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Bislang dauert es bis zu den Booster-Impfungen schlicht zu lange. Impfzentren könnten das Tempo erhöhen.
© Stefan Sauer/dpa

Strategiepapier zum Infektionsschutz: Vielleicht hilft nur der Notschutzschalter

Die Lage in Deutschland sei derzeit „sehr kritisch“, sagen Forschende. Sie versuchen, sicherere Wege durch den zweiten Covid-19-Winter zu weisen.

Täglich werden neue Inzidenz-Rekorde vermeldet. Intensivstationen füllen sich wieder. In einigen Regionen sind sie bereits am Limit. Derweil soll die „epidemische Lage nationaler Tragweite“ beendet werden, was Maßnahmen komplett in die Hand der Bundesländer geben wird.

Zuletzt wurden Maßnahmen eher zurückgenommen. Andere werden derzeit kategorisch ausgeschlossen: flächendeckende Schließungen von Schulen, Handel oder Kultur sowie Ausgangsbeschränkungen. Doch das Infektionsrisiko ist aufgrund der Deltavariante für Ungeimpfte, aber auch für Menschen, bei denen die Impfung schon länger zurückliegt, hoch.

„Nach fünf Monaten sinkt der Schutz gegen Ansteckung von einem Faktor von etwa zehn auf einen Faktor von zwei bis drei", sagte Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen am Donnerstag in einem durch das Science Media Center organisierten Pressegespräch.

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Millionen Ungeimpfte und zunehmend auch Geimpfte

Sie und 20 weitere Fachleute – unter ihnen die Virologin Sandra Ciesek und der Soziologe Armin Nassehi – haben am Donnerstag ein Strategiepapier zu „nachhaltigen Strategien“ gegen die Pandemie im kommenden Winter vorgelegt. Zentral muss demnach die Immunisierung mit einem der verfügbaren Impfstoffe bleiben. „Um einer dauerhaften Überlastung der Intensivstationen entgegenzuwirken, ist insbesondere das Impfen und die Verbesserung des Impfschutzes durch eine Dritt-Impfung nachhaltig wirksam.“ Dies schütze die geimpfte Person vor schwerer Erkrankung und ihre Umgebung vor einer Übertragung. „Das Boostern und das Schließen der Impflücken ist deswegen extrem hilfreich“, schreiben die Forschenden.

Es gebe in Deutschland genug Impfstoffe für Erst-, Zweit-, und Drittimpfungen. Neu auf den Markt kommende Protein-Impfstoffe könnten zudem von Personen akzeptiert werden, die den bisher verfügbaren Vakzinen kritisch gegenüberstünden. Dass diese Präparate bei der Impfbereitschaft einen Unterschied machen werden, dazu gebe es allerdings bislang keine Daten, so die nicht an dem Papier beteiligte Erfurter Kommunikationswissenschaftlerin Cornelia Betsch.

Mehr als drei Millionen Menschen über 60 Jahre und über elf Millionen zwischen 18 und 59 sind derzeit ungeimpft. Sie, aber zunehmend auch Menschen mit nachlassendem Immunschutz, tragen zur Pandemie bei. Und anders als etwa in Großbritannien sei nur ein kleiner Teil der Ungeimpften, so der Erlanger Immunologe Klaus Überla, durch eine durchgemachte Erkrankung immunisiert.

Notlösung für Impf-Verzug

Das Boostern Geimpfter, insgesamt mindestens der Hälfte der Bevölkerung, könne einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die aktuelle Welle „aller Voraussicht nach zu brechen“, schreiben die Forschenden und verweisen auf Israel, wo dies gelungen sei. Die Wirkung einer Impf- und Booster-Offensive würde sich sukzessive in der Inzidenz und auch auf den Intensivstation zeigen. Der Immunschutz der Bevölkerung wäre damit hoch genug, um mit Basismaßnahmen über den Winter zu kommen. Drittimpfungen scheinen besonders effektiv zu sein. Eine Studie in Israel zeigte, dass solche die Anzahl der Krankenhauseinweisungen um 92 Prozent reduzieren.

Bei drei Gruppen sehen die Forschenden besonderen Impf- und Booster-Bedarf: Personen mit Immunschwächen, Menschen mit Risikofaktoren wie hohem Alter und Vorerkrankungen sowie Beschäftigte im Gesundheitswesen und in Pflegeberufen. Für letztere müsse eine Impfpflicht zumindest diskutiert werden, so die Mitautorin Eva Grill, Medizininformatikerin an der LMU München.

Entscheidend sei, so Priesemann, wieder ein hohes Impftempo zu erreichen. Im Frühsommer sei pro Tag ein Prozent der Bevölkerung geimpft worden: „Das ist so gelungen und also im Rahmen des Möglichen“. Diese Rate müsse das Ziel auch bei den Auffrischimpfungen sein. Bis ein ausreichender, sich auf Übertragungen und die Anzahl schwerer Erkrankungen auswirkender Teil der Bevölkerung geboostert und geimpft wäre, würden aber auch so noch Monate ins Land gehen.

Bis dahin bedürfe es in der aktuellen Situation „deutlicher und wirksamer“ Maßnahmen zur Überbrückung, um die Intensivstationen nicht stark zu überlasten. Hier müssten bekannte Infektionsschutz-Regeln (Abstandhalten, Hygienemaßnahmen, Alltagsmasken, Lüften, Corona-Warn-App) weiterhin eine große Rolle spielen. Dazu müssten konsequent durchgesetzte Regeln und Testkonzepte im Arbeits- und Freizeitbereich kommen. Vor allem Einheitlichkeit trage hier zu Verständnis und Akzeptanz bei, so Betsch. Wenn die Kompetenzen voll zu den Ländern übergehen, dürfte dies aber noch unrealistischer sein als bisher.

Falls es über Impfungen und zunehmende Vorsicht in der Bevölkerung nicht gelingt, eine Überlastung der Intensivstationen abzuwenden, könnte laut Priesemann das Umlegen eines „Notschutzschalters“ ein Ausweg sein: ein großteils auf Freiwilligkeit beruhender, mittelfristig geplanter, am besten in Schulferien liegender De-facto-Lockdown mit einem massiven Herunterfahren der Kontakte für zwei Wochen.

Täuschender Eindruck

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen in dem Papier zudem mit „einer Reihe von Missverständnissen und Mythen“ aufzuräumen. Sie nennen hier unter anderem den Eindruck, dass die Pandemie „weit weg“ sei. In Deutschland hatten bislang etwa 5,5 Prozent der Bevölkerung eine bestätigte Sars-Cov-2-Infektion. Mit – auch von Betroffenen selbst – unentdeckten Fällen waren es wahrscheinlich bis zu 15 Prozent. Im eigenen Familien- und Freundeskreis der meisten Menschen in Deutschland gab es aber wahrscheinlich nur wenige, die einen schweren Verlauf hatten oder gestorben sind.

Die Wahrscheinlichkeit an Covid-19 zu sterben, beträgt in Deutschland etwa ein Prozent. Eine Person, die 100 Verwandte, Freunde und Bekannte hat, kennt also wahrscheinlich zwischen fünf und 15 Infizierte – aber meist keine verstorbene Person. Dies allerdings sei auch ein Erfolg der deutlichen Kontaktbeschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen des vergangenen Winters.

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