Kritik an Spahns Coronavirus-Krisenmanagement: „Vom Katastrophenstab ist sehr wenig zu hören“
Gesundheitsämter sind zentral für die Eindämmung von Covid-19. Patrick Larscheid, Leiter des Reinickendorfer Amtes, übt Kritik am Bundesgesundheitsminister.
Gesundheitsämter wie das im Berliner Bezirk Reinickendorf, das Sie leiten, sind die Institutionen in Deutschland, die die Seuchenbekämpfung durchführen. Wie entwickelt sich die Covid-19-Epidemie in Berlin und Deutschland, Herr Larscheid?
Im Moment weiß keiner genau, was am nächsten Tag kommt. Sowohl auf Berliner als auch auf deutscher Ebene gibt es eine rasante Fallzahlentwicklung – was daran liegt, dass es an verschiedenen Orten so genannte Cluster von infizierten Menschen gibt, aus denen heraus sich wieder eine Vielzahl Menschen ansteckt.
Möglicherweise haben wir auch eine Verbreitung in der Bevölkerung, die wir nicht genau überblicken. Das heißt, dass wir vielleicht symptomlose Infizierte haben, die derzeit weiter andere Menschen anstecken, ohne dass wir noch einen Überblick haben. So ähnlich wie man das in Italien mittlerweile vermutet: Dort haben sich wohl schon lange bevor die ersten Tests stattfanden viele Menschen infiziert und andere angesteckt.
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Worin besteht im Moment Ihre Arbeit?
In dieser Ausbruchsituation möchten wir jede Kontaktperson identifizieren und sie nach Möglichkeit unter Quarantäne stellen, um eine Weiterverbreitung zu verhindern. Das kostet umso mehr Kraft, je größer die Fallzahlen werden.
Die Situation ist von Bezirk zu Bezirk sehr divers: Die Fallzahlen und Ressourcen sind bislang unterschiedlich - die Fallzahlen werden sich mit der Zeit angleichen, die Ressourcen leider nicht. Wir rekrutieren zurzeit schon Leute aus dem gesamten Gesundheitsamt für den Bereich Infektionsschutz. Aber irgendwann droht der Moment zu kommen, wo wir nicht mehr alle Kontaktpersonen identifizieren können.
In Wuhan waren offenbar mehr als tausend Teams zu je fünf Leuten unterwegs, um Kontaktpersonen zu identifizieren.
Wir würden, wenn wir wollten, sicherlich auch auf diese Personenzahl kommen. Das größere Probleme ist: Ab einer bestimmten Menge an Kontaktpersonen wird es schwierig, sie sehr kurzfristig zu ermitteln und entsprechend schnell zu reagieren, etwa eine Quarantäne zu verhängen.
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Immer noch steht das direkte Gespräch mit den Menschen im Mittelpunkt – das brauchen wir, um die jeweilige Lage einzuschätzen. Und das braucht Zeit und medizinischen Sachverstand.
Die WHO sagt, basierend auf aus China gemeldeten Daten, dass es gar nicht so viele unerkannte milde Fälle gebe.
Die Situation in China ist für uns schwer zu beurteilen. Aber in Italien sehen wir so viele Todesfälle, weil die leichten Fälle noch nicht alle entdeckt sind. Die Sterblichkeit ist für ein so entwickeltes Land zur Zeit schwer nachvollziehbar.
Haben Sie Schätzungen, wie viele Menschen in Berlin unerkannt infiziert sind?
Nein, das ist nicht seriös berechenbar. Infizierte Menschen haben oft eine Fülle von Kontakten und sind auch im fraglichen Zeitraum sozial sehr aktiv. In der derzeitigen Phase betrifft die Situation besonders jüngere Menschen – wegen ihrer größeren sozialen Beweglichkeit werden sie eher infiziert.
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Darum kann ich zu den zu erwartenden Fallzahlen Erkrankter sehr wenig sagen. Aber die Besorgnis bei allen ist wirklich groß. Ich habe das Gefühl, dass eine gewisse Gelassenheit zwar noch da ist – aber dass sie ganz stark beeinflusst ist von großer Furcht vor dem, was kommen könnte.
Die Gelassenheit könnte rasch schwinden, wenn es ungünstige Entwicklungen gibt?
Ja. Wir haben einen Faktor, der uns am stärksten besorgt: Es geht uns nicht um die absolute Zahl an Patienten, weil die meisten Verläufe wohl mild sind. Es geht darum, dass sich die wirklich schwer Erkrankten zu einem bestimmten Zeitraum häufen – sie brauchen intensive medizinische Hilfe.
Die vorhandenen Kapazitäten muss man sehr kritisch hinterfragen. Wir haben Ressourcen in Deutschland, aber in der High-End-Medizin haben wir natürlich eine begrenzte Zahl an Betten. Wenn viele beatmungspflichtige Patienten in kurzer Zeit kommen, wird auch ein gut entwickeltes Gesundheitssystem in kurzer Zeit an seine Grenzen kommen. Wenn es von den derzeit betroffenen jüngeren Bevölkerungsgruppen auf ihre Eltern oder Großeltern überspringt, die im Regelfall ein bisschen kränker sind, kommen schnell die Komplikationen. Die müssen wir auf einmal bewältigen.
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Das ist ein Szenario, das sehr unangenehm zu denken ist. Wenn es da ist, können wir nichts mehr daran ändern. Bislang ist Covid-19 in Berlin eher eine Krankheit der Jungen, Gottseidank. Die Älteren sind zum Glück nicht stark betroffen – wenn sie es erstmal sind, werden auch die Todesfälle kommen, das ist ganz sicher.
Was muss getan werden, um die Lage nicht eskalieren zu lassen?
Auf nationaler Ebene ist vom Katastrophenstab sehr wenig zu hören. Im Moment kann man einzelne Interviews lesen – aber ich weiß nicht, welche Bedeutung das hat: Ist es eine offizielle Aussage oder eine Einzelmeinungen des Kollegen?
Da bräuchte es jetzt doch die integrative Funktion eines Bundesministeriums. Das ist die große Stunde: Für Jens Spahn ist Corona so etwas, wie es die Sturmflut von Hamburg für Helmut Schmidt war.
Was fordern Sie genau?
In dieser heißen Phase mit fast tausend Infektionen muss täglich gut kommuniziert werden. Die Situation ist so veränderlich – beschlossene Thesenpapiere von letzter Woche sind heute nichts mehr wert. Hier müssen schnell der Situation angepasste Maßnahmen erfolgen. Man muss jetzt sehr offensiv die Frage der Einschränkung des öffentlichen Lebens diskutieren.
Die Kollegen aus der Uniklinik in Mailand haben an ganz Europa einen Appell gerichtet, wie man sich im Krankenhaus-Bereich vorbereiten soll. Weil wir in Norditalien genau dieses Problem hatten und haben. Es gibt dort keine Intensivbetten mehr.
Und das ist schlimm, weil das normale medizinische Leben ja auch weitergehen muss – mit Patienten, die Komplikationen einer ohnehin vorhandenen Erkrankung erleben, oder Tumorpatienten, die eine intensivmedizinische Nachbehandlung brauchen. Oder Menschen, die Unfälle erleiden.
Was haben die Mailänder Ärzte konkret empfohlen?
Bereitet euch auf diese Situation vor. Trainiert sie jeden Tag, so dass ihr vorbereitet seid, wenn euer Krankenhaus selbst betroffen ist, mit Erkrankungsfällen beim Personal und so weiter. Auf nationaler Ebene ist jetzt nicht Aktionismus, sondern Aktion dringend nötig. Was ist denn in den letzten zwei bis drei Tagen von diesem gemeinsamen Katastrophenstab an konkreten Maßnahmen gekommen?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat am Sonntag dazu „ermuntert“, Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern abzusagen.
Ermunterung ist das, was ein Trauriger braucht. Am Sonntag diskutierte der Koalitionsausschuss über Kurzarbeit oder Wirtschaftshilfen. Wenn das der Output ist, ist es einfach zu wenig. Zuerst sollte überlegt werden, was gesundheitlich getan wird. Schnell, mit allen Leuten an einem Tisch, die Ahnung haben. Wir brauchen Handlungsempfehlungen für die, die es umsetzen müssen.
Können Gesundheitsämter nicht schon relativ stark eingreifen und einschränken?
Ja. Aber wenn ich denke, dass allgemein Schulen oder Produktionsbetriebe mit über hundert Mitarbeitern geschlossen werden sollten – dann kann ich das nur für Reinickendorf beschließen, in Treptow-Köpenick oder Schöneberg wäre die Lage anders. Kleinstaaterei wird jetzt nicht funktionieren, das muss auf nationaler Ebene entschieden werden.
Welche Einschränkungen des sozialen Lebens empfehlen Sie?
Ich sehe maximal schmerzhafte Einschränkungen des sozialen Lebens kommen: Das heißt Schließungen von Schulen und Kitas, auch von Unternehmen. Die Einschränkungen werden vielleicht zu einer großen Veränderung des Landes führen, wenn wir Pech haben.
Die Menschen mit der entsprechenden Kompetenz müssen sich jetzt dazu äußern. Man muss den Menschen sagen, was der Plan ist. Es geht ganz viel um medizinische Fragestellungen – nicht um Kurzarbeitergeld.
Es gibt Meldungen, dass die Hotlines der Gesundheitsämter überlastet sind. Kommen Sie Ihren Pflichten nach?
Ich kann sagen, dass die Kollegen alle gute Konzepte entwickelt haben und arbeitsfähig bleiben. Das überzeugt mich und ich sehe auch, dass das läuft. Auch am Sonntag habe ich mühelos mit Kollegen sprechen können – wenn sie nicht in ihrem Amt waren, saßen sie zu Hause am Computer. Das funktioniert im Moment wirklich so, dass ich stolz bin.
Muss die Zivilgesellschaft sich darauf vorbereiten, ältere und allein lebende Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen, wenn die Lage schlimmer wird?
Ja, das ist die Stunde der Zivilgesellschaft. Man sollte zwar nicht die Selbstorganisation der Menschen im Notfall unterschätzen, da mache ich mir wenig Gedanken. Aber das Problem sind kranke Menschen oder jene, die allein sind. Das Gebot der Stunde ist es, nach den Nachbarn zu gucken. Das wird schwierig für die Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben.
Ist diese Krise eine Gelegenheit, die soziale Lage für die Zukunft zu verbessern?
Wir leben ja in der Gewissheit, dass alle Dinge so sind, wie sie sind: Ich gehe ins Kino, ich gehe ins Theater, ich gehe einkaufen, ich fahre tanken – alles funktioniert ganz selbstverständlich. Dass das immer Voraussetzungen hat, wird gar nicht wahrgenommen.
Es könnte sein, dass man aus dieser Krisensituation gestärkt hervorgeht, weil man sich Gedanken macht, wie diese Dinge funktionieren. Es könnte tatsächlich einen Schub fürs soziale Gefüge geben. Dass die Schließung von Schulen und Betrieben für zwei Monate nicht dramatisch ist für die Menschheit, ist eh klar.
Wirtschaftlich kann das existenzbedrohend sein.
Ohne Frage, das wird Geld kosten. Es wird die Menschen aber kaum an ihre Leistungsgrenze bringen. Es handelt sich ja nicht um ein soziales Experiment, es handelt sich um eine bittere Notwendigkeit, wenn es passieren sollte. Frankreich hat pro Einwohner gerechnet weniger Infektionen, aber einige Departments schließen Schulen. Der Gedanke muss auch hier gedacht werden.