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Ein Mann und eine Frau betrachten gemeinsam mit einem kleinen Kind ein Buch.
© IMAGO
Update

Vorlesestudie 2014: Vorlesen bringt Kinder zum Reden

Über das Vorlesen von Geschichten kommen Eltern besser mit ihren Kindern ins Gespräch - auch über Probleme. Das zeigt eine aktuelle Umfrage der Stiftung Lesen. Doch ein Drittel der Eltern liest überhaupt nicht vor.

Angst vor dem ersten Schultag? Oder vor dem kleinen Bruder, der da in Mamas Bauch heranwächst? Für Eltern ist es nicht immer leicht, ihre Kinder auf Probleme anzusprechen, einfach so beim Abendbrot oder auf dem Weg zum Spielplatz. Helfen kann eine schier endlose Reihe von Büchern wie „Nur Mut, Willi Wiberg“ oder „Conni und das neue Baby“. Immerhin 41 Prozent der Eltern sagen, dass sie solche Bücher und Geschichten gezielt einsetzen, um ihren Kindern dabei zu helfen, schwierige Situationen zu verarbeiten. Das geht aus der Vorlesestudie 2014 der Stiftung Lesen hervor, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde.

„Lesen schafft gemeinsame Situationen, in denen Eltern und Kinder zusammenkommen und in denen die Konzentration auf den Lesestoff sehr hoch ist, dadurch kehrt Ruhe ein“, sagt Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. Das Vorlesen schaffe einen Impuls für Gespräche, weil sich Kinder etwa in die fiktiven Figuren hineinversetzen und sie als Modelle für das eigene Handeln verstehen. „Vorlesen trägt zum Austausch zwischen Eltern und Kindern bei und stärkt so familiäre Bindungen“, lautet denn auch die zentrale Aussage der Studie, an der auch die Wochenzeitung „Die Zeit“ und die Deutsche-Bahn-Stiftung beteiligt sind. Mit der Vorlesestudie wird seit 2007 jährlich mit repräsentativen Umfragen untersucht, wie verbreitet das Vorlesen in Deutschland ist und wie es sich in den Familien auswirkt. Für die aktuelle Studie wurden im Juni und Juli dieses Jahres bundesweit 250 Mütter und 250 Väter von Kindern zwischen zwei und acht Jahren telefonisch befragt.

90 Prozent der Eltern lesen beim Zubettgehen vor

Der beste Zeitpunkt für Eltern und Kinder, den Tag Revue passieren zu lassen, sei das abendliche Zubettgehen, sagt Ehmig. Eine alltägliche, aber auch ritualisierte Situation – und für 90 Prozent der vorlesenden Eltern der Hauptanlass zum Vorlesen. Jeweils die Hälfte der Mütter und Väter lesen auch beim Warten, etwa beim Arzt, oder auf Reisen vor. Dabei verfolgen Eltern unterschiedliche Strategien: Kleinen Kinder stellen sie während des Lesens Fragen oder lassen sie beschreiben, was auf den Bildern im Text zu sehen ist. Viele sagen aber auch, dass sie die Geschichte lieber von Anfang bis Ende ohne Unterbrechung vorlesen. Doch ob es nun während der Lektüre oder danach geschieht: Für zwei von drei Elternteilen gehört es zum Vorlesen, dass sich daraus weitere Gespräche über alltägliche Dinge ergeben.

„Vorlesen bietet Raum für alle Fragen, die Kinder beschäftigen, und hilft Eltern bei den Antworten und Erklärungen“, sagt Simone Ehmig. Unproblematische Themen rund um Kita, Schule und Familie dominieren die sich ergebenden Gespräche. Häufig werden aber auch größere Veränderungen wie Einschulung, Umzug, Trennung, Tod oder religiöse Fragen angesprochen. 69 Prozent der befragten Eltern sagen, in besonderen Situationen für ihr Kind werde „häufig und intensiv über die Ereignisse gesprochen“. 41 Prozent suchen gezielt Geschichten oder Bücher aus, die sich mit dem Thema befassen.

"Wie war es denn heute in der Schule?" - "Gut."

Werden Eltern direkt gefragt, zu welchem Medium sie greifen, wenn ihr Kind eine besondere Situation verarbeiten müsse, geben sogar 75 Prozent an, sie hätten gemeinsam ein Buch zum Thema angeschaut oder vorgelesen. 48 Prozent nennen „eine passende Sendung im Fernsehen“, gefolgt von Filmen auf DVD und Liedern, die das zu verarbeitende Thema aufgreifen.

Der positive Effekt des Vorlesens auf die familiäre Kommunikation hänge nicht vom Bildungsniveau ab, betont die Studienleiterin. Bildungsferne Eltern nutzten die Gemeinsamkeit und Ruhe ebenso wie bildungsbürgerliche „als Anker, um Dinge anzusprechen“. Ein Buch über den Schwimmbadbesuch einer Grundschulklasse lesen, und schon sprudeln die Erfolge auf dem Weg zum Seepferdchen oder der Kummer über schubsende Klassenkameraden nur so aus dem Kind hervor? Angesichts oft einsilbig verlaufender Gespräche beim Abendessen – „Wie war es denn heute in der Schule?“– „Gut.“ – liegt das Potenzial des Vorlesens also auf der Hand.

Doch ein Drittel der Eltern lässt es der Studie zufolge ungenutzt. Sie lesen ihren Kindern nur selten oder gar nicht vor. Hier setzt das bundesweite Projekt „Lesestart“ an, das wie die Vorlesestudie von der Stiftung Lesen organisiert und vom Bundesbildungsministerium (BMBF) finanziert wird. Seit 2011 wurden zunächst drei Jahre lang bundesweit in Kinderarztpraxen Lesestart-Sets mit Vorlese-Tipps und einem Kinderbuch an Eltern Neugeborener verteilt. Immerhin 87 Prozent der Kinderärzte nahmen teil, sie sollten das Material vor allem Müttern und Vätern geben, die sie als eher bildungsfern einschätzten. Ab diesem Jahr sollen sich möglichst dieselben Familien ein für Dreijährige geeignetes neues Set in einer öffentlichen Bibliothek abholen. In der dritten Phase des auf acht Jahre angelegten Programms kommt dann in der Grundschule ein weiterer „Meilenstein“ der (Vor)leseförderung dazu.

Die Stiftung Lesen fordert, "Lesestart" dauerhaft zu finanzieren

Zwei Millionen Kinder aus drei Jahrgängen sollen erreicht werden, insgesamt 24,5 Millionen Euro will das BMBF investieren. Das sei bei Weitem nicht genug, sagte gestern Jörg Maas, Geschäftsführer der Stiftung Lesen. Die Stiftung wolle jetzt erreichen, dass Lesestart nach dem Vorbild des britischen „Bookstart“-Programms dauerhaft und flächendeckend finanziert wird. Eine Begleitstudie zu Lesestart hat bereits ergeben, dass sich zwei Drittel der Eltern intensiv mit den Materialien befassen, 62 Prozent Tipps aufgreifen und mehr und länger vorlesen, teilte das BMBF vor einem Jahr mit.

Ziel der Leseförderer ist es, „Eltern zu motivieren, ihren Kindern am besten täglich vorzulesen“, wie Bahnchef Rüdiger Grube sagte. Das stellt aber keineswegs die Rolle der hunderttausenden Ehrenamtlichen infrage, die regelmäßig in Kitas, Schulen oder Bibliotheken vorlesen. Denn was die Kinder dort erfahren, tragen sie in ihre Familien zurück – als Gesprächsthemen oder als Forderung an die Eltern, selber vorzulesen. Das tun der Umfrage zufolge 70 Prozent der Kinder.

Bundesweiter Vorlesetag am 21. November

Um Vorbilder geht es auch beim bundesweiten Vorlesetag am 21. November, den die Stiftung Lesen und ihre Partner in diesem Jahr zum elften Mal veranstalten. Rund 80 000 Vorleser sollen in Kitas, Bibliotheken und Schulen sowie an anderen, teilweise auch öffentlich zugänglichen Orten auftreten, darunter viele Prominente und Politiker. Sie können dann erleben, was drei Viertel der in der Studie befragten Eltern schon erfahren haben: Sie genießen die gemeinsame Zeit beim Vorlesen genauso wie ihre Kinder.

Amory Burchard

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