Berliner Wissenschaftspreis für Nachwuchsforscher: Wie bin ich – und wenn ja, wie lange?
Die Berliner Psychologin Jule Specht untersucht, wie sich die Persönlichkeit im Alter abrupt ändern kann.
Ein hartnäckiges Vorurteil lautet: Wer Psychologie studiert, will vor allem mit den eigenen Verrücktheiten ein wenig besser zurechtkommen. Würde diese Absicht Jule Specht bei ihren Forschungsarbeiten leiten, müsste sie allerdings noch etwas Geduld haben. Denn die Juniorprofessorin interessiert sich für die Veränderung von wichtigen Persönlichkeitsmerkmalen im Verlauf des Lebens – mit besonderem Schwerpunkt auf dem höheren Lebensalter. Doch demografischer Wandel hin oder her: Sie selbst ist erst 28 Jahre alt. Was man wiederum kaum für möglich hält, wenn man die beachtliche Liste ihrer Publikationen durchgeht. Am morgigen Dienstag wird der Psychologin im Roten Rathaus der Berliner Wissenschaftspreis für Nachwuchswissenschaftler verliehen, dotiert mit 10 000 Euro. Jule Specht ist Juniorprofessorin an der Freien Universität Berlin und Mitglied der Jungen Akademie, außerdem Research Fellow am Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Ab 30 gibt es weniger "unterkontrollierte" Persönlichkeiten
Das Panel ist ein wahrer Datenschatz – auch für Jule Specht. Die repräsentative Wiederholungsbefragung, die seit 1984 läuft, ist die größte multidisziplinäre Langzeitstudie und die mit der längsten Laufzeit. Zusammen mit Maike Luhmann von der Universität Köln und Christian Geiser von der Staatlichen Universität von Utah hat Jule Specht die SOEP-Daten und Daten des australischen HILDA-Surveys (für: Household Income and Labour Dynamics in Australia) genutzt, um herauszufinden, wann und wie sich der Persönlichkeitstyp von Menschen im Verlauf eines langen Lebens verändert.
Die insgesamt 23 000 Studienteilnehmer wurden für die Untersuchung anhand der individuellen Ausprägung der fünf großen Persönlichkeitsmerkmale Emotionale Stabilität, Extraversion oder Introvertiertheit, Gewissenhaftigkeit, Offenheit für Erfahrungen und Verträglichkeit drei großen Gruppen zugeteilt. Sogenannte „Resiliente“ passen sich den Anforderungen des Lebens gut an, sind leistungs- und widerstandsfähig. „Unterkontrollierte“ agieren eher impulsiv, unangepasst, wenig verträglich und wenig gewissenhaft. „Überkontrollierte“ sind sehr sensibel, introvertiert und vom Urteil anderer abhängig.
Was die Forscher nicht verwunderte: Als die Teilnehmer die 30 erreicht hatten, gab es deutlich weniger „Unterkontrollierte“ unter ihnen als noch wenige Jahre zuvor, in den „wilden Jahren“. Die Rate war von 40 auf 20 Prozent gesunken. Kein Wunder, schließlich zwingen feste Partnerschaft, Beruf und Kinder junge Erwachsene in dieser Lebensphase oft zu einem strukturierteren Leben und zu stärkerer Selbstkontrolle, biologische Prozesse tragen möglicherweise dazu bei.
Ab 70 überraschend große Persönlichkeitsveränderungen
„Spannend ist aber, dass es ab einem Alter von 70 Jahren nochmals große Veränderungen der Persönlichkeit gibt“, sagt Specht. „Es scheint nicht ausschließlich das junge Erwachsenenalter zu sein, in dem sich in dieser Hinsicht viel tut.“ Faszinierend findet die junge Forscherin nicht zuletzt, dass sich keineswegs bei allen Älteren dieselben Veränderungen zeigen. „Das hohe Alter ist deutlich weniger homogen, als man bisher dachte.“ Aus bisher eher ängstlichen Überkontrollierten können also nach einem aufreibenden Berufsleben spontan agierende Ruheständler werden, die von heute auf morgen zu einer großen Reise aufbrechen. Es kann aber auch passieren, dass impulsive, aufbrausende Mütter später höchst gelassene und entspannte Großmütter sind. Ein klassischer Effekt der Entwicklung im hohen Alter, den Specht und andere schon in früheren Untersuchungen fanden: Ältere Personen sind, im Vergleich zu jüngeren, im Schnitt verträglicher, aber weniger offen für neue Erfahrungen.
Warum das so ist, ist keineswegs klar. Studien geben allerdings Hinweise darauf, dass es nicht die Gene sind, die die Persönlichkeiten der Senioren auseinanderdriften lassen. „Auch Krankheiten und Renteneintritt haben wohl nur einen geringen Anteil“, sagt Specht. Die Wandlungen der Persönlichkeit scheinen aber in Zusammenhang zu stehen mit der veränderten Zeitperspektive, mit der drängender werdenden Einsicht, dass das Leben endlich ist und der Tod näher rückt. „Das führt zu einer anderen Bewertung des Lebens.“
Erst die Kinder, dann die Karriere
Jule Specht ist diesem Phänomen der Persönlichkeitsveränderung im Alter seit ihrer Dissertation auf der Spur, in der es bereits um Entwicklungen im Verlauf des Erwachsenenalters ging. Das Thema wird sie wohl noch eine Weile begleiten: „Wenn man erst einmal auf etwas gestoßen ist, das einen verwundert, lässt es einen so schnell nicht mehr los“, bekennt die Forscherin. Daran knüpfen sich viele weitere spannende Fragen an. Etwa: Was geschieht in einer Beziehung, wenn sich die – über Jahrzehnte stabile – Persönlichkeit des Partners oder der Partnerin im letzten Lebensabschnitt merklich verändert? „Dazu haben wir bisher überraschend wenige Erkenntnisse“, sagt sie.
Specht hat schon früh eine Familie gegründet, in einer sensiblen Lebensphase, in der die Persönlichkeit sich üblicherweise noch stark verändern kann, man sich gegenseitig maßgeblich prägt und gemeinsam entwickelt. Ihr erstes Kind hat sie mit 18 Jahren bekommen, jetzt sind ihre beiden Kinder im Grundschulalter. Lassen sich daraus Empfehlungen für andere Frauen ableiten, die ebenfalls eine wissenschaftliche Karriere anstreben?
Von der Verhaltensbiologie zur Psychologie
Im Grunde sei es einfacher, schon während des Studiums eine Familie zu gründen als später, wenn man weniger flexibel in der täglichen Zeitplanung ist, meint Specht heute. „Aber man muss der Typ Mensch dazu sein, einen passenden Partner finden und man muss andere Dinge für etliche Jahre zurückstellen.“ Prioritäten setzen, Disziplin aufbringen, den Alltag gut strukturieren. „Das ist schon der ganze Zauber“, sagt sie nüchtern.
In der Oberstufe des Gymnasiums hat sich Jule Specht sehr für Verhaltensbiologie interessiert. Das war ihr persönlicher Zugangsweg zur Psychologie. Ein Fach, das einerseits viel öffentliches Interesse findet, dessen wissenschaftliche Erkenntnisse bisher aber nur bruchstückhaft in die Öffentlichkeit gelangen. Die Forscherin spürt deshalb auch eine Verantwortung, alltagsrelevante Forschungsergebnisse weiterzugeben. In der Begründung für den Nachwuchspreis spielen auch ihr Blog jule-schreibt.de und ihr populärwissenschaftliches Buch eine Rolle.
Es trägt den Titel „Suche kochenden Betthasen. Was wir aus wissenschaftlichen Studien für die Liebe lernen können.“ Lernen kann man dort zum Beispiel, dass Beziehungen besonders stabil sind, wenn die Partner sich selbst als ähnlich einschätzen und wenn sie in den Persönlichkeitsmerkmalen Verträglichkeit, Zuverlässigkeit und Offenheit für Neues übereinstimmen. Dass Sex eine der wichtigsten Quellen für die Zufriedenheit mit der Partnerschaft darstellt. Dass Menschen, die sich in ihrer Art zu sprechen ähneln, sich ganz besonders mögen. Auch wenn man vom Inhalt des Gesagten absieht.
Die Wissenschaft liefert auch kuriose Ergebnisse. So sind Beziehungen – warum auch immer – stabiler, wenn die Frau schlanker ist als ihr Partner. Vieles davon bezieht sich auf die gesamte Lebensspanne. Wie die Forschungsinteressen der Juniorprofessorin, die derzeit für ein Projekt die Bewohner von Berliner Altenheimen befragt.