Zukunft der Medizin: Was die digitale Revolution der Heilkunde bringt
Daten auf Sinnsuche: Beim Kongress „Future Medicine“ diskutieren Forscher in Berlin über die digitale Zukunft der Heilkunde.
Die digitale Revolution hat auch die Medizin erfasst. „Die größte Herausforderung für die moderne Heilkunde ist die Interpretation enormer Datenmengen, um den Patienten und der Gesellschaft zu nutzen“, umriss Morris Hosseini von der Beraterfirma Roland Berger das Problem. Hosseini war einer der Redner beim „Future Medicine“-Kongress, den der Tagesspiegel gemeinsam mit dem Berlin Institute of Health (BIH) im Rahmen der Berlin Science Week organisiert hatte.
Die Daten des Menschen, das sind sechs Milliarden DNS-Basenbausteine pro Körperzelle, 20 000 verschiedene Eiweiße (Proteine), bis zu 100 Billionen Zellen, 50 Organe – und all das vereint in einem Individuum (in und auf dem noch dazu unzählige Mikroorganismen leben). Es geht darum, die wichtigen Informationen herauszufiltern und aus ihnen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die „digitale Umwandlung“ des Gesundheitswesens steht aus Hosseinis Sicht noch bevor. Und zu verdienen gibt es auch etwas: „2015 wurden in der digitalen Gesundheitsbranche rund 80 Milliarden Dollar umgesetzt, 2020 werden es 200 Milliarden sein“, prophezeite er. „Das entspricht den Ausgaben des britischen Gesundheitsdienstes.“
Um die Frage, wie aus der Unmenge der Daten sinnvolle und heilsame Information gewonnen werden können, kreisten viele der rund 90 Vorträge bei dem Kongress am Montag. „Die Regeln für die Redner hier sind strenger als im Bundestag“, sagte Helge Braun, Staatsminister bei der Bundeskanzlerin, bei der Begrüßung. Tatsächlich gab es wenig Pardon. Von einigen Keynotes abgesehen, hatte jeder der jungen Forscher drei Minuten. Eine digitale Uhr zählte herunter: Nach zweieinhalb Minuten ertönte ein Räuspern, waren die drei Minuten überschritten, kam ein Rettungssanitäter in voller Montur auf die Bühne. Die meisten mussten nicht verarztet werden. Ein kräftiger Adrenalinschub half ihnen, in der Zeit zu bleiben. Das Publikum aus Forschern und Ärzten, aus Mitarbeitern von Start-ups und großen Firmen, das sich in den Bolle-Sälen versammelt hatte, erwartete ein kurzweiliger Vortragsmarathon.
Zwei Meter DNS, im Zellkern zusammengeknäuelt
Zwei Meter lang ist der DNS-Faden, den die Forscher entschlüsseln. „Bisher haben wir ihn uns meist als gerade Linie vorgestellt“, sagte Daniel Ibrahim vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin. Die Wirklichkeit sei komplexer. Der Faden sei im Zellkern als dichtes Knäuel gepackt, alles habe seinen Platz. Scheinbar weit voneinander entfernte Gene können direkte Nachbarn sein und sich gegenseitig beeinflussen. Zusätzlich verändere jeder Strukturunterschied wie zum Beispiel eine Verdopplung eines Gens gleichzeitig die 3D-Architektur des Erbgutfadens. „Bei vielen Krankheiten läuft dadurch die Regulation der Gene schief“, sagte Ibrahim.
„Es gibt eine Lücke zwischen dem, was bei der Entzifferung des Erbguts versprochen wurde und dem heutigen Stand“, sagte Roland Schwarz vom Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin. Das gelte nicht zuletzt für Krebs. Tumoren unterscheiden sich nicht nur von Patient zu Patient. Vielmehr durchlaufen die entarteten Zellen eine Evolution im Schnelldurchlauf – und sie geht weiter, wenn sich Metastasen bilden. „Das Ergebnis ist große Heterogenität“, sagte Schwarz. Der Bioinformatiker arbeitet daran, den „Stammbaum“ von Krebsgeschwülsten einzelner Patienten zu rekonstruieren.
Manchmal könne die Therapie bereits präziser werden, wenn ein Arzt die geographische Herkunft seines Patienten erfragen würde, sagte Eimear Kenny von der Icahn School of Medicine in New York. „Menschen aus Ostasien können zum Beispiel den Blutverdünner Clopidogrel nicht so umwandeln. Also schützt der Wirkstoff sie auch nicht vor Herzkrankheiten oder einem Schlaganfall.“ Unter Iren gibt es dagegen auffallend häufig Hämochromatose, ein Leiden, bei dem der Körper zu viel Eisen speichert. „Biogeographische“ Unterschiede sollten bei der Entwicklung von Medikamenten und in der Klinik mithilfe kostengünstiger Begleittests berücksichtigt werden.
Patientendaten verschwinden "in den Silos der Firmen"
Viele Daten – zum Erbgut, aber auch zur Lebensweise, die über Fitnesstracker gesammelt werden – verschwinden derzeit „in den Silos der Firmen“, kritisierte Ernst Hafen von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. „Das ist digitaler Feudalismus.“
Hafen schlug ein Gegenmodell vor. Jeder solle per Gesetz ein Recht auf eine digitale Kopie seiner Daten anzufordern. Auf Plattformen wie Midata, die er initiiert hat, könne man sie sicher verschlüsselt verwahren. „Nur man selbst hat den Zugang und entscheidet, wem man die Daten zur Verfügung stellt“, sagte er. Gewinne, die damit erzielt werden, fließen an die Kooperative, die wiederum Forschungsprojekte fördert. „Das sind Rahmenbedingungen, die Vertrauen fördern“, sagte Hafen.
Die elektronische Revolution in der Medizin erreicht längst jeden, wie die Berliner Ärztin und Journalistin Shari Langemak deutlich machte. Der Zugang zu Patienteninformationen, etwa über Smartphone-Fitness-Apps, habe dazu geführt, dass „jeder zu einem Gegenstand der Forschung“ geworden sei.
Langemak will das nicht negativ verstanden wissen. „Patienten möchten sich beteiligen, sie möchten eine aktive Rolle spielen“, sagte sie. Preiswerte Geräte ermöglichten es ihnen, Körperfunktionen bis hin zu Blutzuckerwerten und Herzstromkurve (EKG) selbst zu messen und mit Erklärprogrammen zu verstehen. „Der moderne Patient ist hervorragend informiert, er weiß, was die Daten bedeuten“, schloss Langemak optimistisch. „Digitale Gesundheit ist die Zukunft.“