Umfrage beim Lehrerkongress in Berlin: Was Lehrer aus Europa und der Welt umtreibt
Ständige Reformen, Einzelkämpfertum, zu volle oder zu leere Lehrpläne und schwache Schüler – wir haben beim internationalen Lehrerkongress in Berlin mit Teilnehmern gesprochen.
Wie sehen Lehrkräfte im Ausland ihren Beruf, vor welchen Herausforderungen stehen Lehrerinnen und Lehrer? Wir haben einige der 400 Schulexperten aus 23 Staaten befragt, die am „International Summit on the Teaching Profession 2016 (ISTP)“ in Berlin teilnehmen. Im Berliner Congress Center (bcc) am Alexanderplatz geht es zwei Tage lang um das Thema „Professionalisierung von Lehrkräften: Voraussetzungen für gute Unterrichtsqualität und beste Lernergebnisse“. Der Kongress wird gemeinsam von der OECD, Education International (Internationale Dachorganisation der Bildungsgewerkschaften) und dem jeweiligen ausrichtenden Land (2011 und 2012 USA, 2013 Niederlande, 2014 Neuseeland, 2015 Kanada) veranstaltet.
Karuna Skariah, 48, unterrichtet Naturwissenschaften an einer Grundschule in Maryland, USA. Sie ist Bildungskoordinatorin ihrer Schule
Zu mir kommen in meiner Funktion als Koordinatorin manchmal aufgebrachte, frustrierte Kollegen, die sagen, ein bestimmter Schüler könne überhaupt nichts. Ich frage dann immer: Wirklich nichts? Dann fordere ich sie auf, erst einmal alles aufzuzählen, was dieser Schüler eben doch kann – sozial, emotional, fachlich. Vielleicht bringt er seine Mitschüler zum Lachen, vielleicht ist er ein toller Geschichtenerzähler? Das sind dann genau die Stärken, an denen die frustrierte Lehrkraft wieder ansetzen kann, um den Schüler zu fördern – vor allem, indem sie selbst wieder an ihn glaubt.
An dieser Geschichte sieht man auch, was wir auf der Systemebene leisten müssen: Jedes Kind bringt seine eigenen Fähigkeiten, seine eigene Geschichte und seine spezifische Motivation mit. Da muss man es abholen. Das kommt im Klassenverband oft zu kurz.
Internationaler Dialog ist wichtig, um zu verstehen, welche Infrastruktur wir für individuelle Förderung brauchen. An meiner Schule leite ich zum Beispiel ein Programm für hochbegabte Kinder. Sie werden zu viel glücklicheren Menschen, wenn man ihre Bedürfnisse früh erkennt.
Ein Chemie-Lehrer aus Frankreich
Marc Montangero, 41, unterrichtet Chemie an einer Sekundarschule in Morge bei Lausanne, Schweiz
Lehrer sind zu oft Einzelkämpfer: Sie stehen alleine vor der Klasse und bereiten zum Hause im stillen Kämmerlein ihre Stunden vor. Das muss sich ändern. Wenn Lehrer zusammenarbeiten, können sie viel mehr bewegen. Warum treffen wir uns nicht einmal in der Woche für zwei Stunden und tauschen uns darüber aus, welche Unterrichtsmethoden gut und welche schlecht geklappt haben? Warum helfen wir uns nicht gegenseitig im Umgang mit schwierigen Schülern? Wir könnten jüngeren Kollegen Rat geben, ältere auf den neuesten Stand bringen oder Unterrichtseinheiten zusammen planen.
Ich glaube, dass diese Formen der Kooperation viel Zeit sparen. Und dass sie nicht nur die Atmosphäre im Kollegium, sondern besonders den Unterricht voranbringen. Dafür müssen wir aufhören, unsere Lehre und unsere Vorbereitung verschämt als Privatsache zu betrachten. Wir brauchen eine Kultur der Offenheit, in der konstruktiv Feedback geäußert werden kann. Ich persönlich habe schon damit angefangen: In dem Netzwerk „Science on Stage“ tausche ich mich mit Naturwissenschafts-Lehrern aus ganz Europa aus.
Die Bildungsministerin aus Neuseeland
Hekia Parata, 57, Neuseeländische Bildungsministerin
Der Beruf des Lehrers ist einer der wichtigsten und einflussreichsten in der Gesellschaft. Wenn Lehrer guten Unterricht machen, können auch Kinder aus sozioökonomisch schlechter gestellten Familien erfolgreich sein – davon bin ich überzeugt.
In Neuseeland konzentrieren wir uns deswegen im Moment darauf, die Unterrichtsqualität zu verbessern. In neu gegründeten Netzwerken tauschen sich die Schulen darüber aus, wie sie die Lernleistungen ihrer Schüler steigern können und entwickeln eigene Konzepte dazu. Für deren Durchführung erhalten sie zusätzliche Gelder. Sehr gute Lehrer können damit zum Beispiel Gehaltserhöhungen bekommen, ohne in Führungspositionen zu wechseln – so bleiben sie den Schülern erhalten.
Das ist auch wichtig, damit der Beruf des Lehrers attraktiv bleibt und damit wir die bestqualifizierten Absolventen für das Lehramtsstudium gewinnen. Mich interessiert auf der Konferenz, mit welchen Maßnahmen andere Länder die Unterrichtsqualität steigern. Zu eng gefasste Lehrpläne sind für mich aber keine Option: Lehrer sollten Freiräume haben, um flexibel auf die Bedürfnisse ihrer Schüler reagieren zu können.
Eine Sekundarschullehrerin aus den Niederlanden
Sultan Göksen, 27, unterrichtet Wirtschaftslehre an einer Sekundarschule in Amsterdam, Niederlande. Daneben lehrt sie Methodik für Lehramtsstudierende an der „Hogeschool van Amsterdam“
In vielen Ländern klagen Lehrer über volle Lehrpläne. In den Niederlanden haben wir das gegenteilige Problem: Nach einer Reform gibt es nur noch recht offene Richtlinien für den Unterrichtsstoff – die muss jede Schule selbst mit Leben und Konzepten füllen. Der Vorteil davon ist, dass die Lehrer plötzlich gezwungen sind, zusammenzuarbeiten. Der Nachteil ist, dass ältere Lehrer oft nicht wissen, wie sie die vagen Vorgaben konkret umsetzen können, weil ihnen das in ihrer Studienzeit nicht vermittelt wurde. Langsam werden für sie aber Workshops angeboten, in denen sie das lernen.
Auf der Konferenz möchte ich mich darüber austauschen, wie schwächere Schüler besser gefördert werden können. In den Niederlanden haben wir schon eine sehr gute Bestenförderung: Die Talentiertesten aus einer Klasse bekommen zusätzliche Stunden in ihren besten Fächern, zum Beispiel intensiven Musik- oder Kunstunterricht in Kleingruppen. Ich fände es sinnvoll, ähnliche Programme für die Schwächsten zu entwickeln. Länder wie Finnland oder Kanada könnten für uns in diesem Bereich Vorbild sein. Ich denke, das gilt auch für Deutschland.
Ein Physik-Lehrer aus Frankreich
Jean-Luc Richter, 47, unterrichtet Physik und Chemie an einer Sekundarschule in Marckolsheim, Frankreich
Ich habe den Eindruck, dass in Frankreich jeder neue Minister seinen Fußabdruck im Bildungssystem hinterlassen will. Deswegen gibt es oft neue, unausgegorene Reformen. Zum Beispiel werden überlastete Lehrpläne entwickelt, die sich in der Praxis kaum umsetzen lassen. Von oben nach unten wird dann bestimmt, wie unser Unterricht zu sein hat. So wird vergessen, was wir wirklich brauchen: Kleinere Klassen, genug Zeit für die Unterrichtsvorbereitung und Luft im Lehrplan, um individuell auf Schüler eingehen zu können.
Um zu wissen, was der Schule guttut, sollten Politiker deswegen mehr mit uns kommunizieren. Lehrer sollten als die wahren Schulexperten in Entscheidungsgremien vertreten sein, wenn es um wichtige Reformen geht. Aber auch an den Schulen wünsche ich mir mehr demokratische Entscheidungskultur. Schulleiter sollten eher Koordinatoren sein als als Schul-Chefs. Für die Schüler wären selbstverwaltete Kollegien ein gutes Vorbild. Wenn man sie zu demokratischen Staatsbürgern erziehen will, sollte man ihnen gerade in der Schule keine autoritären Strukturen vorleben.
- Aufgezeichnet von Luisa Hommerich.
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