Suche nach einzelnen Genvarianten, die das Risiko einer dieser Krankheiten stark erhöhen, hat bisher wenig gebracht.
Vermutlich seien hunderte Gene beteiligt, die jeweils nur einen kleinen Effekt haben, sagt Markus Nöthen von der Universität Bonn. Sollte ein Großteil dieser Varianten eines Tages bekannt sein, könnte man sich alle gleichzeitig angucken und womöglich einen beträchtlichen Teil des Risikos vorhersagen. Bis dahin aber haben genetische Tests für diese Krankheiten kaum eine Aussagekraft.
In der Regel erhöhen oder reduzieren die bekannten Genvarianten das Risiko nur um einige Prozentpunkte. Solche schwachen Effekte sind völlig vernachlässigbar neben Umweltfaktoren wie Alter, Körpergewicht oder ob ein Mensch raucht, sagt Cecile Janssens von der Emory-Universität in Atlanta in den USA. Manche der Tests basieren nur auf einer einzigen genetischen Variante. „Im Moment habe ich laut 23andme ein erhöhtes Risiko für Darmkrebs“, sagt sie. „Sie können sich leicht vorstellen, dass daraus ein niedrigeres Risiko werden kann, wenn eine zweite Variante bekannt wird und die anders aussieht.“
2009 schickten der US-amerikanische Biologe Craig Venter und weitere Forscher den Speichel von fünf Menschen an die Gentestunternehmen 23andme und Navigenics. Die DNS-Daten, die sie erhielten, waren fast identisch, aber die Interpretation war es nicht. Weil die beiden Unternehmen unterschiedliche Genvarianten in ihre Berechnungen einbezogen, erhielten die Testpersonen für einige Krankheiten widersprüchliche Ergebnisse. So berechnete 23andme für drei der fünf Personen ein durchschnittliches Risiko für einen Herzinfarkt, Navigenics errechnete für die gleichen drei Personen ein reduziertes Risiko. Ähnlich sah es für Schuppenflechte, Diabetes und Darmkrebs aus.
Das alles bedeutet nicht, dass das Erbgut keine wichtigen Informationen enthält. Steinberger hat ein System entwickelt, das genetische Informationen nach ihrem Nutzen in fünf Kategorien einteilt. „Bullshit-Genetik“ ist Kategorie 1. Am anderen Ende der Skala, in Kategorie 5, sind genetische Veränderungen in Genen wie BRCA1 und BRCA 2, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer schweren Erkrankung führen.
Eine Mutation in diesen Genen kann das Risiko einer Frau, an Brustkrebs zu erkranken, drastisch erhöhen. Die Schauspielerin Angelina Jolie hat im Mai bekanntgegeben, dass sie eine solche veränderte BRCA1-Variante in ihrem Erbgut trägt, und sich deshalb die Brüste amputieren lassen.
Auch 23andme untersucht die beiden Gene. Das Unternehmen testet aber nur auf drei Mutationen, die besonders häufig unter Ashkenazi-Juden vorkommen. Andere, viel häufigere Mutationen können sie nicht untersuchen, weil die Firma Myriad zahlreiche Patente dafür hält, erklärt Uta Francke, die bis Oktober die medizinische Abteilung bei23andme leitete.
Frauen, die sich bei 23andme testen lassen und ein negatives Ergebnis erhalten, könnten sich deshalb in falscher Sicherheit wähnen, warnt der Humangenetiker Peter Propping. „Es kann sein, dass eine Frau sich dann zurücklehnt und denkt, sie trägt kein Risiko, dabei ist das keine endgültige Auskunft.“
Fällt das Ergebnis dagegen positiv aus, bleibt die Frage, wie zuverlässig es ist. 23andme ist bisher eine Doppelstrategie gefahren: Einerseits steht auf der Internetseite des Unternehmens immer wieder, die Ergebnisse der Tests seien nicht für diagnostische Zwecke geeignet. Gleichzeitig hat das Unternehmen aber den Gesundheitsnutzen seiner Tests hervorgehoben, warb unter anderem mit Fernsehspots, in denen Kunden berichten, wie die Diagnose ihr Leben verändert.
Das ging Jahre lang gut. Doch nun hat die FDA in einem Brief 23andme aufgefordert, die Vermarktung medizinischer Gentests sofort einzustellen. Das Unternehmen habe immer noch nicht nachgewiesen, dass die Tests zuverlässig seien. Ein falsches positives Ergebnis für BRCA könne aber zum Beispiel dazu führen, dass eine Frau unnötigerweise ihre Brüste entfernen lasse. Uta Francke hält das für abwegig. „Wenn jemand von 23andme ein positives Ergebnis hat, dann geht der doch zum Arzt“, sagt sie.
Doch 23andme hat sich dem Druck gebeugt. Am Donnerstag gab das Unternehmen bekannt, vorerst nur noch Informationen über die Herkunft eines Menschen zu liefern sowie die Rohdaten der DNS-Testung. Informationen, die die Gesundheit betreffen, würden aber nicht mehr dazu geliefert. Janssens findet das richtig. „Ich habe nichts dagegen, dass Firmen solche Gentests anbieten“, sagt sie. „Aber dann muss die Qualität auch gewährleistet sein wie bei einer klinischen Diagnose.“
Auch Steinberger hält das Vorgehen der FDA für richtig. Humangenetiker müssten allerdings eingestehen, „dass wir nicht mehr alleine mit den bisherigen Instrumenten des persönlichen Gesprächs und mit einzelnen schriftlichen Befunden arbeiten können, um Nutzen zu stiften.“ In Deutschland gebe es 80 Millionen Menschen, die ein Interesse daran haben könnten, ihr eigenes Erbgut zu kennen und für Entscheidungen zu nutzen, sagt Steinberger. „Die Vorstellung, dass deren berechtigtes Interesse mit knapp 200 Fachärzten für Humangenetik adäquat bedient werden könnte, ist naiv.“
Die Ärztin bietet inzwischen zahlreiche genetische Untersuchungen über das Internet an. Nicht Kategorie 1. Und auch nicht Kategorie 5. Da hält sie ein persönliches Beratungsgespräch für zwingend. Aber dazwischen gebe es zahlreiche Gene, die zu untersuchen einen klaren Nutzen haben könnte, ohne Menschen in existenzielle Angst zu versetzen: Faktor V zum Beispiel.
Als mein Vater Ende 20 war, begann er eines Tages Blut zu husten. Die Ärzte stellten ein Blutgerinnsel fest und gaben ihm blutverdünnende Mittel. Die Therapie war erfolgreich, die Episode geriet in Vergessenheit. Erst 30 Jahre später, nachdem sich ein weiterer gefährlicher Blutpfropf gebildet hatte, stellten die Ärzte fest, dass mein Vater eine Mutation im Gen für einen Blutgerinnungsfaktor, Faktor V, trägt. Menschen mit dieser Mutation haben ein erhöhtes Risiko, dass sich ein Blutgerinnsel bildet. Körperliche Bewegung und Kompressionsstrümpfe können das Risiko senken.
Laut 23andme habe ich die Faktor-V-Variante von meinem Vater nicht geerbt. Dasselbe gilt für einige andere Mutationen, deren medizinischer Einfluss bekannt ist. „Die meisten Menschen, die sich testen lassen, sind Menschen, die sich Sorgen machen, aber keinen Grund dazu haben“, sagt Janssens.
Klar sei aber auch, dass das Erbgut mancher Menschen Informationen enthalte, die für sie nützlich sein könnten, sagt Steinberger. „Menschen dieses Wissen vorzuenthalten, bedeutet, dass Menschen unnötigerweise krank werden oder sogar sterben.“
Je weiter die Technik fortschreitet, umso mehr genetische Informationen werden verfügbar sein. Schon in einigen Jahren könnte die Sequenzierung des gesamten Genoms für durchschnittliche Bürger eine Option sein. Dann könnte jeder Einzelne alle drei Milliarden Buchstaben seines Erbguts kennen und nicht nur eine Million. In der Gensequenz lassen sich dann auch verdoppelte Gene oder Wiederholungen kurzer Abschnitte erkennen, die zu Krankheiten wie Chorea Huntington führen können. Und je weiter die Genetik fortschreitet, umso mehr Informationen werden Menschen aus ihrem Erbgut herauslesen können.
Es geht also auch um die Frage, wie mündig ein Patient, ein Bürger sein darf. „Willkommen zu dir“ steht auf dem Testkit, den 23andme versendet. „Jeder hat ein Recht zu sehen, was in seinem Erbgut ist und was man heute darüber weiß“, sagt Francke.
„Dann können Sie auch einen Tomografen auf den Weihnachtsmarkt stellen und jeder kann sich mal durchleuchten lassen“, sagt Propping. Jeder solle das Recht haben, seine genetischen Informationen zu kennen. „Aber zum Schutz des Konsumenten sollte da immer ein Arzt zwischengeschaltet sein.“
Noch sind die Fragen, die ein Test wie der von 23andme aufwirft, interessanter als die Antworten, die er liefert. Die Frage ist, wie lange noch.