Verfolgung von Professoren in der Türkei: Warum Erdogan die Universitäten schleift
Massenentlassungen angeblicher „Gülenisten“ und Friedensaktivisten: Der „Kahlschlag“ gilt dem kritischen Denken in der Türkei. Die scientific community ist entsetzt - auch in Berlin.
„Das kritische Denken in der Türkei wird mundtot gemacht.“ Sonja Hegasy, stellvertretende Direktorin des Berliner Leibniz-Zentrums Moderner Orient (ZMO), spricht aus, was die scientific community derzeit umtreibt – in der Türkei, aber auch in Deutschland und in vielen anderen Ländern. Die Entlassungen von Professorinnen, Professoren und Dozenten an den türkischen Universitäten kämen einem „Kahlschlag vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften“ gleich.
Das neue Jahr hat in der Türkei begonnen, wie das alte geendet hat – mit Massenentlassungen. Die AKP-Regierung nutzt weiterhin den nach dem Putschversuch im Juli 2016 verhängten Ausnahmezustand, um per „Notstandsdekret“ Staatsbedienstete zu kündigen. Zehntausende werden beschuldigt, als angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung mit den Putschisten zu sympathisieren. Am 8. Februar traf es erneut fast 4500 Staatsdiener, darunter 330 Hochschullehrkräfte.
Schon 5000 Lehrende verloren ihre Position
Die Zahl der entlassenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist damit auf über 5000 gestiegen. Dazu zählen auch viele der gut 2000 Unterzeichner einer Friedenspetition für die Kurdengebiete vom Januar 2016. Sie sind seitdem massiven Repressalien ausgeliefert. Ihnen wurde vom Erdogan-Regime Nähe zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und damit die „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ vorgeworfen.
Bei 115 der 330 jetzt von ihren Hochschulen Entlassenen soll es sich um Unterstützer der „Academics for Peace“-Petition handeln. Bei anderen wurden die Suspendierungen damit begründet, dass sie eine Benachrichtigungs-App auf ihren Handys installiert hätten, mit der angeblich Gülen-Anhänger untereinander verschlüsselt kommunizierten.
Polizisten trampelten auf Talaren der Professoren herum
An der Universität Ankara kam es vor einer Woche zu dramatischen Szenen. Am 10. Februar waren frisch Suspendierte, mit ihnen solidarische Kolleginnen und Kollegen sowie Studierende zusammengekommen. Vor dem Campus legten sie in friedlichem Protest ihre Talare ab. Polizeikräfte lösten die Versammlung unter Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen gewaltsam auf und trampelten auf den Talaren herum.
Zu den von der neuesten „Säuberung“ Betroffenen gehören etliche prominente Akademiker, darunter Ibrahim Kaboglu, Verfassungsrechtler an der Marmara Universität in Istanbul. Er hatte im Dezember den geplanten Übergang zu einem Präsidialsystem mit sehr weitgehenden Vollmachten für Erdogan kritisiert.
Entzug der Pension? - "Unbegreiflich, aber sie können alles tun"
Der renommierten 82-jährigen Neuropsychologin Oget Oktem Tanor, Mitunterzeichnerin der Peace-Petition, wurde die Professur an der Bilim Universität in Istanbul entzogen. Vorgesetzte hätten gedroht, ihr die Pension zu entziehen, wird Tanor von der BBC zitiert. „Das ist mir unbegreiflich. Aber sicher, sie können alles tun.“ Schon 400 der Unterzeichner seien ohne Berufsperspektive und ohne Pässe, heißt es in einem Solidaritätsaufruf der „Wissenschaftler*innen für den Frieden Deutschland“.
Die Existenzängste der Betroffenen sind das eine, aber auch Angst um das gesamte türkische Wissenschaftssystem geht um. In einem Artikel für das Magazin „University World News“ spricht der Historiker Candan Badem von einem „Academocide“. Badem bezeichnet sich als säkularen Regierungskritiker und offenen Gegner Fethullah Gülens. Im September sei er gleichwohl als „Gülenist“ von seiner Uni in Tunceli gekündigt worden. Die Entlassungen zielten „auf die besten Wissenschaftler der Türkei“.
Proteste sind ein Hoffnungszeichen, aber der Rechtsstaat ist außer Kraft
Der Solidaritätsadresse zufolge wurden die „bedeutsamsten historischen Fakultäten des Landes“ quasi aufgelöst und damit Studierende ihres Rechts auf ein freies, selbstbestimmtes Studium beraubt. Gleichwohl wäre ein Kollaps der Universitäten nicht im Interesse Erdogans, sagt Halil Yenigün, Gastwissenschaftler in Berlin und Unterzeichner des Friedensappells. Er wurde vor einem Jahr von der Stiftungshochschule der Handelskammer von Istanbul entlassen. Der Lehrbetrieb in der Türkei werde mit den verbleibenden loyalen Kräften und neu Eingestellten aufrechterhalten, denn die Regierung wolle, dass die jungen Leute zwischen 18 und 22 „betreut“ seien. Von Qualität der Lehre könne keine Rede mehr sein.
Die Historikerin Nazan Maksudyan, derzeit Gast am ZMO, erinnert daran, dass solche „umfassenden Säuberungen der Universitäten, Schulen, des Rechtssystems, der Politik und der Medien von all jenen, die die Regierung kritisieren könnten“, eine lange Tradition haben. „Säuberungen an den Unis gab es etwa 1933 und 1980.“ Die zunehmenden öffentlichen Proteste dagegen seien zwar „ein Hoffnungszeichen“. Weil jedoch der Rechtsstaat außer Kraft sei und sich die breite Öffentlichkeit nur in den von der AKP monopolisierten Medien informiere, habe Erdogan freie Hand.
Zuflucht in Deutschland - und Überforderung einzelner Institute
Viele Wissenschaftler hoffen auf eine Zuflucht in Deutschland. „Im Wochentakt wenden sich Kolleginnen und Kollegen in schwerer Not an uns, fragen, ob sie ihre Projekte am ZMO weiterführen können“, sagt Vizedirektorin Hegasy. „Wir versuchen zu helfen, aber als kleines Institut stoßen wir an unsere Grenzen.“ Yenigün bittet indes darum, die Betroffenen „nicht als Opfer zu sehen“. Es gebe in der Türkei großes Engagement, Studierende nun außerhalb der Hochschulen zu unterrichten. Die bereits im Ausland Lebenden suchten Möglichkeiten, dabei „praktische Solidarität zu leisten“.