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Eine Fotomontage zeigt eine Ärztin, die aus ihrem Tablet-Computer eine Therapieempfehlung empfängt.
© Getty Images/iStockphoto

Künstliche Intelligenz: Wenn der Arzt eine Maschine ist

Künstliche Intelligenz kann inzwischen manches besser als Ärzte. Welche Zukunft die Silizium-Docs haben, hängt aber nicht allein von ihrem objektiven Können ab.

Der Mitgründer von Microsoft, Paul Allen, steckte erst vor wenigen Monaten 125 Millionen Dollar in ein Projekt, das er „Alexandria“ nannte. Sein Ziel sei, Künstlicher Intelligenz (kurz KI) „gewöhnlichen gesunden Menschenverstand“ beizubringen. Wenn das gelinge, so Allen im Februar, sei es möglich, das Potenzial von KI optimal in „Forschung, Wirtschaft und Medizin freizusetzen“.

Allen gab jahrzehntelang Multimillionen für verschiedene, teils von Öffentlichkeit und Experten auch als abseitig wahrgenommene Projekte aus. Ein Fokus aber lag immer auf der Medizin – auch, weil er selbst 1982 an einem Tumor des Lymphsystems erkrankt war. Als Informatiker glaubte er daran, dass Algorithmen bei Diagnose und Therapie verschiedenster Leiden eine wichtige Rolle spielen könnten.

Therapie bei Sepsis

Am vergangenen Montag starb Allen an einem septischen Schock, Folge einer sein Immunsystem unterdrückenden Behandlung. Die musste er wegen eines 2009 neu diagnostizierten, anderen Tumors über sich ergehen lassen. Sepsis ist die wahrscheinlich häufigste Todesursache weltweit in Krankenhäusern. Die Behandlung dieser massiven bakteriellen Infektionen aufgrund eines geschwächten Immunsystems wird auch immer häufiger durch antibiotikaresistente Keime erschwert. Die Ironie ist offensichtlich, wenn eine Woche nach Allens Tod in der Fachzeitschrift „Nature Medicine“ ein Artikel über den „KI-Kliniker“ erscheint, der ein Computerprogramm ist und „optimale Behandlungsstrategien bei Sepsis“ errechnen und dem Arzt vorschlagen kann.

Die Software, um die es geht, arbeitet nicht mit gesundem Menschenverstand, sondern integriert nur jede Menge Daten und lernt aus ihnen. „Möglichkeit und Bedarf“, sagt Aldo Faisal, Informatiker am Imperial College in London und Mitautor der Studie, seien Gründe gewesen, sich mit Sepsis zu beschäftigen. Der „Bedarf“ begründet sich aus den oft tödlich ausgehenden Erkrankungen. Die „Möglichkeiten“, lägen darin, dass „auf Intensivstationen sehr viele digitalisierte Patientendaten generiert und auch alle Entscheidungen der Ärzte gespeichert werden“. Das sei ein „ideales Feld für KI-Lernsysteme“.

Daten sammeln, Ergebnisse vergleichen

Die lernende Maschine aus London arbeitet mit großen Datenmengen, macht aber eigentlich nichts, was auf den ersten Blick hochkomplex wirken würde. Sie gleicht schlicht die klinischen Werte von sehr vielen Patienten mit Therapieentscheidungen der Ärzte bezüglich zweier Parameter ab: Wieviel intravenöse Flüssigkeit wird dem Patienten verabreicht? Und welche Blutdruck-Medikamente bekommt er oder sie in welcher Dosis? Beides entscheidet mit, ob ein Patient stabilisiert werden und überleben kann. Letzter Datenpunkt ist die Antwort auf die Frage, ob die Therapie erfolgreich war oder nicht.

Aus all dem macht das Programm Therapievorschläge hinsichtlich Flüssigkeitsgabe und Blutdruckmittel. Ob die gut und vielleicht lebensrettend sein könnten, testeten die Forscher an einem anderen großen Datensatz: Sie präsentierten dem Programm die klinischen Werte einer weiteren Gruppe ehemaliger Sepsis-Patienten, und das Programm machte für jeden von ihnen Therapievorschläge. Es stellte sich heraus, dass die Sterblichkeit bei den Patienten deutlich am niedrigsten gewesen war, bei denen die Therapieentscheidungen der Ärzte denen entsprachen, die auch der „KI-Kliniker“ vorgeschlagen hätte. Eine klinische Studie, die durch den Algorithmus gestützte Entscheidungen mit Arzt-Entscheidungen ohne diese Hilfe vergleicht, müsste allerdings noch folgen. Anthony Gordon, am Projekt beteiligter Intensivmediziner, hofft bald eine solche Untersuchung beginnen zu können. „Wir arbeiten gerade daran, das System so zu entwickeln, dass es in Echtzeit Ärzten und Pflegepersonal am Krankenbett zur Verfügung stehen kann“, sagt Gordon. Er betont aber, dass „die letztendliche Entscheidung beim Arzt verbleibt“.

Von der Diagnose zur Therapie

Tatsächlich begeben sich die Londoner Ärzte und Informatiker auf ein eher neues Gebiet des „maschinellen Lernens“ in der Medizin. Ihr Ansatz ist es, Algorithmen auf die Fähigkeiten echter Ärzte und deren mehr oder weniger richtige Therapie-Entscheidungen loszulassen. Sie gehen damit einen Schritt weiter als mit den schon auf vielen Gebieten erfolgreich eingesetzten Anwendungen. Bei diesen geht es meist allein um Diagnostik. Bei bildgebenden Verfahren werden sie etwa zur Analyse von Aufnahmen im Auge von Diabetes-Patienten eingesetzt, um die für die Krankheit typischen Veränderungen an der Netzhaut zu finden. Auch in der Hautkrebsdiagnose kommen solche Techniken sehr effektiv zum Einsatz.

In einem ebenfalls diese Woche in der Fachzeitschrift PNAS erscheinenden Artikel berichten Ärzte und Informatiker mehrerer Kliniken in den USA über „neurale Netzwerke“. Diese können Knochenbrüche auf Röntgenaufnahmen so gut wie Spezialisten identifizieren. Und Ärzten in der Notaufnahme sind sie sogar überlegen. Auch in der Medikamentenforschung seien „schon lange sehr fortgeschrittene Verfahren aus dem ‚Machine Learning’ im Einsatz“, sagt Michael Berthold, Medizininformatiker an der Uni Konstanz und Mit-Chef des von dort ausgegründeten Software-Unternehmens KNIME.

Wie sich die Anwendung von maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz in der Medizin weiter entwickeln wird, hängt nach Ansicht von Fachleuten nicht nur von den technologischen Möglichkeiten ab. Dem derzeitigen „Hype um KI“, wie Berthold es nennt, stehen unter anderem ethische, logistische und berufsständische Hürden entgegen. Dazu gehöre, dass praktizierende Mediziner und Informatiker sich nach wie vor in unterschiedlichen Welten bewegten, sagt Faisal.

Arzt-Ersatz?

Vor allem aber müsse das Konzept der KI aus menschlicher Sicht „akzeptabel sein, also beratend-unterstützend eingesetzt und nicht als billiger Ersatz gesehen werden“, sagt Diana Bondermann. Sie ist Kardiologin an der Medizinischen Universität Wien und testet derzeit einen Algorithmus zur Diagnose von Ablagerungen an Gefäßwänden.

Tatsächlich lautet die wohl wichtigste und emotionalste Frage zumindest im westlichen Kulturkreis, ob KI bald Ärzte wird ersetzen können und dürfen. Das vehemente „Nein“, das hier bisher fast immer als Antwort kam, wandelt sich mittlerweile schon zu einem „Hie und da durchaus“. Der Medizintechnik-Ingenieur Walter Karlen von der ETH Zürich etwa sagt, solche Systeme hätten in Schwellenländern große Chancen, sich durchzusetzen „wo die nötige Infrastruktur gerade am Entstehen ist, aber wo die medizinischen Fachkräfte großflächig fehlen“.

Beim Blick in die entsprechenden Datenbanken für Fachliteratur scheint ein überproportionaler Anteil der neueren wissenschaftlichen Veröffentlichungen auch aus solchen Ländern zu kommen. Auf der letzten großen Konferenz zu „Data Mining“ in London seien weit über die Hälfte der Beiträge „von Autoren mit asiatisch aussehenden Namen und wohl auch von vielen Universitäten aus dem Raum“ gekommen, sagt Berthold.

Menschen- und Maschinenverstand

Ob über Therapien – und menschliche Schicksale – mitentscheidende KI-Kliniker wie der aus London bald auch in den etwas skeptischeren Gesellschaften wie der hiesigen als Silizium-Arzthelfer oder gar als Ärzte arbeiten werden, weiß heute niemand. Glaubt man Faisal und Gordon, könnte man ihnen jedenfalls grundsätzlich auch Einsätze bei anderen Krankheitsbildern zutrauen.

Was ihnen auf jeden Fall fehlt, ist gesunder Menschenverstand. Paul Allens Millionen werden daran in absehbarer Zeit auch nichts ändern. Auch die Angst, dass sie sich mit aus Menschensicht eher ungesundem Verstand verselbständigen und gegen ihre Schöpfer wenden, muss man zumindest bisher noch nicht haben. Etwas, das in Allens Autobiografie steht, scheint aber möglich. Dort schrieb er, er wolle „KI so voranbringen, dass Computer das tun, was sie am besten können – Informationen organisieren und analysieren“ – und damit Menschen bei dem helfen, was diese am besten können: "ihre Intuition nutzen und Ideen haben".

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