Eisplatten am Südpol: Wie Antarktis-Eis den Meeresspiegel reguliert
Das Gleichgewicht des Eises in der Antarktis ist ein komplexes System. Die Schlefeise - riesige Eisplatten, die an das Festland angrenzen - verhindern, dass einfach Eis ins Meer rutscht und so der Wasserspiegel steigt.
Ein Stück von „Larsen C“, Teil des riesigen Larsen-Schelfeises an der Antarktischen Halbinsel, droht abzubrechen. Der Riss, den Forscher seit Jahren beobachten, ist mittlerweile 80 Kilometer lang. Nun hängt der vordere Teil nur noch auf einer Strecke von 20 Kilometern am Hauptteil. Die Geburt eines etwa 5 000 Quadratkilometer großen Eisbergs steht also bevor. Schelfeise, auf dem Meer schwimmende Eisplatten, machen etwa ein Zehntel der Antarktisfläche aus. Sie gehören nicht zum Festland, sondern docken daran an. Für das Larsen-Schelfeis wäre der neue Eisberg nicht der erste Verlust. Mehrmals hat die Platte in der Vergangenheit gekalbt, ist also Eis dort abgebrochen und als riesiger Brocken ins Meer gefallen.
Die Schelfeise beeinflussen die zukünftige Höhe des Meeresspiegels. Der ändert sich nicht durch das Kalben. Denn die schwimmenden Schelfeise verdrängten vorher schon Wasser. Das Abwerfen von Eisbrocken ist aber Teil eines komplexeren Mechanismus. Tore Hattermann, Ozeanograf am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven erklärt, was die Schelfeise für den Eismassehaushalt im kalten Süden bedeuten: „Sie transportieren fast den gesamten Ausstrom von antarktischem Landeis ins Meer. Dieser Massefluss muss immer im Gleichgewicht sein, um den kontinuierlichen Masseeintrag durch Schneefall über dem Inlandeis auszugleichen.“ Der jährliche Eintrag liegt zwischen anderthalb Metern über der Antarktischen Halbinsel und einigen wenigen Zentimetern über dem zentralen Inlandeis. Würde also dieser Zuwachs nicht kontinuierlich durch das Abfließen der Eismassen ausgeglichen, würde die Antarktis jedes Jahr um diese Menge in die Höhe wachsen.
Warmes Wasser hat einen bedenklichen Effekt
Die Schelfeise verhindern, dass Landeis einfach so ins Meer abrutscht. Dabei ist egal, ob das Eis dort auftaut oder nicht. Hat sich die Masse einmal vom Land ins Meer verlagert, steigt der Wasserspiegel. Schelfeise sind vergleichbar mit dem Korken in einer Weinflasche. Wird er entfernt, gibt es kein Halten mehr für das dahinter liegende Eis.
Fragt sich, wie fest die Korken sitzen. Tore Hattermann war von Anfang November bis Januar auf dem Filchner-Schelfeis, einem Teil des großen Ronne-Filchner-Schelfeis im Westteil der Antarktis. Dort untersuchte er mit Kollegen zum zweiten Mal die Meereszirkulation unter den Eisplatten. Mit 90 Grad heißem Wasser bohrte man Löcher durch das 600 Meter mächtige Eis und beprobte den Ozean darunter. Jetzt, zurück in Bremerhaven, beginnt die Datenauswertung. Erst in ein paar Jahren lässt sich wahrscheinlich erst endgültig klären, wie stabil das Eis ist, sagt Hattermann. Und dann auch nur in Kombination mit Computermodellen. Einige Simulationen sagen voraus, dass in Zukunft mehr und mehr warmes Wasser unter das Filchner-Schelfeis gelangt. Mit „warm“ meinen Ozeanografen in der Antarktis Wassertemperaturen um die null bis ein Grad, also etwas oberhalb des Meerwassergefrierpunktes von minus 1,9 Grad Celsius. Das wärmere Wasser hat einen bedenklichen Effekt: Es verstärkt die Schmelzprozesse an der Unterseite des Schelfeises, das so Masse verliert.
Die neuen Messdaten vom Filchner-Schelfeis sollen helfen, herauszufinden, wie wahrscheinlich ein solches Szenario ist. „Bisher findet die Erwärmung der antarktischen Wassermassen nur im Modell statt. Es gibt noch viel Unklarheit und Disput in Fachkreisen, inwieweit Modelle die entscheidenden Prozesse abbilden können. Fertige Ergebnisse haben wir noch nicht“, sagt Hattermann. Solche Aussagen tragen laut Hattermann letztendlich zur Glaubwürdigkeit der Klimaforschung bei. „Ich glaube, dass so viel Ehrlichkeit den Vorwurf entkräftet, das seien ja alles vorgefertigte Lobbyistenergebnisse.“
Die Ostantarktis ist stabiler
Bisher gehörte das Filchner-Schelfeis zu den stabileren Küstenregionen. Unter der Eisplatte zirkuliert eine der kältesten natürlich vorkommenden Wassermassen der Erde. Die Temperaturen liegen bei minus 2,5 Grad Celsius. Allerdings ist die Datenlage in der Region so dünn, dass man zunächst den Status quo feststellen muss, um beurteilen zu können, ob sich unter dem Eis etwas geändert hat. Die bislang größten Masseverluste des Kontinents treten im Amundsenmeer auf, angetrieben vor allem durch warmes Wasser, das unter den Schelfeisen zirkuliert. Der Rückgang des Eises dauert zum Teil schon länger an. So zieht sich der Pine-Island-Gletscher seit den 1940er Jahren zurück. „Dem Filchner-Schelfeis könnte es ähnlich ergehen“, sagt Hattermann.
Was auffällt: Die Ostantarktis ist insgesamt die stabilere Hälfte des Kontinents. Eismasse geht vor allem in der Westantarktis verloren. Das hängt damit zusammen, dass der Großteil der Erdoberfläche, die den westantarktischen Eisschild trägt, unterhalb des Meeresspiegels liegt. Man spricht von einem marinen Eisschild. Beim Schmelzen der Schelfeise kommt es hier zu einem besonderen dynamischen Effekt, der eine Kettenreaktion einleitet, die den Eisverlust weiter beschleunigt. Hattermann bleibt beim Bild der entkorkten Weinflasche. „In der Ostantarktis wird eher gemäßigt ausgegossen, während die westantarktische Flasche bereits auf der Seite liegend entkorkt ist. Nur wissen wir noch nicht, wie schnell diese Prozesse ablaufen und wann sie wieder aufhören.“
Es geht um längere Zeiträume
Wie viel trägt die Antarktis zum Anstieg des Meeresspiegels bei? Der internationale Klimarrat nannte maximal 16 Zentimeter innerhalb dieses Jahrhunderts als Schätzung. Prognosen basieren immer auf bestimmten Annahmen und komplizierten Modellberechnungen, sagt Hattermann. Er ist vorsichtig, wenn es um quantitative Aussagen geht. Würde das gesamte Wasser, das die Antarktis in Form von Landeis gespeichert hat, in den Ozean gelangen, stiege der weltweite Meeresspiegel um mehr als 60 Meter an. Theoretisch.
Hattermann ordnet das Ganze so ein: „Schwankungen des Meeresspiegels von mehreren zehn Metern hat es in der Erdgeschichte häufig gegeben. Änderungen in solchen Dimensionen sind nichts Unerwartetes.“ Insgesamt komme es auf die Zeiträume an. „100 Jahre sind nur ein kurzer Augenblick in der Dynamik des antarktischen Eisstroms, der sich behäbig vom Gebirge ins Meer hinabschiebt. Es handelt sich um sehr langsame Prozesse“, sagt Hattermann. Deshalb spielen für den Ozeanografen auch die genauen Zahlen für das nächste Jahrhundert keine so große Rolle. Es geht ihm darum, welchen Einfluss die heutigen Änderungen auf die langzeitliche Dynamik in den nächsten vielen Jahrhunderten haben. Hattermann will wissen, was im Jahr 2500 in der Antarktis los ist.
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