"Ostforschung": Wegbereiter des Vernichtungskrieges
„Gesunde Volksordnung“: Wie Historiker und Geografen im Nationalsozialismus den „Generalplan Ost“ entwickelten.
Es waren die seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre sogenannten Ostforscher, die aus der Ideologie vom „Lebensraum“ einen konkreten Plan zur Gewinnung von „Lebensraum im Osten“ gemacht haben. Zu ihnen zählten neben den Historiografen der mittelalterlichen „Ostkolonisation“ und Geografen auch Osteuropaforscher. Sie vertraten die These von der angeblichen kulturellen Überlegenheit der Deutschen über die slawischen „Ostvölker“.
In Abkehr von der Schule des Historismus ging es ihnen nicht um Staat und Nation, sondern um Raum und Volk , um „Lebensraum“ und „Rasse“. Schon daran wird der ideologische Charakter der gesamten „Ostforschung“ deutlich.
Der "Osten", hieß es, sei vom deutschen Volk geprägt
Ihr bevorzugtes Forschungsfeld war die „deutsche Ostkolonisation“ beziehungsweise „Ostbewegung“, zu der einige auch die germanische Völkerwanderung und die neuzeitliche Kolonisation rechneten. Sie entwickelten eine „Volks- und Kulturbodentheorie“, nach der der „Osten“ vom deutschen Volk und der deutschen Kultur geprägt worden sei. Diese Germanisierung des gesamten „Ostens“ war durch die Unbestimmtheit der zentralen Begriffe (deutsches) „Volk“ und (deutsche) „Kultur“ sehr leicht möglich. Zum „deutschen Volk“ wurden nämlich keineswegs nur die Angehörigen der deutschen „Staats“-, sondern auch der „Kulturnation“ insgesamt gerechnet, also alle Personen, die irgendwo und irgendwie Deutsch sprachen. Dies traf auf die sogenannten Volksdeutschen zu, die in einigen osteuropäischen Ländern als Minderheiten lebten.
Teilweise war dies jedoch nur auf kleinen „Sprachinseln“ der Fall. Dennoch wurde auch der sie umgebende Raum als deutsch angesehen, weil er von der „deutschen Kultur“ geprägt worden sei. Dies war absolut unwissenschaftlich. Doch weil die „Ostforscher“ interdisziplinär arbeiteten und Methoden anwandten, die der herkömmlichen Geschichtswissenschaft so nicht bekannt waren, wurden sie ernst genommen.
Bei Grenzziehungen sollten "rassische Fragen" berücksichtigt werden
Die „Ostforschung“ war eine dezidiert politische Wissenschaft. Dazu haben sich die meisten ihrer Repräsentanten auch bekannt. In der Weimarer Republik ging es vornehmlich um die historische Legitimation der Revision der durch den Versailler Vertrag gezogenen Ostgrenze Deutschlands. Zu diesem Zweck wurden neue Forschungsinstitutionen geschaffen. Zur wichtigsten sollte sich die 1932 beim Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem angesiedelte „Publikationsstelle“ entwickeln. Ihr politisches Ziel war keineswegs nur die Rückgewinnung der an Polen gefallenen ehemaligen preußischen Ostprovinzen, sondern die ideologische Begründung der deutschen Hegemonie im gesamten ostmitteleuropäischen Raum und darüber hinaus. Seine Gewinnung und Germanisierung wurden schließlich detailliert im „Generalplan Ost“ ausgeführt.
Dessen Grundgedanken sind in einem Brief zu finden, den der Leipziger Anthropologie-Professor Otto Reche am 19. September 1939 an den Historiker und Direktor der „Publikationsstelle Dahlem“, Albert Brackmann, schrieb. Reche entwickelte einige Gedanken über die Zukunft des zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht völlig besiegten Polen. Bei der künftigen Grenzziehung müsse die Kenntnis „rassischer Fragen“ berücksichtigt werden. In den zu annektierenden polnischen Territorien dürfe es kein „Volkstum“ geben, das nur im linguistischen Sinne germanisiert sei, tatsächlich jedoch ein „rassisches Mischmasch“ darstelle. „Wir Deutsche“, erklärte Reche, benötigen „Raum“, aber „keine polnischen Läuse im deutschen Pelz“.
Pläne zur Vertreibung großer Teile der polnischen Bevölkerung
Brackmann schlug Reche vor, ein Positionspapier zu erarbeiten. Der übersandte bereits am 24. September „Leitsätze zur bevölkerungspolitischen Sicherung des deutschen Ostens“, die Brackmann dem Reichsminister des Innern und auch „dem Führer“ überreichen sollte. In diesem Papier führte Reche seine Grundidee näher aus. Der zu annektierende „Raum“ solle ausschließlich dem „deutschen Volk“ zur Verfügung stehen. Neben den rund zwei Millionen Juden und „jüdischen Mischlingen“ sowie den „Zigeunern“, die alle so schnell wie möglich vertrieben werden müssten, sei auch an die Deportation großer Teile der polnischen Bevölkerung zu denken, weil es sich bei ihr um eine sehr „unglückliche Mischung“ aus „prä-slawischen“, „ostbaltischen“ und „ostischen Rassen“ handele.
Nur diejenigen Polen, die von ausgebildeten Rasseexperten als „rassisch wertvoll“ eingestuft worden seien, dürften bleiben. Alle anderen sollten in einem „Bevölkerungs-Transfer“ nach Osten gebracht und gegen die „Volksdeutschen“ in der Ukraine, an der Wolga, im Kaukasus und auf der Krim ausgetauscht werden.
Brackmann reichte Reches Memorandum zwar an das Reichsinnenministerium weiter, favorisierte jedoch intern ein anderes Papier, das noch im September 1939 von dem damals 31-jährigen Historiker Theodor Schieder verfasst worden war. Dessen Denkschrift über die „ostdeutsche Reichs- und Volkstumsgrenze“ stimmte weitgehend mit dem Reche-Papier überein. Wie dieser setzte sich auch Schieder für die Herstellung eines „geschlossenen deutschen Volksbodens“ ein.
Um die „Gefahren einer völkischen Vermischung“ zu vermeiden, sei eine „klare Abgrenzung von polnischem und deutschem Volkstum“ notwendig. Dies sei ohne „Bevölkerungsverschiebungen allergrößten Ausmaßes“ nicht möglich. Besonders vordringlich sei die „Entjudung Restpolens und der Aufbau einer gesunden Volksordnung“.
Rassistischer Grundgedanke des "Generalplans Ost"
Schieders Denkschrift wurde am 28. September von der Breslauer Arbeitsgruppe der Publikationsstelle Berlin-Dahlem diskutiert und geringfügig verändert. Unter dem harmlos klingenden Titel „Bevölkerungsfragen in Polen“ wurde es am 1. November 1939 an die zuständigen politischen Institutionen versandt, auch an das „Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums“. Eine der Planungsabteilungen dieses Reichskommissariats unter der Leitung des Agrarwissenschaftlers Konrad Meyer legte im Januar 1940 einen Entwurf vor, aus dem schließlich der „Generalplan Ost“ wurde.
Sein Grundgedanke beruhte auf Reches Diktum, wonach man nur „Raum“, aber keine Angehörigen „rassisch minderwertiger Ostvölker“ benötige. Meyer und seine Mitarbeiter rechneten mit der Umsiedlung von über 50 Millionen Menschen. Man ging davon aus, dass etwa 20 Millionen die „Umsiedlung“ nicht überleben würden und dürften. Dabei waren Juden schon gar nicht mehr mitgezählt.
In den „entjudeten“ und sonst wie entvölkerten Räumen im Osten sollten neben sechs Millionen Deutschen aus dem Reich, dem Baltikum, der Sowjetunion und Rumänien die Völker „artverwandten Blutes“ angesiedelt werden.
Der "wissenschaftlichste" Krieg der Weltgeschichte
All diese Pläne unterstreichen, dass die deutsche Okkupations- und Vernichtungspolitik von deutschen Wissenschaftlern fast aller Fachrichtungen bis ins Detail vorgeplant und „wissenschaftlich begleitet“ wurde. Der „Rassenkrieg“ des nationalsozialistischen „Rassenstaates“ war der vielleicht barbarischste, auf jeden Fall aber der „wissenschaftlichste“ Krieg der Weltgeschichte.
Der Autor ist Historiker in Berlin. Sein Artikel basiert auf einem Aufsatz im soeben im Metropol Verlag erschienenen Sammelband „Der deutsche Krieg um ,Lebensraum im Osten’ 1939–1945. Ereignisse und Erinnerungen“ (herausgegeben von Peter Jahn, Florian Wieler und Daniel Ziemer; 195 Seiten, 19 Euro). Der Band wird am Montag, 4. September, um 19 Uhr bei Kontakte-Kontakty e.V. in der Feurigstraße 68, 10827 Berlin, vorgestellt.
Einen Bericht über die Pläne einer Berliner Initiative für einen zentralen Erinnerungsort an die Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges in Polen und der Sowjetunion finden Sie hier.
Wolfgang Wippermann