Medizin: Im Zweifel für die Zweitmeinung
Einige Kassen bieten sie schon an, viele Patienten kümmern sich selber. Doch wie sinnvoll ist die zweite Meinung zu Diagnose und Therapie von Krankheiten?
Müssen die Mandeln raus? Die Frage stellt sich, wenn Kinder immer wieder unter Entzündungen der Gaumenmandeln leiden oder wenn die Lymphorgane, die hinten im Gaumen das Zäpfchen flankieren, stark vergrößert sind. Zu den Kriterien, die Hals-Nasen-Ohren-Ärzte heranziehen, wenn die Entscheidung zwischen Eingriff und Abwarten ansteht, gehört die Anzahl der jährlichen Infektionen. Allerdings machen die starken regionalen Unterschiede in der Operationshäufigkeit stutzig, die die Bertelsmann-Stiftung im Jahr 2014 dokumentierte: Während im thüringischen Sonneberg in jedem Jahr nur 14 von 10 000 Heranwachsenden unter 15 Jahren operiert werden, sind es im unterfränkischen Schweinfurt – das damit den Bundesrekord hält – stolze 109. Die auffallende Differenz dürfte kaum mit Unterschieden in der Infektanfälligkeit zwischen kleinen Thüringern und kleinen Franken zu erklären sein. Dass medizinische Entscheidungen vom Wohnort des Patienten abhängen, ist aber eine beunruhigende Vorstellung.
Sollte, wer auf Nummer sicher gehen will, vor einer einschneidenden Behandlung nicht besser noch einen zweiten Arzt fragen? Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat das Verfahren für das Einholen einer solchen Zweitmeinung, das einige Krankenkassen ihren Versicherten schon zuvor ermöglichten, im September dieses Jahres für zwei häufige medizinische Eingriffe geregelt: die Entfernung der Mandeln und die Entfernung der Gebärmutter. Schon zwei Jahre zuvor hatte der Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch V festgehalten: Anspruch darauf, eine zweite Meinung einzuholen, haben „Versicherte, bei denen die Indikation zu einem planbaren Eingriff gestellt wird, bei dem insbesondere im Hinblick auf die zahlenmäßige Entwicklung seiner Durchführung die Gefahr einer Indikationsausweitung nicht auszuschließen ist“. Es geht also um Behandlungen, die nicht eilig sind und die auffallend zugenommen haben. Zwischen den Zeilen kann man zudem recht deutlich lesen, dass es sich um Eingriffe handelt, die für Kliniken oder Belegärzte lukrativ sind.
Ziel ist es, Patienten operative Eingriffe zu ersparen
Ziel des Zweitmeinungsverfahrens ist es, den Bürgern (und ihren Krankenkassen) operative Eingriffe zu ersparen, die nicht nötig sind – und ihnen umgekehrt mehr Sicherheit zu geben, dass die Operation, der sie sich nach einem übereinstimmend positiven Votum mehrerer Ärzte unterziehen, in ihrem Fall sinnvoll ist. Um diese Ziele zu erreichen, ist es sicher sinnvoll, dass auch ein fachlich kompetenter Mediziner eingeschaltet wird, der die Behandlung dann selbst nicht durchführt, also persönlich nichts von der Sache „hat“. Auch vor dem Einsetzen einer neuen Hüfte oder eines neuen Kniegelenks wirkt eine solche Vorsichtsmaßnahme plausibel.
Bei einer Veranstaltung der Deutschen Krebsgesellschaft wurde kürzlich aber auch die Frage diskutiert, ob solche „Zweitmeinungen“ auch vor Krebsbehandlungen wichtig sind. Wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2016 ergab, finden das die Bürger durchaus: 83 Prozent der 1598 Befragten können sich vorstellen, im Fall einer Krebsdiagnose den Rat eines weiteren Arztes einzuholen, 65 Prozent würden das gern vor einer geplanten Chemotherapie, 60 Prozent vor einer geplanten Bestrahlung tun. Das geben sie zumindest an, wenn sie in gesunden Tagen an die Zukunft denken.
Für Hodentumore existiert ein Zweimeinungsportal
Tatsächlich wendet sich heute rund ein Drittel der Krebspatienten an eine medizinische Instanz außerhalb der behandelnden Einrichtung. Und auch Ärzte können das tun: Speziell für Hodentumoren, die vor allem junge Männer befallen und bei denen die Entscheidungen schwierig sein können, existiert bereits ein Zweitmeinungsportal, an das sich der behandelnde Arzt wenden kann. Obwohl es eine Behandlungsleitlinie gibt, sind die Urteile der beiden ärztlichen Instanzen in einem Drittel der Fälle nicht deckungsgleich. Dann entsteht allerdings die Frage, welche Einschätzung und welcher Therapievorschlag nun der bessere, passendere ist. „Die Ärzte, die die Zweitmeinung formulieren, haben keinen Kontakt zum Patienten und sehen auch nicht die zur Diagnostik angefertigten Bilder, sondern nur die Befunde“, gibt Peter Albers, Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, zu bedenken. So werde unter Umständen eine Sicherheit suggeriert, die gar nicht bestehe.
Wie sich bei einer Veranstaltung der Deutschen Krebsgesellschaft Ende November in Berlin zeigte, ist der Urologe von der Uniklinik in Düsseldorf insgesamt skeptisch, was Zweitmeinungsverfahren in der Krebsmedizin betrifft. „Die ideale Zweitmeinung ist hier die qualifizierte Erstmeinung“, gibt er zu bedenken. Sie entstehe allerdings nicht auf die Schnelle – und vor allem nicht im Alleingang.
An zertifizierten Tumorzentren müssen Diagnose und Therapie ohnehin von einem ganzen Team von Ärzten verschiedener Fachgebiete besprochen werden. „Eine solche kostenfreie multidisziplinäre Erstmeinung sollte heute für jeden Patienten in onkologischen Zentren organisiert werden“, fordert Albers. In unserem dicht besiedelten und mit über 1000 zertifizierten Zentren ausgestatteten Land gebe es keinen Grund, nicht an ein solches Zentrum zu reisen.
Bei Krebs ist das Ergebnis der Untersuchung des Gewebes maßgeblich
Streng genommen ist das, was die Ärzte dort Krebspatienten vorschlagen, dann auch keine „Meinung“, sondern basiert auf wissenschaftlichen Studien und Leitlinien, es bezieht den gesamten Gesundheitszustand und die persönlichen Präferenzen des Erkrankten mit ein. „Wenn Therapieempfehlungen regelhaft interdisziplinär und auf höchstem fachlichem Niveau getroffen werden, bleiben weniger Zweifel bei den Patienten und den Kostenträgern“, heißt es denn auch in einem Positionspapier der Deutschen Krebsgesellschaft zur Frage der Zweitmeinungen aus dem Jahr 2015.
Für die exakte Diagnose ist bei Krebs das Ergebnis der Untersuchung des Gewebes maßgeblich. Karl-Friedrich Bürrig, Ärztlicher Leiter des Instituts für Pathologie Hildesheim-Goslar und Präsident des Bundesverbandes der Pathologen, machte bei der Veranstaltung deutlich, dass in seinem Fachgebiet praktisch nie einsame Entscheidungen gefällt werden. Die Tradition der Zweitbeurteilung und das Vier-Augen-Prinzip am „Diskussionsmikroskop“ mit zwei Okularen seien dort fest verankert. „Eine Zweitbeurteilungskultur mit einer Kultur des Zweifels ist wichtig, schon weil wir mit der subjektiven Beurteilung leben müssen.“
Doch was ist, wenn ein genetischer Test zwar klare Ergebnisse bringt, die Konsequenzen aber unklar sind? Ein wichtiges Beispiel für diese Art der Unsicherheit ist der erbliche Brustkrebs. Nicht erst seit die Schauspielerin Angelina Jolie ihre Entscheidung öffentlich bekannt gab, sich wegen der Belastung mit dem Brustkrebsgen BRCA 1 vorsorglich beide Brüste abnehmen zu lassen, haben in den USA, aber auch in anderen Ländern Testung und prophylaktische Operationen deutlich zugenommen. Das Risiko, irgendwann im Leben an Brust- und Eierstockkrebs zu erkranken, kann bei der Minderheit der Frauen mit genetischen Veränderungen an BRCA 1 und 2 bis zu 70 Prozent betragen. Inzwischen ist eine Reihe weiterer, weniger durchschlagender Risikogene entdeckt worden. Kerstin Riehm vom Zentrum für Familiären Brust- und Eierstockkrebs am Uniklinikum in Köln findet auf diesem Gebiet ein Zweitmeinungssystem besonders wichtig, um „Überprävention“ zu vermeiden.
Der Begriff "Zweitmeinung" wird uneinheitlich verwendet
In ihrem Positionspapier weist die Krebsgesellschaft allerdings auch darauf hin, dass der Begriff Zweitmeinung heute recht uneinheitlich verwendet wird: „Zweitmeinungen“ kommen auf Wunsch in Expertenkonsilen von Ärzten für Ärzte zustande, sie werden von Hotlines der Krankenkassen für ihre Mitglieder geliefert, sie kommen aber auch von kommerziellen Anbietern wie etwa der Health Management Organisation des Münchner Internisten Udo Beckenbauer, die als Agentur Zweitmeinungen vermittelt und 2011 mit Unterstützung der Felix Burda Stiftung für Darmkrebspatienten an den Start ging. Heute kostet das Angebot knapp unter 400 Euro, einige wenige Krankenkassen übernehmen die Kosten, ansonsten wird der Patient selbst zur Kasse gebeten. „Eine qualifizierte Erstmeinung ist ein Glück“, sagt Beckenbauer. In Albers Augen gehört sie dagegen schon heute in der Krebsmedizin zum Alltag – allerdings nur in den zertifizierten Zentren. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Patienten möglichst schnell dorthin kommen.“
Ob nun zur „qualifizierten Erstmeinung“ noch eine zweite kommt oder nicht, eines bleibt den Beteiligten nicht erspart: Mit einer verlässlichen Diagnose in der Hand und auf der Grundlage von Therapieempfehlungen, die sich auf Studien stützen und die ihnen gut erklärt werden, müssen die Patienten gemeinsam mit den behandelnden Ärzten zu einer Entscheidung darüber kommen, wie es nun weitergehen soll.
Zuallererst müssen sie und ihre Angehörigen aber den Schock der Diagnose Krebs überwinden. Auch das ist grundlegend anders, wenn die Frage nach Sinn oder Unsinn der Entfernung von Gaumenmandeln im Raum steht. Und wenn das Misstrauen aufkommt, hier werde im Einzelfall ein Eingriff aus ökonomischen Gründen empfohlen.