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Eine Patientin bei der Chemotherapie.
© mauritius images

Medizinische Innovationen: Wie der Fortschritt beim Patienten ankommt

Medizinische Innovation muss die Patienten auch erreichen. Doch dabei müssen Ärzte und Kliniken viele Hürden überwinden.

„Fortschritt ist das Werk der Unzufriedenen.“ Der Satz stammt von Jean-Paul Sartre. Wenn er stimmt, dann sollte man in der Medizin besonders viele Fortschritte erwarten. Denn Unzufriedenheit ist hier der Standard, nicht nur bei den Kranken, sondern auch bei Ärzten, falls sie nicht heilen können.

Tatsächlich ist die Geschichte voll von medizinischen Fortschritten, von der Antike über Paracelsus bis hin zu den Pionierleistungen des 20. Jahrhunderts, etwa der Entwicklung von Impfungen und Antibiotika. Doch Grund zur Unzufriedenheit bleibt, denn oft kommen Fortschritte nicht bei denen an, die sie brauchen würden. Wie man auf diesem Gebiet vorankommen kann, darum ging es jetzt bei einer Veranstaltung der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Berlin.

„Medizin definiert sich als eine praktische Disziplin hauptsächlich durch ihre Ergebnisse“, so formulierte es der Tübinger Medizinethiker Urban Wiesing. Die biomedizinische Forschung stehe in einem „Dienstleistungsverhältnis“ zur praktischen Medizin. Wer allein „mehr Forschung“ fordere, mache es sich zu einfach.

Bei manchen Krebsarten steigen die Überlebenschancen

Dass es etwa bei einigen Krebserkrankungen gewaltige Fortschritte gibt, beispielsweise bei den Lymphomen und beim Schwarzen Hautkrebs (Melanom), aber auch bei bestimmten Formen von Lungenkrebs, ist unbestritten. Die zielgerichteten, auf bestimmte Konstellationen und Krebs-Untergruppen zugeschnittenen Therapien haben die Überlebenschancen steigen lassen. In der Krebsmedizin habe es in den letzten Jahren einen „exponentiellen, in finanzieller Hinsicht schon geradezu beängstigenden“ Zuwachs an neuen Substanzen gegeben, denen der Sprung von der Grundlagenforschung in die Anwendung gelang, berichtete beim Leopoldina-Gespräch der Krebsspezialist Michael Hallek von der Uniklinik in Köln.

Doch die Freude über wachsende Möglichkeiten, Patienten helfen zu können, ist oft getrübt. Hallek und viele seiner Kollegen kritisieren, dass der Erkenntnisgewinn zu diesen Innovationen meist von den Hersteller-Firmen monopolisiert wird. Bei wichtigen Fragen stünden Mediziner dann oft mit völlig unzureichenden Informationen da. So sei zum Zeitpunkt der Zulassung eines Mittels oft unklar, welcher Untergruppe von Patienten es besonders gut hilft, welche Neben- und Wechselwirkungen auf die Dauer auftreten können und wie lange die Wirkung vorhält. „Wir müssen weiter forschen, während wir versorgen“, sagte Hallek.

Konkrete Vorschläge gibt es: Eine Arbeitsgruppe „Zukunft in der Onkologie“ aus Abgeordneten verschiedener Bundestagsfraktionen, Vertretern von Krankenkassen und Ärzteschaft, der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, von Wissenschaft und Patientenorganisationen hat dazu im März 2017 ein Positionspapier veröffentlicht. Sein Titel lautet „Wissen generierende onkologische Versorgung“ (abrufbar bei krebsgesellschaft.de). Die zentrale Anregung hier lautet, alle Informationen über Behandlungen mit neuen Krebsmedikamenten in anonymisierter Form in einem klinischen Krebsregister zu sammeln. Die Daten sollen auf Anfrage Forschern, aber auch dem für die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen maßgeblichen Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zur Verfügung stehen.

Schleppende Digitalisierung von Gesundheitsdaten

Auch anderswo fehlt es an Daten, beziehungsweise an Zugang zu ihnen. Aus verschiedenen Gründen – Datenschutz ist nur einer davon – gilt Deutschland als Entwicklungsland, wenn es um die Digitalisierung von Gesundheitsdaten geht. Das bringt die Ärzte um wertvolle Informationen. Es verursacht auch beträchtliche Kosten für Doppelt- und Dreifach-Untersuchungen und behindert den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn.

Ohne ihn aber ist moderne Medizin undenkbar. „Wenn ich mich als Arzt vom Paradigma des medizinischen Fortschritts entkoppelt habe, kann ich kein guter Arzt sein“, sagte die Ärztliche Direktorin des Uniklinikums in Heidelberg, Annette Grüters-Kieslich. Allerdings sieht die ehemalige Charité-Kinderärztin auch die Gefahr, beim Fortschrittsverständnis zu kurz zu greifen: „Viele Ärzte machen heute eine Medizin, die ganz von den Laborwerten definiert ist.“

Dass eine zu enge Auslegung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse Schaden anrichten kann, bestätigte der Altersmediziner Cornel Sieber von der Uni Erlangen-Nürnberg: „Neue strengere Richtwerte zur Einstellung des Blutdrucks etwa ziehen die Gefahr nach sich, dass alte Menschen mit zu niedrigen Blutdruckwerten stürzen und sich den Schenkelhals brechen.“ Fortschritt bei der Vorbeugung von Schlaganfällen und Herzinfarkten führt dann ironischer dazu, dass Menschen pflegebedürftig werden.

Medizinethikerin: Basisversorgung wird schlechter

Insgesamt werde das Gesundheitssystem in Deutschland von der Leitidee getragen, alle Bürger am medizinischen Fortschritt teilhaben zu lassen, unabhängig vom Preis der neuen Therapien, sagte die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert von der Uni Münster. Es sei damit durchaus „fortschrittsaffin“. Gleichzeitig werde aber die Basisversorgung in den Krankenhäusern, für die neueste Forschungsergebnisse nur selten relevant sind, schlechter und schlechter. Grund dafür sei unter anderem eine „Arbeitsverdichtung“ für Ärzte und Pflegepersonal. „Wir können uns den Fortschritt nur leisten, wenn wir auch die Alltagsversorgung im Auge behalten“, mahnte Schöne-Seifert.

Auch der Gesundheitsökonom Reinhard Busse sieht hier große Defizite. „In unserem Land existieren Krankenhäuser, die nur acht Brustkrebs-Patientinnen im Jahr behandeln“. Als „weit weg vom Fortschritt“ bezeichnet er solche Szenarien. Denn zur gleichen Zeit berieten anderswo, in zertifizierten Zentren, in jeder Woche ganze Teams von Spezialisten über die beste Behandlung für eine deutlich größere Gruppe von Frauen.

Ob der medizinische Fortschritt zum Patienten kommt, hängt also oft auch von politischen und gesellschaftlichen Faktoren ab. Hier ist die Unzufriedenheit derzeit groß. Aber vielleicht kann auch sie ja zu Fortschritt führen.

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