Neues Projekt von Christo: Warten auf den Zauberer
Bald werden Christos „Floating Piers“ über den Iseosee in Norditalien führen. Die Landschaft dort ist sowieso große Kunst.
Ganz früh ist das Farbenspiel am schönsten. Wenn die Nacht noch mit sich ringt, ob sie für den Morgen das Feld räumen will, geht es deshalb quer durch den noch schlummernden Ort Sulzano den Hang hinauf – ziemlich steil, weil Gletscher das Tal wie mit einer Diamantensäge ins Gestein der Alpen geschnitten haben.
Wenn dann die Sonne über die Gipfel lugt, errötet das Kirchlein, das auf der Insel Monte Isola thront, 400 Meter hoch über dem Iseosee. Olivenbäume und Zypressen ergrünen, es leuchten in Pastelltönen die alten Häuser der Fischer im Dorf Peschiera Maraglio, und das Schwarz des Wassers wandelt sich in ein tiefes Blau. Wer auch immer diese Landschaft einst so idyllisch geschaffen hat: Er war ein großer Künstler. Und nun kommt Christo, um sie zu verzaubern.
„Floating Piers“ heißt das neueste Projekt des Verhüllungskünstlers. Am 16. Juni ist es so weit: Aus 200.000 Plastikwürfeln zusammengesetzte Stege führen drei Kilometer übers Wasser des Iseosees, vom Festland in Sulzano hinüber nach Peschiera Maraglio auf Monte Isola und dann weiter zum Inselchen San Paolo, das man komplett umrundet. Nicht nur die schwimmenden Brücken, auch einige Straßen der Ortschaften und das Ufer des Sees werden auf einer Länge von eineinhalb Kilometern mit Stoff verhüllt.
Bitte ohne Schuhe, damit man den Stoff spüren kann
In seinem langen Künstlerleben hat der 80-jährige Bulgare zusammen mit seiner 2009 verstorbenen Frau Jeanne-Claude immer wieder scheinbar Unmögliches möglich gemacht, indem er Bauwerke wie den Berliner Reichstag verhüllte und Landschaften in aller Welt mit Kunst im großen Stil verfremdete.
Nun lässt er in seinem ersten Mammutprojekt seit mehr als zehn Jahren Besucher übers Wasser gehen – nur bitte ohne Schuhe, damit man den Stoff spüren kann. „Es wird nicht nur schön aussehen. Es wird sich auch ziemlich sexy anfühlen: als ob man auf einem Wasserbett spazieren geht“, sagt Christo. Ein vergängliches Wunder, so wie bei fast allen seinen Ideen für den öffentlichen Raum: Nach wenig mehr als zwei Wochen werden die Stege wieder abgebaut, das Spektakel ist Geschichte.
Seit die Schnellstraße hoch oben am Osthang des Iseosees verläuft, ist es am Ufer in Sulzano noch ruhiger als früher. Auf Monte Isola sind Autos sowieso tabu: Die 2000 Bewohner der Insel kommen mit dem Moped oder dem Inselbus zu den Siedlungen und zu ihren abgeschiedenen Farmen zwischen Ginsterbüschen und Olivenhainen.
Wer an einem normalen Sommertag mit der Fähre nach Peschiera Maraglio übersetzt, flaniert dort durch ein ungeschminktes Dörfchen. Katzen sonnen sich auf Fensterbänken, Wäsche trocknet im Wind, in den Gassen duftet es nach würziger Pastasoße. Ein Pfad führt hinauf zur Wallfahrtskirche. Dort ist man mit dem weiten Blick auf See und Berge allein.
"Oh mein Gott, die Brücken bleiben für immer", dachten die Leute
Im Ort gibt es ein paar familiäre Pensionen und die umgebaute Residenz der Adelsfamilie Oldofredi. Einst wurden hier Fischernetze für halb Italien gewebt, doch diese Zeiten sind vorbei – fast alle Einwohner arbeiten auf dem Festland. Wenn dann doch ein am Holz nagender Hobel zu hören ist, liegt das an Andrea Erchetti, der in fünfter Generation die Tradition des Bootsbaus wachhält: Sein Vorfahre flüchtete einst aus Venedig auf die Insel und erfand hier das Naèt, ein schnelles Fischerboot. Noch heute wird es komplett in Handarbeit gefertigt.
„Die Leute auf Monte Isola schätzen es, dass sie auf einer Insel leben, mit etwas Abstand zum Festland“, sagt Alessandra Dalmeri. Die Gemeinderätin musste ihre Wähler beruhigen, als durchsickerte, dass Christo hier seine Floating Piers bauen will. „Die Leute dachten: Oh mein Gott, die Brücken bleiben für immer – und die Leute aus Sulzano können Tag und Nacht zu uns herlaufen!“
Als sich klärte, dass der Künstler das Ganze nur als temporäre Installation konzipiert hat, war die Zustimmung gesichert. „Wir wissen aber nicht, mit wie vielen Besuchern wir rechnen müssen. Es wird wahrscheinlich ein großes Chaos geben“, meint sie – und lächelt. „Ich freue mich trotzdem. Es wird ein fantastisches Chaos! Eigentlich schade, dass es nur 16 Tage sind. Der See kann Werbung gut gebrauchen.“
Auch in Sulzano sehen sie Christo als eine Art Messias, der erschienen ist, um den 25 Kilometer langen Iseosee bekannt zu machen. Der liegt nahe der Unesco-Welterbestadt Brescia und nur einen Katzensprung entfernt von den Reben der Franciacorta, wo in den Kellern der Güter einige der besten Schaumweine Italiens in der Flasche reifen.
Die Idee mit den Stegen wollte Christo zuerst auf dem Rio de la Plata umsetzen
Doch die Idylle der Bergamasker Alpen ist vielen Touristen wohl nicht prickelnd genug, obwohl man hier baden und wandern, segeln und Rad fahren kann. Oder sie kennen den Iseosee einfach nicht. „Uns besuchen bislang nur Eingeweihte“, konstatiert Paola Pezzotti, die rührige Bürgermeisterin des 2000-Seelen-Ortes Sulzano. Nun sorgt Christo dafür, dass die Hotels und Pensionen fast ausgebucht sind. Die 13 Millionen Euro, die sein Projekt wohl am Ende kosten wird, bezahlt er ebenfalls aus eigener Tasche. Der Verkauf seiner Kunstwerke hat alles finanziert.
Im Sommer 2014 bat Franco Beretta die Bürgermeisterin um ein Gespräch. Seiner Familie gehört die 1526 gegründete Waffenmanufaktur, eine Segelschule sowie die Privatinsel San Paolo. Signor Beretta brachte einen Gast mit, den die Bürgermeisterin noch nicht kannte. „Ein einfacher, netter Mann, mit wildem weißen Haar, voller Energie und Enthusiasmus: Still sitzen konnte er nicht“, erinnert sie sich an die Begegnung.
Christo zeigte ihr Skizzen des Projekts und warb um Unterstützung. Paola Pezzotti sagte nicht nur spontan zu, sondern umarmte Christo auch gleich: „Jahrelang haben wir auf jemanden gewartet, der die Schönheit unseres Sees bekannt macht!“ Der Gemeinderat stimmte einstimmig für das Projekt, innerhalb eines Jahres waren auch alle übrigen Genehmigungen erteilt. Für den verhüllten Reichstag hatte dieser Prozess ganze 24 Jahre gedauert.
Nach dem Tod von Jeanne-Claude suchte Christo nach einem neuen Ort
Doch warum hat Christo gerade den Iseosee ausgewählt? Wer die Antwort auf diese Frage sucht, muss nach New York reisen. Seit über 50 Jahren lebt der Künstler in Manhattan, sein Haus steht in SoHo, ein paar Schritte entfernt vom Broadway. Schmierereien zieren die Fassade mit der roten Feuerleiter, der Laden im Erdgeschoss ist verrammelt. Ein Türschild gibt es nicht, nur einen unbeschrifteten Klingelknopf – damit man den Meister nicht zu oft von der Arbeit abhält. Sein Atelier liegt im vierten Stock, wo der Putz von der Wand bröckelt. Im dritten Stock ist die Künstlerwohnung und ein Büro. Im zweiten Stock ein Lagerraum, im ersten eine Galerie.
Gemeinsam mit Jeanne-Claude hat das Künstlerpaar in knapp 50 Jahren etliche spektakuläre Land-Art-Projekte umgesetzt. Ein mehr als zwei Kilometer langer Küstenstreifen bei Sydney wurde Ende der 60er Jahre eingepackt. In Colorado überspannte ein fast 400 Meter breiter und bis zu 111 Meter hoher orangefarbener Vorhang ein Tal. Der „Running Fence“ schlängelte sich 40 Kilometer weiß leuchtend über die hügelige Landschaft Kaliforniens, bis er im Pazifischen Ozean verschwand. In der Biscayne Bay vor Miami waren es zum Beispiel elf Inseln, die rosafarbener Stoff umgab.
„Die Idee, mit Stegen auf dem Wasser zu wandeln, hatten wir schon vor über 40 Jahren. Erst wollten wir sie vor Buenos Aires auf dem Rio de la Plata umsetzen. Doch wie so oft bekamen wir keine Genehmigung. Auch ein zweiter Anlauf in der Bucht von Tokio klappte nicht“, erzählt Christo.
Nach dem Tod von Jeanne-Claude machte sich der Künstler mit seinem Team auf die Suche nach einem neuen Ort und wurde in Oberitalien fündig. „Einen besseren Ort als den Lago d’Iseo gibt es nicht: Die Landschaft mit ihren hübschen Dörfern, mit den Villen am Ufer und den Kirchlein ist zauberhaft. Man kann die Floating Piers außerdem von den umliegenden Bergen aus sehen. Doch sie sind kein Gemälde zum Anschauen – man erfährt sie besser am eigenen Leib.“
Wie balancieren auf einem Wal
Wer der Spur des goldgelbenStoffes folgt, wird erst auf festem Untergrund durch die Gassen von Sulzano spazieren, bis plötzlich eine 16 Meter breite Promenade auf den See hinaus führt. „Dann wird es spannend“, sagt Christo lächelnd. „Ich habe es ausprobiert: Es fühlt sich an, als balanciere man auf einem Wal.“ Das Wechselspiel aus festem und schwankendem Untergrund setzt sich auch in Peschiera Maraglio fort, bevor es hinaus geht zu Berettas Privatinsel San Paolo.
„Ich bin mit einer Idee gestartet“, sinniert Christo. „Wie wir das Ganze technisch umsetzen, testen wir hinterher.“ Die Ästhetik darf aber nicht leiden. Zwar wäre es einfacher gewesen, die Brücken würden die Orte direkt verbinden. Doch wenn sie abknicken, bietet das bessere Sichtachsen. Damit die Stege trotzdem nicht wegwehen, verankern Profitaucher sie am Seeboden in bis zu 220 Metern Tiefe.
„Bei meinem Projekt ist nichts virtuell, sondern alles echt: Der Wind von den Bergen, die Nässe nach einem Sommergewitter, das grelle Licht am Tag, die Kühle der Nacht: All das muss man spüren.“ Deswegen ist auch der Termin der Installation nicht zufällig gewählt: Ende Juni sind die Tage am längsten.
Christo wird vor Ort auch kleine Stücke des glänzenden Stoffs als Andenken verschenken. „Doch das Projekt kaufen kann niemand. Nicht einmal ich selbst bin dessen Besitzer.“ Nach 16 Tagen, wenn alles wieder abgebaut und recycelt wird, bleibt von den Floating Piers deswegen nur noch die Erinnerung.
Doch dann, wenn alle anderen abgereist sind, muss man noch einmal hin. Der See hat ein ruhiges Gemüt, er wird sich erholen von all der Aufregung und zurückfinden zum alten Rhythmus. In aller Ruhe wird man wieder mit einem perlenden Franciacorta im Glas am Ufer sitzen und den Blick genießen können: Auch ohne den Zauberer aus New York ist diese Landschaft ganz große Kunst.
Mit der Fähre von Ufer zu Ufer
ANREISE
Die Bahn braucht lange, bis Verona sind es von Berlin aus zwölf Stunden, von dort weiter nach Brescia. (Europa-Spezial-Ticket ab 39 Euro pro Strecke). Eine Lokalbahn führt von Brescia am Iseosee entlang nach Sulzano. Alternativ fliegt man bis Bergamo oder Verona (mit Air Berlin oder Lufthansa) und nimmt dort einen Mietwagen (etwa eine Stunde bis zum Iseosee).
FLOATING PIERS
Die Installation lässt sich vom 18. Juni bis 3. Juli nur 16 Tage lang erleben – kostenlos und rund um die Uhr.
VERANSTALTER
Studiosus bietet eine viertägige Reise zu Christos Projekt. Neben dem Besuch der „Floating Piers“ stehen Führungen in Brescia und Verona sowie ein Ausflug zum Gardasee auf dem Programm. Die Reise kostet 995 Euro pro Person im Doppelzimmer.
UNTERKUNFT
Den schönsten Blick hat man im Vier-Sterne-Hotel Riva Lago in Sulzano (DZ ab 155 Euro, Telefon: 00 39/030 /98 50 11).
In einem Dörfchen auf Monte Isola liegt das B&B La Ceriola (DZ ab 50 Euro, Telefon: 0039/030/982 51 68).
Stellplätze (ab 32 Euro für zwei Personen) und Chalets bieten die Campingplätze Iseo, Punta d’Oro und Del Sole. Im Übrigen gibt’s viele Unterkünfte im nahen Brescia.
AUSFLÜGE
Den Lago d’Iseo erkundet man am besten per Boot. Fähren starten nach einem Sonderfahrplan; Tickets gibt es vorab online.
Auch historische Landsitze wie das Castello Quistini und das Castello di Bornato öffnen ihre Pforten.
RESTAURANTS
Fisch aus dem See im Panoramarestaurant des Castello Oldofredi auf Monte Isola. Spezialitäten der Insel bietet das Ristorante la Canogola.
REISEFÜHRER
Eberhard Fohrer: „Oberitalienische Seen“ (Michael Müller Verlag, 19,90 Euro).
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