Soziale Autopsie einer Katastrophe: Was einer Hitzewelle tödliche Wucht verleiht
Es war windstill und schwül – und so stieg die gefühlte Temperatur auf mehr als 50 Grad. Nach einer Woche waren 700 Menschen tot, vor allem in benachteiligten Stadtteilen Chicagos. Was man daraus lernen kann.
Auf über 40 Grad stieg die Temperatur am 13. Juli 1995 in Chicago. Zwei Tage später parkten vor dem städtischen Leichenschauhaus neun klimatisierte Trucks. Normalerweise kühlten die Fahrzeuge Lebensmittel. Nun sollten sie jene Toten aufnehmen, für die in der Leichenhalle kein Platz mehr war. Die Rechtsmediziner kamen mit dem Ausstellen der Totenscheine kaum nach. Ihre Obduktionen zeigten: Bei vielen Verstorbenen hatte die Hitze chronische Leiden verschlimmert oder zu Austrocknung, hohem Fieber, Ohnmacht, Organschäden und schließlich zum Tod geführt.
Als die Temperaturen nach einer endlos erscheinenden Woche fielen, waren in Chicago mehr als 700 Hitzetote zu beklagen. Politiker, Mediziner, Journalisten und Bürger suchten nach Erklärungen für die außergewöhnlich hohe Sterblichkeit. Einige wollten den Zahlen nicht recht trauen. Schließlich war man am Lake Michigan glühend heiße Sommer gewöhnt.
Was ist passiert in jenen Julitagen? Fest steht, dass hohe Luftfeuchtigkeit und Windstille dafür sorgten, dass sich untertags die Außentemperaturen wie 50 Grad und mehr anfühlten. Rettungsdienste und Notaufnahmen waren durch tausende zusätzliche Patienten überlastet. Auf der Suche nach Abkühlung öffneten Verzweifelte mehr als 3000 Hydranten, stellenweise brach die Wasserversorgung zusammen. Auch während der Nacht blieb die ersehnte Abkühlung aus. In dicht bebauten Bezirken hatten sich durch Beton, Stahl und Asphalt veritable Hitzeinseln gebildet. Eisenbahnschienen und Straßenbeläge verformten sich.
Viele Hitzeopfer starben allein, verbarrikadiert in kleinen stickigen Apartments
Eine enorme Herausforderung für die Einwohner von Chicago, besonders für Alte, chronisch Kranke und Kleinkinder. Dennoch hätten viele Todesfälle verhindert werden können, sagt Eric Klinenberg. Der Soziologe von der New York University hat die Hitzewelle analysiert. Er wollte herausfinden, wie es zu „einer der größten, aber nur wenig bekannten Katastrophen in der Geschichte des modernen Amerika“ kam. Sein Fazit: Soziale Benachteiligung in Kombination mit hohen Temperaturen kann tödlich sein. Denn obwohl sich die feuchte Hitze samt Luftverschmutzung gleichmäßig über Chicago gelegt hatte, war sie in bestimmten Vierteln besonders häufig folgenschwer. Am höchsten war die Sterblichkeit in – einigen, nicht allen! – Stadtteilen, wo fast nur arme Afroamerikaner lebten.
Zum Beispiel in Englewood. Wer es sich leisten konnte, war längst von dort weggezogen. Und die, die bleiben mussten, verließen ihre Wohnungen ungern, insbesondere die Älteren. Wo hätten sie hingehen sollen? Es gab kaum Geschäfte und öffentliche Einrichtungen, dafür umso mehr verfallende Gebäude, Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Alleinstehende gebrechliche Menschen konnten in diesem Umfeld nur schwer Kontakt zu Familien und Freunden halten. So starben viele Hitzeopfer allein, verbarrikadiert in kleinen stickigen Apartments. Manche wurden erst nach Tagen gefunden.
Doch nicht alle älteren Afroamerikaner aus Problemvierteln waren gleichermaßen gefährdet, schreibt Klinenberg in seiner „sozialen Autopsie“ der Chicagoer Hitzewelle. Auch im Stadtteil Auburn Gresham, der direkt an Englewood angrenzt, war eine Klimaanlage für viele unerschwinglich. Dennoch war es hier zehn Mal weniger wahrscheinlich zu sterben als in Englewood. Der entscheidende Unterschied sei die Infrastruktur des Viertels, meint Klinenberg. Belebte Straßen mit Tante-Emma-Läden, Betrieben und Imbisslokalen lockten die älteren Menschen aus ihren Sozialwohnungen. Die Nachbarschaftsnetzwerke erhöhten die Widerstandskraft während der Krise.
In Europa kann das nicht passieren? Oh doch!
Gut 7000 Kilometer liegen zwischen Chicago und Berlin. Die Katastrophe, die sich vor 20 Jahren in der drittgrößten Stadt der USA ereignete, erscheint weit entfernt. In Europa könnte eine Hitzewelle nicht derart gefährlich werden, oder? „Durchaus! Es ist bereits passiert“, hält Eric Klinenberg dagegen. Im europäischen Jahrhundertsommer 2003 starben je nach Schätzung 35 000 bis 70 000 Menschen durch die Hitze. Besonders betroffen war Frankreich, mehrere tausende Opfer gab es in Deutschland.
Nein, in Sicherheit wiegen könne man sich nicht, sagt auch Andreas Matzarakis. Er leitet die Abteilung für Medizin-Meteorologie vom Deutschen Wetterdienst. „Immer mehr Menschen leben in Städten. Hier sind Hitzewellen bedrohlicher als auf dem Land.“ Nachts kühle es oft nicht richtig ab – dabei sei dies wichtig für die Gesundheit. „Wir müssen uns auf häufigere, heißere und und längere Hitzewellen vorbereiten, zum Beispiel durch intelligente Stadtplanung und hitzetaugliche Architektur“, sagt Matzarakis. Er plädiert für mehr Wasser- und Grünflächen mit großen Bäumen als Schattenspender. In manchen deutschen Städten, beispielsweise Freiburg, sei es möglich, natürliche Windströmungen geschickt zu nutzen.
Nicht jede Hitzewelle erhöhe die Anzahl der Krankheits- und Sterbefälle drastisch, sagt der Meteorologe. „Stadtbewohner passen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten an.“ Dazu gehört, ausreichend zu trinken, die pralle Sonne zu meiden und Sport auf die kühleren Morgen- und Abendstunden zu verschieben. Ein Hilfsmittel sind die Hitzewarnungen des Deutschen Wetterdiensts. Sie basieren auf Modellberechnungen und berücksichtigen Lufttemperatur, Feuchtigkeit, Windverhältnisse und Strahlung. Die Warnungen werden auf diversen Kanälen verbreitet, zum Beispiel via Wetter-App. „Ich wünsche mir, dass wir speziell Gefährdete noch besser erreichen“, sagt Matzarakis.
Alte und Kranke sind besonders gefährdet
Zu den besonders Schutzbedürftigen gehören „Personen mit amputierten Gliedmaßen, bettlägerige und querschnittsgelähmte Menschen. Bei ihnen funktioniert der körpereigene Kühlmechanismus nur eingeschränkt“, sagt Katharina Gabriel. Die Geografin und Epidemiologin hat hitzebedingte Todesfälle in Berlin und Brandenburg für die Jahre 1990 bis 2006 ausgewertet. In beiden Bundesländern fordern Hitzewellen Todesopfer. In der Hauptstadt ist die Hitze allerdings riskanter. „Die größte Gruppe der Gefährdeten sind Senioren. Mit zunehmendem Alter lässt die Schweißproduktion nach, oft liegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor“, berichtet die Forscherin aus ihrer an der Humboldt-Universität verfassten Dissertation.
Nicht jeder kann seinen Tagesablauf an die Hitze anpassen
Dass in den Berliner Außenbezirken Steglitz-Zehlendorf, Reinickendorf und Treptow-Köpenick schon jeder Vierte über 65 ist, erweist sich während extremer Sommer als glücklicher Umstand. „Am Stadtrand gibt es mehr Wald und größere Wasserflächen. Die Häuser stehen häufig einzeln“, sagt Gabriel. Diese Schutzfaktoren finden sich zum Beispiel in Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte kaum, wo nur mehr zehn bis 13 Prozent der Einwohner über 65 sind.
Aber auch für Jüngere kann die urbane Hitze belastend sein, sagt sie – vor allem, wenn es nicht möglich ist, den Tagesablauf zu ändern. „Viele haben gar keine Wahl. Sie müssen ihren beruflichen und familiären Verpflichtungen nachkommen, etwa alleinerziehende Elternteile“, sagt Katharina Gabriel, die mittlerweile am Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen arbeitet.
Migranten besser über die Risiken informieren
An die Substanz geht die körperlich anstrengende Arbeit auf Baustellen, in der Gastronomie und als Reinigungskraft. Diese Tätigkeiten im Niedriglohnsektor übernehmen häufig Migranten, die sich nicht einmal nach Feierabend erholen können. „Sie leben zum Beispiel in kleineren Wohnungen mit mäßiger Dämmung. In den für sie erschwinglichen Wohngegenden gibt es oft eine hohe Belastung durch Lärm und Luftschadstoffe. Grünanlagen und Parks wiederum sind schlechter erreichbar“, sagt Ruth Kutalek. Die Medizin-Anthropologin von der Medizinischen Universität Wien erforscht, was urbane Migranten bei Hitze schwächt – und stärkt. „In Europa gibt es dazu kaum wissenschaftliche Untersuchungen und zu wenig politisches Interesse. Sogar den Betroffenen selbst ist ihr erhöhtes Risiko meistens nicht bewusst“, sagt Kutalek.
Dies will sie im 2014 gestarteten Projekt EthniCityHeat gemeinsam mit Soziologen, Umweltmedizinern und Landschaftsplanern ändern. Zu den Zielen des Projekts, gefördert vom österreichischen Klima- und Energiefonds, gehören nicht nur Empfehlungen für die Stadtgestaltung. Die Forscher wollen Werkzeuge erarbeiten, die die Aufklärung erleichtern, sagt Ruth Kutalek. „Damit möchten wir jene Migranten erreichen, die bisher aufgrund von Sprachbarrieren und geringer Bildung keinen guten Zugang zu Information hatten. Durch mehr Wissen können sie sich hoffentlich besser schützen.“
Cooling Centers, Gemeinschaftsgärten und Hausbesuche
Die Bewohner des Chicagoer Stadtteils Englewood, die während der Hitzewelle 1995 besonders betroffen waren, versuchten selbst ihre Situation zu verändern. Auf den Brachen legten sie Gemeinschaftsgärten an. Das Grün liefert nicht nur Gemüse, Früchte und Schatten. Die gemeinsame Gartenarbeit stärkt auch den Zusammenhalt unter den Nachbarn. Die Behörden haben nach dem Desaster rasch einen besseren Notfallplan entwickelt. Sie werben für klimatisierte „Cooling Centers“, die Zuflucht vor Hitze bieten und kostenlos sind. „Die Medien warnen die Bevölkerung. Alle sind aufgefordert, auf Gefährdete zu achten. Mitarbeiter der Stadt rufen bei alten alleinstehenden Personen an oder machen Hausbesuche. Das hilft“, sagt Klinenberg.
Die Stadt pflanzt gezielt Bäume, experimentiert mit reflektierenden Dächern und speziellem Asphalt. Doch die der Katastrophe zugrunde liegenden Probleme bestünden nach wie vor, kritisiert der gebürtige Chicagoer Klinenberg. Das Stromnetz ist veraltet und schnell überlastet. Es würde wohl versagen‚ wenn die Menschen es für die Kühlung ihrer Wohnungen am meisten brauchen. Die Stadt habe nichts gegen die bittere Armut getan, gegen die Abwanderung und was damit einhergeht: Einsamkeit, Angst und Kriminalität. „Nach wie vor sind ältere Afroamerikaner am meisten gefährdet.“ Und Chicago ist kein Einzelfall. „Ich glaube, keine amerikanische Stadt ist auf die unerbittliche Hitze vorbereitet, die der Klimawandel mit sich bringen wird“, sagt der Soziologe. Auch europäische Städte, die sich gerade erst zu wappnen beginnen, sind keineswegs immun.
Julia Harlfinger