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Die Bibliothek - auch ein beliebter Ort zum Prokrastinieren (hier das Grimm-Zentrum der HU).
© Kitty Kleist-Heinrich

Wahnsinn und Selbstgespräche: Was gegen Prokrastinieren wirklich hilft

Bachelorarbeit schreiben, für Klausuren lernen? Die Uhr tickt, es könnte zur Katastrophe kommen. Geschichten vom Prokrastinieren – und wie man es überwindet.

Dass man auch aktiv prokrastinieren kann, vorzugsweise durch Putzen, ist bekannt. Dann glänzt die Wohnung, aber bei der Hausarbeit steht nur die Überschrift. Bei mir lag am Ende einer Hausarbeit im Fach „International Relations“ eine 300 Euro teure GPS-Laufuhr im Regal, dafür war die Note an meiner Universität in Aarhus im Bereich einer deutschen Drei.

Das kam so: Ich war schon lange vor Ankündigung der Prüfungszeit für einen Trail-Halbmarathon in den Wäldern Jütlands angemeldet gewesen. Zwei Tage, zwei Etappen, Camping im Wald. Das Problem: Am Freitagmittag um 12 Uhr bekamen wir unsere Prüfungsfrage. Es ging um die kurz zuvor erfolgte Annexion der Krim durch Russland, unter machtpolitischen Aspekten sollten wir sie auf 15 Seiten analysieren. Das Fach war mein unbeliebtestes in dem Semester, außerdem war mir Sport sehr wichtig, also fuhr ich am Wochenende trotzdem in den Wald – und gewann die Frauenwertung.

Meine Kommilitonen begrüßten mich am Montag danach mit Applaus, die Woche aber wurde zur Stresshölle. Nach einigen halb durchcampten Nächten in der Unibibliothek gab ich am Freitagmittag die Hausarbeit ab und bekam eine misslaunige Bewertung meines Professors.

Für meine Noten hat sich übrigens nie wieder jemand interessiert, die Uhr habe ich heute noch.

Nantke Garrelts - die Autorin studierte im Master von 2013 bis 2015 International Studies an der Universität Aarhus.

Ein Horrortrip, der süchtig macht

Sommer 1992. Nach einem späten und ausgiebigen Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Slavistik und der Politikwissenschaft an der Freien Universität beschließe ich, mit 32 wirklich fertig zu werden. Genug prokrastiniert. Das Thema für die Magisterarbeit steht, ich will die 1921 bis 1923 erschienene Literaturbeilage einer sowjetisch-russischen Zeitung für die Exilanten in Berlin untersuchen. Die Zeitungen gibt es in der Staatsbibliothek auf Mikrofilm. Mehr brauche ich nicht, um die Arbeit an der FU umgehend anzumelden.

Die Uhr läuft – fünf Monate bis zur Abgabe. Dass alle Kommiliton*innen vor der Anmeldung schon monatelang recherchiert haben, ficht mich nicht an. Am ersten Tag in der „Stabi“ stelle ich fest: Auf den Berliner Mikrofilmen sind nur Bruchstücke der Zeitungen. Drei Wochen später weiß ich: In der Lenin-Bibliothek in Moskau liegt die eine Hälfte der Bände, in der Prager Nationalbibliothek die andere. Nur noch vier Monate!

Die Reisen nach Moskau und Prag sind enorm ertragreich, zum ersten Mal im Studium fühle ich mich als Forscherin. Ich versinke in den alten Zeitungsbänden, die vor mir niemand ausgeliehen hatte. Zum Schreiben der Arbeit bleiben mir am Ende sechs Wochen. Eine davon sitze ich auf meinem Sofa und starre auf meinen Computer. Ein Horrortrip, der mich süchtig macht. Für die Dissertation über alle Literaturbeilagen und literarischen Kreise des russischen Exils in Berlin brauche ich brutto fünf Jahre. Die bis dahin besten Jahre meines Lebens. Amory Burchard - die Autorin studierte von 1986 bis 1993 Slavistik an der Freien Universität Berlin, Promotion 1993 bis 1998.

Videospiele statt Poststrukturalismus

Alternative Videospiel - dumm, wenn für die Bachelorarbeit dann nur noch drei Stunden am Tag bleiben.
Alternative Videospiel - dumm, wenn für die Bachelorarbeit dann nur noch drei Stunden am Tag bleiben.
© Lionel BONAVENTURE / AFP

Wahnsinn und Selbstgespräche. So sollte das Thema meiner Bachelorarbeit lauten. Dass sich diese lächerlichen 30 Seiten zu einer persönlichen Katastrophe entwickeln würden, wirkt im Nachhinein relativ vorhersehbar. Statt der französischen Poststrukturalisten wurden schnell Videospiele zu meinem täglichen Begleiter. Wie sollte ich schreiben, wenn ich die Welt retten musste.

Und je mehr das schlechte Gewissen drängte, desto megalomanischer wurden meine Projekte. Irgendwann war ich parallel Direktor eines Hochsicherheitsgefängnisses, größter Zugunternehmer der Vereinigten Staaten und errichtete im Baukastenspiel Minecraft monumentale Eichenbäume, in denen ganze Städte Platz hatten. Für meinen Nebenjob Studium war dann nur noch von drei bis fünf Uhr morgens Zeit.

Markus Lücker - der Autor studierte von 2009 bis 2014 Theaterwissenschaften an der Freien Universität Berlin.

Der Basedrum kickt, die Bibliothek nicht

Wenn die Gedanken schwirren.
Wenn die Gedanken schwirren.
© Getty Images/iStockphoto

Sobald sich die ersten Klausuren ankündigen, sitzen meine Kommilitonen jeden Tag in der Bibliothek und zählen ihre gelernten Stunden. Beim gemeinsamen Mensen wird verglichen, wer mehr hat. Ich, der aufschiebende Student, kann da nicht mithalten – und lerne schon aus Trotz nicht weiter. Lieber zähle ich Minuten als Stunden. Effektives, kurzes Lernen liegt mir mehr als wochenlange Vorbereitung, wo man das Gefühl nicht los wird, nur des Lernens halber zu lernen, zumal die Hälfte des Stoffes ohnehin nicht drankommt. Und das Wichtigste ist und bleibt das Bestehen.

Dennoch: Die Uhr tickt, und ich ahne schon, dass es in einer Katastrophe enden wird. Sozialstruktur und Diversität ist das Thema, um das es dieses Mal geht: ein weites Feld. Durch das vorangegangene Fernbleiben in den Vorlesungen wird es nicht kleiner. Die Abfrage als Multiple-Choice-Klausur macht es nahezu unmöglich, sich auf einen Themenschwerpunkt zu fokussieren. Und so mache ich es mir in meinem Bürostuhl gemütlich, stelle mich und mein Studium infrage und produziere lieber in der Zeit einen Techno-Track. Dieser gelingt ganz gut, die Basedrum kickt ordentlich – Sozialstruktur erschließt sich mir danach immer noch nicht.

Ich bestehe die Klausur mit einer 4,0. Nachahmen sollte man das nicht. Aber was soll ich sagen: Techno bildet. Paul Gäbler - der Autor studiert Sozialwissenschaften an der Humboldt-Uni.

Fatale Verschiebeviren zu Hause

Essen ist die allerschlimmste und gefährlichste Art, sich um den Arbeitsbeginn herumzudrücken. Das weiß man aber, und offensichtlichen Gefahren kann man aus dem Wege gehen. Früher kam noch das Rauchen hinzu, das darf man heute kaum noch erwähnen. Man könnte gedankenlos aus dem Fenster starren, aber auch dabei ertappt man sich bald.

Wahrhaft vernichtend sind die subtilen Varianten, die zielführend wirken, aber nur auf den allerersten Blick, und tatsächlich Zeit vergeuden mit vollen Händen. Schwere Fälle von Verschieberitis-Patienten reden sich dann ein, sie bräuchten noch mehr Inspiration oder bessere Quellen oder Quergedanken.

Man nimmt erst mal dieses Buch in die Hand, dann jenes, man liest sich fest für eine halbe Stunde, blickt dann hoch, so- dass der Blick an einem ebenfalls interessant wirkenden Titel haften bleibt. Vielleicht doch noch mal in das Buch hineingeschaut. Schlimm genug, wenn einen die Verschiebeviren zu Hause ereilen.

Fatal, wenn es in einer Bibliothek passiert, wo man mit den Titeln nicht so vertraut ist und plötzlich Verführung neben Verführung auftaucht wie aus dem Nichts. Ohne, dass man sich's versieht, ist es dann schon wieder Zeit fürs Mittagessen. Und den Kaffee danach. Und das lang aufgeschobene Telefonat, das auch nicht aufgehoben sein sollte …

Elisabeth Binder - die Autorin studierte Publizistik, Anglistik und Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Schöner Prokrastinieren mit Loriot

Figur von Loriot - inspiriert sicher (hier als Postkarte von Inkognito).
Figur von Loriot - inspiriert sicher (hier als Postkarte von Inkognito).
© Doris Spiekermann-Klaas

Prokrastinieren? Seit ich mal ein Interview mit Loriot gesehen habe, weiß ich, dass es das gar nicht gibt, denn dem Wortkünstler und Humoristen zufolge arbeitet der kreative Geist auch schon in der Aufschiebe-Phase. So antwortete Bernhard-Viktor-Christoph-Carl von Bülow – jedenfalls in meiner Erinnerung – in irgendeiner 80er- oder 90er-Jahre-Talkshow auf die Frage, wie er seine Sketche und Dialoge schreibe und zum Termin fertig bekomme.

Anfangs, wenn die Deadline noch lange in der Zukunft liege, sei er noch ganz entspannt, die Aufgabe tauche zunächst in die Tiefen des Unterbewusstseins ab, bringe sich dann aber doch mitunter zwischen all den anderen, dringenderen Tätigkeiten, etwa dem Aufräumen des Schreibtisches, mit einer gewissen unangenehmen Penetranz in Erinnerung.

Dann komme die Phase, wo sich langsam ein schlechtes Gewissen einstellt, sich dem Projekt jetzt mal widmen zu müssen, und eventuell setzt man sich hin und entwirft das eine oder andere, um es dann mit der Ausrede zu verwerfen, dass man nicht in der Stimmung sei oder die Konzentration fehle, weil man gerade jetzt Besseres, Dringenderes zu tun habe.

Nach weiteren zwei, drei Wochen sei dann allerdings der Punkt gekommen, wo Loriot genau wisse oder spüre, dass die Zeit so knapp ist, dass der Auftrag auf keinen Fall mehr zu schaffen ist, wenn man nicht sofort damit anfängt. Es brauche diesen Zeitdruck, um aus den Tausenden von Möglichkeiten, wie ein Text formuliert oder eine Zeichnung aussehen könnte, die eine passende herauszuschälen.

Aber mindestens ebenso wichtig sei die lange Phase des mehr oder weniger bewussten, aber eher noch entspannten Schwangergehens mit einer oder vielen verschiedenen Ideen – von den gemeinen Mitmenschen gemeinhin Prokrastinieren genannt.

Aber vielleicht hat das Loriot so auch nie gesagt und mein Gedächtnis hat diese Geschichte nur so zurechterinnert, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, wenn ich mit einem Text mal wieder sehr spät dran bin ...

Sascha Karberg - der Autor studierte von 1990 bis 2000 Biologie und Wissenschaftsjournalismus an der Freien Universität Berlin.

Nantke Garrelts, Amory Burchard, Markus Lücker, Elisabeth Binder, Sascha Karberg, Paul Gäbler

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