Bundesweite Lesestudie: Vorlesen heißt Geborgenheit
Väter lesen ihren Kindern häufiger vor als noch vor ein paar Jahren: Kinderbuch-Apps auf Tablets sei Dank. Auch in bildungsfernen Familien wird mehr gelesen.
„Tablets sind ein Geschenk des Himmels“, sagt Rainer Esser, der Geschäftsführer der „Zeit“. Und zwar nicht, weil man mit ihnen wunderbar surfen, Fotos angucken oder netzwerken kann, sondern weil sie zum Vorlesen animieren. Kinderbuch- und Bilderbuch-Apps sind dank Tablet, E-Reader oder Smartphone überall dabei und machen das Vorlesen gerade für diejenigen attraktiv, die sonst eher nicht zu den Lesevorbildern gehören: Väter und bildungsferne Familien. Diese beiden Gruppen jedenfalls lesen ihren Kindern heute häufiger vor als noch vor sechs Jahren.
Seit 2007 hat sich bei der Lesekultur einiges getan
Die „Zeit“, die Stiftung Lesen und die Deutsche Bahn präsentieren jedes Jahr eine Studie zur Vorlesekultur in Deutschland. Seit der ersten Studie aus dem Jahr 2007 hat sich einiges getan: Simone Ehmig, die Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen, konnte bei der Vorstellung der Studie am Montag in der Konzernzentrale der Deutschen Bahn positive Tendenzen aufzeigen. Von rund 500 befragten Müttern und Vätern drei- bis fünfjähriger Kinder sagen heute etwa sechs Prozent mehr als 2007, dass sie ihrem Nachwuchs mindestens einmal in der Woche vorlesen. „In bildungsfernen Familien fällt der Anstieg mit 14 Prozentpunkten sogar deutlich stärker aus als im Durchschnitt“, sagte Ehmig. Auch Väter greifen öfter zu Buch oder eben Tablet: Um 13 Prozentpunkte ist der Anteil der Männer gestiegen, die ihren Kindern mindestens einmal pro Woche vorlesen.
Das klingt erst mal positiv. Aber: „Nach wie vor lesen zu viele Eltern ihren Kindern zu wenig oder gar nicht vor“, sagt Bahnchef Rüdiger Grube. In einem knappen Drittel aller Familien mit Kindern zwischen zwei und acht Jahren wird selten oder gar nicht vorgelesen. Dabei wünschen sich fast alle Eltern eine gute Bildung für ihre Kinder. „Vielen ist aber der Zusammenhang zwischen Vorlesen, Lesekompetenz und dem Zugang zu Bildung nicht bewusst“, sagte Grube, der selbst aus einer bildungsfernen Familie stammt und als Kind andere darum beneidete, dass ihnen vorgelesen wurde.
Täglich vorlesen ist am besten
Die Wirkung des Vorlesens ist dann am stärksten, wenn es täglich geschieht. „Das ist eine nachhaltige Investition in die Bildungschancen der Kinder“, sagt Simone Ehmig. „Diese Kinder haben später bessere Schulnoten und entwickeln sich ganzheitlich besser.“ Dabei ist nicht nur das Lesen an sich wirksam, sondern die Atmosphäre der Geborgenheit, die dabei entsteht, die Gespräche, die sich ergeben. Insofern könnten Hörbücher nur eine Ergänzung sein, die gemeinsam verbrachte Zeit aber nicht ersetzen.
Immerhin 70 Prozent der befragten Eltern lesen ihren Kindern täglich oder mehrmals in der Woche vor, in Familien mit hoher Bildung sind es 77 Prozent, in Familien mit niedriger Bildung 55 Prozent. Mütter lesen häufiger vor als Väter – 29 Prozent tun es täglich (Väter: 9 Prozent), 38 Prozent mehrmals in der Woche (Väter: 36 Prozent).
Im November ist wieder bundesweiter Vorlesetag
Vorlesen erleichtert den Zugang zu Bildung: Dieser Gedanke muss stets aufs Neue in jede Elterngeneration hineingetragen werden, sagt Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen. Eine Aktion dafür ist der bundesweite Vorlesetag, der in diesem Jahr zum zehnten Mal stattfindet. Am 15. November werden wieder tausende Bürger ehrenamtlich in Kindergärten, Grundschulen, Bibliotheken und Kultureinrichtungen vorlesen. 2004 waren es nur 2000 Aktive, diesmal haben sich schon 50 000 angemeldet, Maas hofft bis zum 15. November noch die 100 000er-Marke zu knacken. „Das halbe Bundeskabinett macht mit“, sagt er, durch solche Aktionen wachse das Bewusstsein der Politiker für die Bedeutung des Vorlesens. Der Vorlesetag geht auf eine Idee der damaligen „Zeit“-Redakteurin Susanne Gaschke zurück und erhält zu seinem zehnjährigen Jubiläum eine besondere Ehrung: Er wurde am Montag mit dem Preis „Ideen für die Bildungsrepublik“ der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ und der Vodafone-Stiftung ausgezeichnet.
Ein neues Modellprojekt der Stiftung Lesen richtet sich vor allem an die Väter: Es heißt „Mein Papa liest vor“ und ermöglicht es Eltern, jeden Freitag eine Geschichte über das Intranet ihrer Firma herunterzuladen, die sie dann am Wochenende vorlesen können. „Wir wollen es den Vätern so leicht wie möglich machen“, sagt Maas. Wer weiß, vielleicht überflügeln die Papas irgendwann sogar die Frauen in Lesefreude.
- Informationen und Anmeldung zum Bundesweiten Vorlesetag unter www.vorlesetag.de
Dorothee Nolte
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