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DIW-Ökonom Gert G. Wagner im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
© Thilo Rückeis

Sozialökonom Gert Wagner: „Die Spaltung der Gesellschaft nimmt nicht zu“

Der Berliner Wirtschaftsforscher Gert Wagner über gutes Leben in Deutschland, reiche Pensionäre und den Frust im Osten.

Herr Wagner, die OECD beklagt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland immer tiefer wird.

Das stimmt aber nicht.

Sie überraschen mich!

Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich in Deutschland die Ungleichheit in den letzten Jahren immer weiter vertieft hat. Wir machen mit unseren Daten der Langzeitstudie SOEP im DIW Berlin ja auch entsprechende Untersuchungen. Danach hat die Spaltung der Gesellschaft, was die Verteilung von Einkommen und Vermögen angeht, zwar in den Jahren zwischen 1985 und 2005 zugenommen, aber seitdem hat sich nichts mehr wesentlich verändert.

Hat ein Durchschnittsverdiener, der in Berlin lebt, die realistische Chance, mit seinem Gehalt zumindest einen gewissen Wohlstand aufzubauen?

Das hängt davon ab, ob der Partner auch verdient und ob man Kinder hat. Für kinderlose Paare mit zwei Vollzeitgehältern ist ein Reihenhaus drin.

Kapitalerträge werden in Deutschland eher moderat besteuert. Werden die Reichen über Gebühr geschont?

Das ist keine wissenschaftlich beantwortbare Frage. Als Staatsbürger glaube ich aber nicht, dass bei der Kapitalbesteuerung die sinnvolle Grenze schon erreicht wäre.

Thomas Piketty hat es im vergangenen Jahr zum Star der Ökonomen-Szene gebracht, indem er nachgewiesen hat, dass die Reichen in aller Welt immer reicher werden. Er hat damit offensichtlich einen Nerv getroffen.

Ja, das hat er. Zumindest im Feuilleton. Und das hängt vor allem an einer guten Öffentlichkeitsarbeit, die aus einem nahezu unbekannten Fachwissenschaftler einen Medienstar gemacht hat. Was den Inhalt angeht, so kann ich nur sagen: Man muss auf die Details achten. Mit der passenden Auswahl der Zeitreihen und der Statistiken kann man so ziemlich alles, was man sich politisch wünscht, illustrieren.

SPD-Chef Sigmar Gabriel hat im Gespräch mit Piketty verkündet, auf die Wiedereinführung der Vermögensteuer verzichten zu wollen. Würde die Vermögensteuer Kapital vertreiben?

Das hängt davon ab, wie hoch und wie sie ausgestaltet wäre. Der Gesetzgeber kann da aus meiner persönlichen Sicht durchaus mutig sein, da es immer schwieriger wird, Länder zu finden, in denen man sein Kapital noch vor den Finanzämtern verstecken kann.

Glaubt man dem DIW und dem Statistischen Bundesamt, gehören die Pensionäre zu der wohlhabendsten Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Was sagt es über ein Land aus, in dem es vor allem den Ruheständlern gut geht?

Pensionäre bilden nur die wohlhabendste Gruppe, wenn man die Breite anschaut. Da spielt eine gute Ausbildung eine große Rolle und das Vermögen der Pensionäre ist keineswegs unverdient. Und die eigentlichen Spitzenverdiener oder Millionäre sind die Beamten natürlich nicht, das sind die Unternehmer und die Erben. Dass die Pensionäre besonders gut versorgt sind, liegt daran, dass man beim Staat zwar keine Spitzengehälter bekommt, aber doch ein ordentliches und vor allem sicheres Auskommen hat. Außerdem gibt es eine Mindesthöhe bei den Pensionen, anders als in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die gesetzliche Rentenversicherung hat in diesem Jahr einige Veränderungen erfahren. Ist die Rente mit 63 ein rentenpolitischer Sündenfall?

Der Begriff ist falsch. Es geht nicht um die Rente mit, sondern ab 63. Von dieser Rente 63 profitieren nur einige Jahrgänge, aber das war ja politisch gewollt. In den Elitediskursen herrscht gegenüber der Rente ab 63 eine große Skepsis, aber da diskutieren auch nicht die Leute, die lange körperlich gearbeitet haben und deshalb früher in Rente gehen möchten und teilweise aus gesundheitlichen Gründen auch müssen. Klar ist aber – wie auch der Sozialbeirat feststellt –, dass die Rente ab 63 und die Mütterrente andere Verbesserungen in der Alterssicherung schwerer machen.

Weil man einen Euro nur einmal ausgeben kann.

Ja, so einfach ist das. Dabei bekommen wir in Ostdeutschland jetzt zunehmend ein Problem mit einer wachsenden Altersarmut. In Ostdeutschland gehen jetzt Leute in Rente, die faktisch 25 Jahre lang arbeitslos waren, die nach der Wende also nie eine auskömmliche Erwerbstätigkeit hatten. Es gibt viele Menschen, für die die Wende eine persönliche Katastrophe war. Das zu lösen, wird durch die Rente ab 63 und die Mütterrente nicht einfacher.

Im Bundesarbeitsministerium wird darüber nachgedacht, die Betriebsrenten zu stärken. Ist das sinnvoll?

In der Rentenversicherung sinkt das Niveau planmäßig, wie es das Gesetz vorsieht. Die Riester-Rente, die das ausgleichen sollte, hat nicht alle Menschen erreicht und wird das auch nicht tun. Es bleibt daher nur die betriebliche Altersvorsorge, um Verbesserungen zu erzielen – vor allem, weil man diese Vorsorge auch in Tarifverträgen regeln kann.

Sollte jeder Arbeitnehmer verpflichtet werden, eine Betriebsrente abzuschließen?

Es spricht vieles für eine Betriebsrentenpflicht. Die gesetzliche Rentenversicherung ist ja auch ein Pflichtsystem, warum sollte man nicht daneben noch ein zweites System etablieren? Im Prinzip ist der Riester-Ansatz, der alle erfasst, mehr als dass man tarifvertraglich gebundene Arbeitnehmer nur besser absichert. Aber dafür sehe ich politisch keine Chance. Außerdem ist die Streuung von Risiken immer gut. Drei Säulen sind besser, als alles auf eine Karte zu setzen.

Politisch dürfte es dafür aber wohl keine Mehrheit geben. Im Gespräch ist eher eine Opt-out-Regelung – jeder Arbeitnehmer soll in das Betriebsrentensystem einbezogen werden, kann sich aber auf Wunsch davon verabschieden.

Wenn man – unter den gegebenen Bedingungen – für viele Menschen ein höheres Rentenniveau erreichen möchte, wäre auch das ein sinnvoller Weg.

Sind Regelungen in Tarifverträgen ein vernünftiger Weg, wenn man bedenkt, dass für es für viele Arbeitnehmer und vor allem für Arbeitnehmer in schlecht bezahlten Jobs gar keine Tarifverträge gibt?

Man würde über die Tarifverträge 80 Prozent der Menschen erreichen, der Rest wird, wenn das Arbeitsleben schlecht läuft, ein Fall für eine Grundsicherung. Vielleicht stärkt der Mindestlohn aber die Gewerkschaften und es werden wieder mehr Arbeitnehmer tariflich abgesichert.

Warum?

Der Mindestlohn muss vor Ort durchgesetzt werden. Betriebsräte und Gewerkschaften spielen eine große Rolle dabei, diesen Prozess zu überwachen.

Brauchen wir einen flexibleren Eintritt in die Rente?

Ja. Wer vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter in Rente geht, muss als Ausgleich dafür Abschläge bei der Rente hinnehmen, darf aber trotzdem nur 400 Euro im Monat hinzuverdienen. Das ergibt rentenmathematisch keinen Sinn. Das meint auch der Sozialbeirat. Höhere Hinzuverdienstgrenzen sind sinnvoll.

Sie sitzen auch in weiteren Räten, etwa im neuen Sachverständigenrat für Verbraucherfragen und Sie beraten die Kanzlerin beim Regierungsprojekt „Gutes Leben“ ...

Ja, und da sind völlig andere Aufgaben zu erledigen als im Sozialbeirat. Wissenschaftler können bei der Politikberatung unterschiedliche Rollen spielen. Im Sozialbeirat habe ich eine moderierende Funktion, beim Sachverständigenrat für Verbraucherfragen können wir relevante Themen identifizieren und auf die politische Agenda setzen. Im wissenschaftlichen Beirat im Bundeskanzleramt helfen wir, die Bürgerdialoge vorzubereiten, in denen herausgefunden werden soll, wie die Menschen im Land denken. Danach werden wir an einem System von Indikatoren mitarbeiten, um Lebensqualität zu messen. Da geht es um die beste Methodik und nicht um Agenda-Setting.

Aber ist denn nicht klar, was die Menschen möchten – eine gute Arbeit, eine bezahlbare Wohnung, ausreichend Geld und ein bisschen Spaß im Leben? Wieso braucht man Bürgerforen, um das herauszufinden?

Spitzenpolitiker wie die Kanzlerin leben abgeschottet von den Bürgern. Für sie ist das eine Chance, mehr zu erfahren. Hinzu kommt: Über die Mitte der Gesellschaft wissen wir und die Politik sehr viel. Aber die Bürgerdialoge sollen nicht nur die breite Mitte der Bevölkerung in den Blick nehmen, sondern auch Gruppen, die es schwer haben in der Gesellschaft. Ob wir wirklich wissen, was diesen Menschen wichtig ist, wage ich zu bezweifeln.

Aber was soll das am Ende bringen?

Wir haben die Chance, statt der vielen Einzelberichte, die es bereits gibt, endlich einmal auf ganz hoher politischer Ebene eine Gesamtschau über das Leben in Deutschland zu bekommen. Bisher haben wir den Armuts- und Reichtumsbericht, den Bericht der Wirtschaftsweisen, Berichte zu Umwelt, Familie, Jugend. Aber all das wird niemals gemeinsam diskutiert. Das soll sich durch das neue Projekt ändern – ein echter Fortschritt.

Professor Dr. Gert Georg Wagner (61) ist einer der bekanntesten Sozialökonomen und Politikberater Deutschlands. Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin leitete er bis 2011 das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), das seit 30 Jahren Deutsche zu Einkommen, Arbeit, Bildung und Gesundheit befragt. Zudem sitzt Wagner, der an der TU Berlin lehrt, in diversen Kommissionen. Er ist unter anderem Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung, Mitglied des vor kurzem ins Leben gerufenen Sachverständigenrats für Verbraucherfragen im Justizministerium und sitzt im Wissenschaftlichen Beirat des Regierungsprojekts „Gut leben in Deutschland“.

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